Rede von Georg Fülberth am 15.7.23 in Stuttgart zur Erinnerung an Winfried Wolf

Liebe Anwesende,

jetzt, zum Schluss, bleibt vielleicht noch eine Frage:

Wie hat Winnie Wolf es geschafft, nach der Zerschlagung der Hoffnungen von 1968 und nach dem Ende des Staatssozialismus 1989/1991, zugleich ein radikaler Reformer zu werden und doch unverändert ein revolutionärer Sozialist zu bleiben?

Er gehörte zunächst zu den Achtundsechzigern. Das waren Menschen, die zwischen 1940 und 1950 geboren wurden und die 1968 zu dem Schluss kamen, jetzt sei alles möglich. In Vietnam verloren die USA gerade einen Krieg, in Mitteleuropa behauptete sich der Staatssozialismus gegen das Rollback, in Kuba gegen die USA, in Afrika siegten nationale Befreiungsbewegungen, in der Bundesrepublik wankten Hierarchien. Es gab weltweite Protestbewegungen.

Ein Vierteljahrhundert später war nicht mehr viel davon übrig. Der Kapitalismus hatte sich als überlegen erwiesen. Die Revolutionärinnen und Revolutionäre von 1968 waren keine zwanzig Jahre mehr alt, sondern über vierzig. Die überlebten – das waren nicht alle –, hatten noch Jahrzehnte vor sich, aber politisch ihre Zukunft hinter sich. Ihr erster Atem war verbraucht, wo nahmen sie einen zweiten her?

Viele haben ihn gefunden, indem sie Reformpolitikerinnen und Reformpolitiker wurden: in Gewerkschaften, in Umweltbewegungen, in den Grabenkämpfen des Patriarchats. Da waren nicht mehr revolutionäre Generalisten gefragt, sondern Spezialistinnen und Spezialisten. Winfried Wolf wurde Verkehrsexperte und Abgeordneter im Deutschen Bundestag – der zweite Atem. 1986 war sein Buch “Eisenbahn und Autowahn” erschienen – die theoretische Grundlage für seine sehr praktischen Gutachten für eine Verkehrswende im großen Berlin und im kleinen Marburg und gegen Stuttgart 21.

Als er starb, stand in Nachrufen, dass er ein Verkehrsexperte war. Als wäre er sonst fast nichts anderes gewesen. Diese Einschränkung ist zutiefst ungerecht. Wie wir wissen, hat Winfried Wolf eine ungeheure Breite von Themen behandelt, die weit auseinander lagen. Man muss sich fragen: Gab es denn etwas, das diese Vielfalt zusammenhielt – vom Verkehr über ein alternatives Parteiprogramm für die PDS, über die griechischen Staatsfinanzen, Corona-Politik, karibische Zustände bis zur Zeitung gegen den Krieg und Lunapark 21, der Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie? Wieso war das kein Potpourri? Gab es einen archimedischen Punkt, an dem Winfried Wolf den Hebel ansetzte?

Es gab ihn. Die Antwort ist versteckt in der Email-Adresse von Winfried Wolf: redmole@gmx.net. Red mole, der rote Maulwurf. Es ist ein Zitat von Karl Marx aus dessen Schrift “Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte”. Das stammte seinerseits aus Shakespeares “Hamlet”. Bei Marx heißt es: “Brav gewühlt, alter Maulwurf.” Gemeint ist, bei Marx, nicht bei Shakespeare, nichts anderes als die Revolution. Diese stecke im Kapitalismus selbst drin, verschwinde zeitweilig und breche plötzlich wieder auf. Wenn sie ihre Vorarbeit geleistet habe, werde Europa, so heißt es da recht pathetisch, aufspringen und rufen: “Brav gewühlt, alter Maulwurf!” Ihrem schönen Nachruf auf Winfried Wolf hat Angela Klein die zutreffende Überschrift gegeben: Ein Leben für die Revolution.” Da war der Nagel, an dem alles hing, da war der Kopf, sie hat ihn getroffen.

Winnie war nicht so überheblich, sich selbst für den roten Maulwurf zu halten. Der war für ihn ein überpersönlicher Prozess, die Revolution auf ihrem unterirdischen Weg. Die Leistung von Winfried Wolf bestand darin, dass er den Maulwurf aufspürte und ihm half, indem er Menschen sammelte, die diesem dann gemeinsam nachwühlten.

Winfried Wolf hat bereits 1988 gemerkt, dass etwas bevorstand, das dem alten grauenhaften Streit zwischen seiner politischen Richtung, der trotzkistischen, und meiner, der DKP, den Gegenstand entzog. Damals kam er auf mich zu. Er hatte in Vielem rechtbehalten:

  • in seiner Kritik der Bürokratie,
  • -in seiner Hinwendung zu den Massen – auch wenn die Massen irrten und er mit ihnen, sodass er sich dann und wann korrigieren musste,
  • in seinem grenzenlosen Internationalismus, der sich nicht auf Parteinahme im Kalten Krieg einengen ließ.

Er hat nicht aufgetrumpft, als sich der Untergang des Staatssozialismus abzeichnete. Er tat den ersten Schritt. Seitdem kannten wir uns persönlich. Gelesen hatte ich ihn schon früher. Daran kam man eh nicht vorbei.

Bei Winfried Wolf wirkte die Suche nach der Revolution nie verstiegen oder grotesk. Er war ein Schüler von Ernest Mandel. Dieser gewann ihn für die trotzkistische Vierte Internationale. Selbst als Winfried Wolf sich, sehr spät, organisatorisch von ihr abgelöst hatte, behielt er ein persönliches Programm bei, das nichts anderes war als der unverfälschte Marxismus des 19. Und 20.Jahrhunderts. Der erwies sich bei ihm als realitätstüchtig auch im einundzwanzigsten. Das war aber nur möglich, indem es nicht eine allgemeine Parole war, karikiert in dem antikommunistischen Hohn: “Keine Butter, keine Sahne, auf dem Mond die rote Fahne”, sondern indem es im Detail konkretisiert wurde auf den verschiedenen Schauplätzen, zwischen denen der rote Maulwurf immer neu anfing zu wühlen. So gewann Winfried Wolf seinen dritten Atem. Es war zugleich der erste.

Noch einmal: Wie hat Winnie Wolf es geschafft, nach der Zerschlagung der Hoffnungen von 1968 und nach dem Ende des Staatssozialismus 1989/1991, den er ohnehin ablehnte, zugleich ein radikaler Reformer zu werden und dennoch unverändert ein revolutionärer Sozialist zu bleiben? Die Antwort heißt: Nur indem Winfried Wolf ein radikaler Sozialist blieb, konnte er ein radikaler Experte werden. Reformen waren für ihn nur unkaputtbar, wenn die Kompassnadel auf den sozialistischen Fixstern zeigte, so weit weg dieser auch sein mochte.

Winfried Wolf auf der Suche in den unterirdischen Gängen einer möglichen latenten Revolution. Well grubbed, old mole, brav gewühlt, alter Maulwurf. Aber auch: Gut aufgepasst, Winnie.