Griechenland und das Virus

Winfried Wolf1

Sotiris Tsiodras […] präsentierte wissenschaftliche und epidemiologische Daten, die die Fortschritte Griechenlands bei der Bekämpfung der Epidemie dokumentieren. Er betonte, dass Griechenland bereits im Januar 2020, ein Monat vor dem ersten Corona-Toten im Land, aktualisierte Pandemie-Pläne vorbereitet hatte. Herr Tsiodras wandte sich schließlich an die Bürgerinnen und Bürger der EU mit dem Appell „Solidarität ist jetzt die Botschaft Nr. 1. Ich möchte Furcht und Panik eine Absage erteilen. Ja zu Solidarität. Nein zu jeglichem Stigma. Wir stehen hier zusammen und wir werden siegen.“

Ministerium für Äußeres, Athen, 1. Juni 20202

Griechenlands bisheriger Erfolg im Kampf gegen Sars-CoV-2 hat einen Namen: Sotiris Tsiodras. Der auf Infektionskrankheiten spezialisierte Pathologe ist als Chef des Corona-Krisenstabs […] ein Medienstar in Griechenland[…] Seine zurückhaltende Art hat ihm nordkoreanisch anmutende Popularitätswerte eingetragen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Mai 2020

Wendet man sich dem Thema Corona-Epidemie und Griechenland zu, dann springen einem drei Dinge ins Auge: Erstens dass eine konservative neoliberale Partei offensichtlich auch mal den Neoliberalismus vergessen kann. Zweitens dass Griechenland auch mal Spitze in Europa sein kann. Und drittens, dass Notstand offensichtlich nicht gleich Notstand sein muss.

Der vergessene Neoliberalismus

Die Reaktion der Regierung Mitsotakis auf die Verbreitung des Corona-Virus war pro-aktiv und durch staatliche, wenn nicht gar dirigistische Eingriffe in das wirtschaftliche Geschehen und gesellschaftliche Leben geprägt. Griechenland war eines der ersten europäischen Länder, das umfassende Maßnahmen gegen die Pandemie ergriff. Die sogenannten nicht notwendigen Unternehmen (Klein- und Großhandel, Gaststätten etc.) wurden schon vier Tage nach der Bekanntgabe des ersten Covid-19-Toten in Europa geschlossen – in Italien ist dies erst 18 Tagen später erfolgt, in Spanien gar nach 30 Tagen. Es gab von Mitte März bis Mitte Juni einen gut zweimonatigen, sehr weitreichenden Lockdown; selbst das höchste religiöse Fest, Ostern, durfte nicht in den Kirchen gefeiert werden. Sehr früh wurden relativ weitreichende Schutzmaßnahmen der „sozialen Distanz“ beschlossen. Diese harten Maßnahmen waren erfolgreich und exemplarisch in Europa (siehe unten). Dadurch konnte das Nationale Gesundheitssystem ΕSY, das zunächst nur über 605 Betten auf Intensivstationen verfügte3, was pro Kopf deutlich weniger als in Italien oder Spanien war, den Ansturm der Erkrankten zunächst relativ gut standhalten. Wobei dies auf Kosten von tausend anderen Patienten, welche die unmittelbare Unterbringung in die Intensivstationen ebenso bitter notwendig hatten, erfolgte. Die Regierung kaufte rund 300 zusätzliche Intensivbetten-Einheiten; darüber hinaus wurden 350 Intensivstationsbetten in den privaten Kliniken der Aufsicht des Gesundheitsministeriums unterstellt – allerdings wurden dafür 1600 Euro pro Tag bezahlt – das Doppelte dessen, was die öffentlichen Spitäler als vertretbaren (gewinnbringenden) Preis errechneten.

