ÖPNV-Nulltarif in Würselen? Nein, bundesweit!

Recht hat sie, die GroKo! 71 Prozent wollen den ÖPNV-Null-Tarif wie im Januar 2018 eine von Prof. Peter Grottian in Auftrag gegebene repräsentative Meinungsumfrage ergab. Das ist wesentlich mehr, als die GroKo an Zustimmung erhält, nämlich schlaffe 49 Prozent.
Warum aber kein kühner Schritt? Warum diese absurde Auswahl? Nulltarif in Mannheim, Reutlingen, Herrenberg, Essen und Bonn! Warum dann nicht in Würselen?

Vor allem muss die Visitenkarte Berlin dabei sein! Während in Mannheim nur jeder dritte und in Reutlingen gar nur jeder vierte Haushalt kein Auto hat, gilt für Berlin das Alleinstellungsmerkmal: Jeder zweite Haushalt hat kein Auto!

Zu teuer? Lächerlich! Hierzulande beträgt das Pro-Kopf-Bruttoinlandseinkommen 38.000 Euro; in Estland sind es 15.800 Euro. Doch Talinn hat Nulltarif! Was das arme Estland schafft, das muss das reiche Deutschland gewuppt kriegen.

Nun gibt es drei Gefahren bei dem Projekt: Bloß nicht Hauruck! Bloß keine Milliardenforderungen! Bloß nicht einseitig!

Die Gefahr ist groß, dass ein Hauruck-Nulltarif beschlossen, verkündet und treffsicher in den Sand gesetzt wird. Eine solche – für heute: lehrreiche! – Groteske gab es in Westdeutschland 1985 beim „Großversuch Tempolimit“! Damals wurde heftig über das „Waldsterben“, was auch durch Autoschadstoffe ausgelöst wurde, diskutiert. Als Reaktion führte die Kohl-Regierung ab Februar 1985 auf ausgewählten Autobahnstrecken einen „Großversuch Tempolimit“ durch, um dann im November 1986 zu behaupten, das Experiment habe gezeigt, ein Tempolimit brächte keine relevante Schadstoff-Minderung. Doch der „Großversuch“ war von vornherein auf Scheitern angelegt: Auf den ausgewählten Versuchsstrecken gab es keine Radarüberwachung, das Einhalten der Tempolimits war „rein freiwillig“; weniger als 30 Prozent der Autofahrer hielten sich daran. Doch seither – immerhin seit 33 Jahren! – ist ein Tempolimit auf den BRD-Autobahnen vom Tisch. Obgleich auch hier eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung eine Geschwindigkeitsbegrenzung wünscht, herrscht die nach oben offene Raserskala.

Jetzt gibt es das Argument, ein ÖPNV-Nulltarif koste Dutzende Milliarden Euro. Auch damit kann man die Forderung totrechnen. Wer ÖPNV-Nulltarif fordert, sollte betonen: Geld ist genug da – im Verkehrsbereich! Allein die Subventionen in den Bereichen Diesel-Pkw, der steuerlichen Begünstigung von Geschäfts- und Elektro-Pkw belaufen sich pro Jahr auf rund 17 Milliarden Euro. Für zerstörerische Großprojekte wie Stuttgart 21 (weitere 7 Mrd. Euro), „Mottgers-Spange“ (Hochgeschwindigkeitsbahn durch den Spessart; 1 Mrd. Euro), Fehmarnbelt-Anbindung (2 Mrd. Euro) und einen neuen Münchner S-Bahn-Tunnel (6 Mrd. Euro) will die GroKo in den kommenden vier Jahren rund 15 Milliarden Euro ausgeben. Alle diese Projekte haben gemeinsam: Sie binden gigantische Milliarden-Summen im Verkehrssektor und konterkarieren die Zielen einer nachhaltigen Verkehrspolitik. Zu fordern ist, dass diese Gelder eingesetzt werden zur finanziellen Unterfütterung des ÖPNV-Nulltarifs.

Schließlich gibt es das Argument, ein ÖPNV-Nulltarif würde die bestehenden ÖPNV-Systeme überfordern. Dafür gäbe es keine Kapazitäten. Richtig ist, dass ein ÖPNV-Nulltarif zu Fahrgastzuwächsen von 30 bis 40 Prozent führt. Dafür muss Vorsorge getroffen werden. Die Takte bei S-, U- und Trambahnen und erst recht bei Bussen können teilweise kurzfristig erhöht werden – u.a. indem neues Personal eingestellt wird. In einem Zeithorizont von drei Jahren können auch neues Wagenmaterial beschafft und damit Arbeitsplätze im ostdeutschen Waggonbau geschaffen werden.
Vor allem jedoch muss ein ÖPNV-Nulltarif eingebettet sein in eine Gesamtkonzeption: So müssen u.a. die Möglichkeiten für ein Fahrradverkehrswachstum optimal genutzt werden – was kurzfristig machbar ist und den Ansturm auf ÖPNV mildert.

Und natürlich sollte das mittelfristige Ziel ein bundesweiter ÖPNV-Nulltarif sein. Damit ließen sich die klimapolitischen Versprechen einhalten. Die Lebensqualität in den Städten würde deutlich erhöht. In der Gesamtbilanz gäbe es enorme Einsparungen in den Bereichen Überwachung, Sicherheit und Kontrollen, eine Reduktion bei den gigantischen externen Kosten des Autoverkehrs und einen deutlichen Rückgang bei den Straßenverkehrstoten und Verletzten.

Erschienen in der Tageszeitung „Neues Deutschland (ND)“ am 19 März 2018