Die staatlich-dirigistischen Maßnahmen waren keineswegs auf den unmittelbaren Gesundheitssektor beschränkt. Von COVID-19 betroffene Betriebe wurden – zeitlich befristet – von ihren Kreditverpflichtungen befreit. Mehrwertsteuersätze wurde – ebenfalls befristet – deutlich gesenkt. Am 3. Juli 2020 verkündigte Mitsotakis erhebliche Steuererleichterungen für die Tourismus-Branche. Zumindest auf dem Papier gilt: Jegliche Unternehmenshilfen sind an die Voraussetzung gekoppelt, keine Arbeitnehmer zu entlassen; Entlassungen sind seit dem 18. März 2020 de facto verboten. Es wurden neue Staatskredite aufgenommen – vermittelt über die Schuldenagentur PDMA. Griechenland setzte sich in der EU – zusammen mit den Schwergewichten Frankreich, Italien und Spanien – für Corona-Bonds, also dafür ein, dass die EU nicht rückzuzahlende Direkthilfen gewährt. Als Folge des EU-Gipfels vom 17. bis 21. Juli 2020 erhält Griechenland einen großen zweistelligen Milliarden-Betrag, um die Folgen der Pandemie zu bekämpfen.4 Es gibt eine Liste von 103 Infrastrukturprojekten im Gesamtwert von 26 Milliarden Euro, die – so die konservative Regierung – „zum Motor der Erholung der Wirtschaft“ werden sollen. Schließlich wurde ein bunter Strauß von Einzelhilfen für Beschäftigte, Arbeitslose, Prekäre und Freiberufler beschlossen.5

Damit soll in keiner Weise gesagt werden, dass diese Hilfen ausreichend sind. So moniert die linke Opposition, dass nur ein Teil der Hilfen auch wirklich in die Wirtschaft geflossen ist. Dass darüber hinaus vor allem die kapitalstarken Unternehmen unterstützt wurden, wohingegen die kleineren Unternehmen, welche die große Masse im griechischen Wirtschaftsleben ausmachen, zum großen Teil leer ausgegangen sind. Syriza kritisiert auch, dass das unter der Regierung Tsipras zur Seite gelegte „Sicherheitspolster“ in Höhe von 37 Milliarden Euro nicht umgehend zum Einsatz kam, wodurch die Wirtschaft unnötig gelähmt worden sei. Die erwähnten Infrastrukturvorhaben (darunter das Flagshipprojekt Hellenikum) sollen überwiegend als Public Private Partnership-Projekte, also unter Hinzuziehung von privaten Finanzinstituten und verbunden mit neuen Staatsschulden, realisiert werden. Wobei eine größere Zahl dieser Projekte gesellschaftlich wenig sinnvoll ist und vor allem die Bauindustrie und die Banken stützen wird. Erschwerend kommt hinzu, dass der Plan für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Corona-Krise von vier „Wirtschaftsweisen“ unter dem Nobelpreisträger Xristophoros Pissaridis erstellt wurde, die durch und durch neoliberal sind. Ihre Vorschläge sind, so Syriza, „eine Fortsetzung der Memorandenpolitik ohne Memoranden“ – sie schreiben die Ziele und die Maßnahmen der Troika auf Kosten der Bevölkerung fort. Schließlich werden generell die sozial Schwachen viel zu wenig mit Hilfen bedacht. Die Angestellten in der Tourismusbranche beispielsweise, die das Recht auf Neuanstellung haben, die im Zeitraum vom 1. Juni bis zum 30. September 2020 aber wegen mangelnder Geschäfte in einen Wartezustande versetzt wurden, erhalten einen Zuschuss von monatlich 534 Euro, der weit unter ihrem normalen Verdienst liegt.

Alle diese Einschränkungen sind zutreffend und alle Kritikpunkte, die das soziale Ungleichgewicht bei den Maßnahmen thematisieren, sind gerechtfertigt. Dennoch ist festzuhalten: Die neoliberale Mitsotakis-Regierung hat als Reaktion auf die Epidemie und in Beantwortung der neuen Wirtschaftskrise ein Programm aufgestellt, das in offenem Widerspruch zu den Grundsätzen des Neoliberalismus steht. Ganz offensichtlich stiegen die Popularität von Mitsotakis und der Abstand zwischen Nea Denokratia und Syriza in dem Maß, wie die Konservativen diese Art Regelverletzungen begingen.

Griechenland ist Spitze in der EU

Die Folge war eine relativ geringe Anzahl von Ansteckungen mit dem Virus und eine eher niedrige Zahl von Menschen, die in Griechenland mit einer Corona-Infektion starben. Bis Mitte August 2020 wurden rund 6600 Corona-Infektionen registriert. Es gab 225 Corona-Tote. Damit kommen in Griechenland auf 100.000 Einwohner 1,9 Tote. Das ist innerhalb der EU und auch im Vergleich mit anderen wichtigen Balkan-Ländern ein Spitzenwert. Wir haben in der Tabelle die entsprechenden Daten der Corona-Toten für die EU-Mitgliedsstaaten Griechenland, Kroatien, Slowenien, Bulgarien, Österreich, Deutschland, Rumänien, Schweden, Italien und Belgien und für die Balkan-Länder Albanien, Serbien und Nord-Makedonien und darüber hinaus für Norwegen und die Türkei zusammengestellt. Auffallend ist, dass Griechenland im Zeitraum Ende März bis Ende Juli, als die Restriktionsmaßnahmen deutlich wirkten, die Steigerung der Corona-Toten relativ gering halten konnte (es gab eine Erhöhung um das 4,5fache; von 46 Corona-Toten Ende März auf mehr als 200 Ende Juli). Diese Steigerung lag in allen anderen Ländern, selbst in Österreich, deutlich höher. EU-Länder wie Belgien und Italien, die erheblich später mit den Restriktionsmaßnahmen starteten – vor allem auch gemessen daran, dass es dort bereits im Februar 2020 zur ersten Häufung von Infektionen und Corona-Toten kam – bezahlten bitter für diese Verspätung; dort liegt die Zahl der Corona-Toten je 100.000 Einwohner beim Dreißigfachen (Italien) bzw. beim 45fachen (Belgien) des Griechenland-Werts. Ein Land wie Serbien, dessen Regierung einen Zickzack-Kurs mit mal restriktiven Maßnahmen und mal verfrühten Lockerungen durchgeführt hat, verlor einen Vorsprung, den das Land Ende März noch hatte und hatte Ende Juli gut vier Mal mehr Corona-Tote je 100.000 Einwohner als Griechenland.

Schweden wiederum, das eine dezidiert andere Epidemie-Politik wie alle anderen Länder in Europa verfolgt6, nimmt in der Tabelle den drittschlechtesten Rang ein. Es dürfte in Europa vor allem im Zusammenhang mit der „zweiten Welle“ der Epidemie noch des längeren eine Debatte über den „schwedischen Weg“ geben. In Deutschland beispielsweise gab es im Sommer 2020 große Demonstrationen von „Corona-Leugnern“ – von Zehntausenden Menschen, die die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Epidemie ergriffen wurden, kritisieren und die die „Wiedererstellung aller demokratischen Rechte“ fordern.7 Wir haben deshalb in der Tabelle für alle aufgeführten Länder ausgerechnet, wie groß dort die jeweilige Zahl der Corona-Toten wäre … wenn im jeweiligen Land „schwedische Verhältnisse“ herrschen würden.

Tabelle: Corona-Tote in Griechenland und in ausgewählten anderen europäischen Ländern (kursiv = EU; Normalschrift = EU-Mitgliedsländer) im Zeitraum 30. März bis 31. Juli 2020

Länder 30. März 23. Mai 31. Juli Grunddaten Schweden-Standard“ am 31. Juli
Einwohner in Mio Corona-Tote je 100.000 Multiplikator* absolut** x-fach***
Griechenland 46 171 206 10,7 1,9 1,04 5973 29fach
Slowenien 11 106 119 4,2 2,8 0,41 2355 18,8fach
Kroatien 9 99 145 4,2 3,5 0,41 2355 16,2fach
Bulgarien 8 171 206 10,7 5,4 0,68 3928 10,3fach
Norwegen 32 235 255 5,4 4,7 0,52 2986 11,7fach
Albanien 11 31 157 2,8 5,6 0,27 1551 9,9fach
Türkei 168 4308 5691 83,2 6,8 8,08 4640 8,2fach
Serbien 16 238 573 7,1 8,1 0,68 3905 6,8fach
Österreich 147 636 718 8,9 8,6 0,86 4939 6,5fach
Deutschland 583 8261 9147 83,3 11,0 8,09 46.461 5,1fach
Rumänien 65 1176 2343 20,1 11,7 1,95 11.199 11,7fach
Nord- Mazedonien 7 113 486 2,1 23,2 O,2 1148 4,8fach
Schweden 146 3992 5743 10,3 55,8 1 5743 1fach
Italien 11.626 32.826 35.295 60,3 58,5 5,9 33.883 0,96fach
Belgien 513 9237 9840 11,4 83,9 1,11 6375 0,65fach

* Multiplikator (entsprechend der Einwohnerzahl), um mit Schweden vergleichbar zu sein

** Zahl der Corona-Toten am 31.7., wenn es in diesem Land „schwedische Verhältnisse“ geben würde

*** Steigerung der tatsächlichen Corona-Toten um das x-fache, wenn „schwedische Verhältnisse“ herrschen würden

Natürlich ist Mitte August 2020 nicht absehbar, ob in Griechenland die positive Bilanz in Sachen Corona-Epidemie erhalten werden kann. Die Öffnungen, zu denen es kam, um die Tourismus-Saison wenigstens zu einem Teil zu retten, führten offensichtlich bereits im August zu deutlich gestiegenen Zahlen bei den Infektionen und den Corona-Toten. Die Regierung in Athen verkündete daher am 15. August neue Restriktionen und damit faktisch einen ersten großen Schritt Zurück in Richtung Lockdown (was unter anderem den Tourismus ein weiteres Mal hart treffen dürfte).

Der antagonistische Widerspruch, der auf der gesamten kapitalistischen Welt die Auseinandersetzung mit der Epidemie bestimmt – gilt „Gesundheit hat Vorrang“ oder gilt „die Ökonomie (und der Profit) haben Vorrang“? – spielt auch in Griechenland bei dieser wohl voreilig erfolgten Öffnung eine erhebliche Rolle. Hinzu kommt: Eine „zweite Welle“ der Epidemie kündigt sich seit August 2020 europaweit an. Die landesübergreifenden Reisen von mehr als 100 Millionen europäischen Touristen spielen dabei eine große Rolle. Nicht vergessen werden dürfen die dramatischen Verhältnisse auf den griechischen Inseln mit Flüchtlingslagern, die mit der Epidemie eine neue Dimension erhalten (siehe dazu im Buch Kapitel 10).

Warum ist Notstand nicht gleich Notstand?

Mitsotakis und seine konservativen Freunde und Freundinnen von Nea Dimokratia behaupten, die Epidemie stelle „einen Notfall“ dar. Ja, es herrsche gewissermaßen seit März 2020 auf gesundheitspolitischer und sozialer Ebene ein „Ausnahmezustand“. Dies rechtfertige das eklatante Abweichen von den programmatischen Grundsätzen im Allgemeinen und vom Neoliberalismus im Besonderen.

Das ist eine richtige – und zugleich eine durchaus interessante – Feststellung. Interessant, weil die Argumentation gerade mit Blick auf die jüngere Geschichte Griechenlands nicht schlüssig ist. Schließlich erlebten die griechische Bevölkerung und die griechische Wirtschaft über rund ein Jahrzehnt hinweg einen Notstand. Und in diesem wirtschaftspolitisch und sozial definierten Ausnahmezustand wurde dann von Seiten der Konservativen in Griechenland und von Seiten der EU darauf gedrungen, dass es keine dirigistischen Eingriffe in den Markt geben dürfe und dass die neoliberale Politik 1:1 fortzusetzen sein würde. Es war ja auch die vorausgegangene konservative Regierung unter Kostas Karamanlis, die mit ihrer neoliberalen Politik bis Ende 2009 die Grundlagen dafür schuf, dass Griechenland sich spätestens ab 2010 – und dann unter dem Diktat der EU – immer mehr in Richtung Abgrund bewegte. Als Syriza Anfang 2015 forderte, die Politik von Austerität und Memoranden zu beenden und als die griechische Bevölkerung am 5. Juli 2015 mit mehr als 60 Prozent „Ochi“ zur Politik der Memoranden sagte, als demnach der Notstand offen zu Tage getreten und auf demokratische Weise Notstandsmaßnahmen gefordert worden waren – wie sah damals die Position von Nea Demokratia aus? Diese Partei forderte ein Beibehalten der neoliberalen Politik. Sie unterstützte de facto die Maßnahmen der Troika, die das Land immer tiefer in den Notstand trieben. Alle Vorschläge für Notstandsmaßnahmen – natürlich auch solche mit dirigistischen Eingriffen in die Wirtschaft und mit einer Kontrolle über die Finanzenwelt, einschließlich einer möglichen Kontrolle über die Währung – wurden zurückgewiesen. Von der EU, von der Troika. Und auch von Nea Demokratia.

Es ist gut, dass Mitsotakis und die gegenwärtige Regierung in Athen auf den aktuellen Notstand mit den beschriebenen Notstandsmaßnahmen reagieren. Es ist jedoch nicht erkennbar, was der qualitative Unterschied zwischen der Wirtschafts- und Sozialkrise, die Griechenland vor allem 2015 bis 2018 erlebte, und der Wirtschaftskrise und Corona-Krise, die Griechenland seit Frühjahr 2020 durchlebt, sein soll.

Zumal es ab Herbst 2020 eine enge Verbindung zwischen der gesundheitspolitischen Krise und der Wirtschaftskrise gibt. Bereits im ersten Halbjahr 2020 wuchs das Haushaltsdefizit auf 9,232 Milliarden Euro an – mehr als drei Mal so viel wie vorgesehen.8

Entsprechend schlecht sind die wirtschaftlichen Indikatoren, zumal die Krise keineswegs allein auf die Epidemie zurückzuführen ist: Die Rezession setzte in Griechenland (wie im Übrigen in der gesamten EU und auch weltweit) bereits im letzten Quartal 2019 ein.9 Zu erwarten ist eine weltweite klassische Wirtschaftskrise, die durch die Epidemie einen Katalysator erfuhr und die die historische Dimension der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 haben dürfte.10 Die griechische Wirtschaftskammer OEE prognostiziert, dass im Jahr 2020 1,7 Millionen Beschäftigte direkt oder mittelbar von der Corona-Rezession betroffen werden, durch Entlassung oder Kurzarbeit. Das wäre fast die Hälfte aller Erwerbstätigen. Die Kammer rechnet bis zum Jahresende mit dem Verlust von 390.000 Arbeitsplätzen. Die Brüsseler Kommission geht für Griechenland 2020 von einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 9,7 Prozent und einen Anstieg der Arbeitslosenquote auf 19,9 Prozent aus. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für Griechenland sogar eine Erwerbslosenquote von 22,3 Prozent. Damit nähert sich Griechenland erneut den Rekord-Arbeitslosenzahlen aus den Jahren 2014-2016. Eine wichtige Rolle bei diesem sich abzeichnenden Wirtschaftsdesaster spielt der Tourismus, der zu den Stützen der griechischen Wirtschaft zählt.11 Die Frühlingssaison ist gänzlich verlorengegangen. Die Sommersaison begann bescheiden und droht, wie oben skizziert – vorzeitig abgebrochen zu werden. Bis Ende 2020 des Jahres rechnet man in dieser wichtigen Branche mit einem Umsatzrückgang von rund 80 Prozent.

Verbindet man die Angaben zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und des neuen Defizits, dann dürfte die staatliche Schuldenquote bis Anfang 2021 auf 205 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hochschnellen. Das Haushaltsdefizit dürfte auf 6,7 Prozent steigen. Das wäre für die Regierung Mitsotakis dann 2021 ein willkommener Anlass, zur Prinzipienfestigkeit in Sachen Neoliberalismus, also zur alten Austeritätspolitik zurückzukehren. Wenn es nicht erneut zu einem massenhaften, demokratischen Widerstand kommt, dann werden die Corona-Epidemie und die Wirtschaftskrise zu einem neuen, dramatischen Angriff auf den Lebensstandard und die Lebensumstände der verarmten und einfachen Bevölkerung führen. Griechenland wird zum Armenhaus der EU.

Anmerkungen

1 Der folgende Text wurde für die griechische Ausgabe des Buchs von Nikos Chilas / Winfried Wolf, Die griechische Tragödie. Rebellion. Kapitulation. Ausverkauf (3. Auflage, Wien, Promedia, Sommer 2019) verfasst. Dieses griechische Buch soll im Oktober 2020 auf der Buchmesse in Thessaloniki vorgestellt werden – wenn die Epidemie hier nicht erneut einen Strich durch unsere Rechnungen macht.

2 Hellenic Republic – Ministry of Foreign Affairs, The Greek Chairmanship oft he Cpouncel of Europe launches web discussuin series with professor Sotiris Tsiodras, Athen, 01 June 2020. https://www.mfa.gr/en/current-affairs/news-announcements/the-greek-chairmanship-of-the-council-of-europe-launches-web-discussion-series-with-professor-sotiris-tsiodras-athens-june-2020.html

3 Von denen dann noch – wegen Personalmangels – nur 557 einsatzfähig waren. Laut POEDIN (Griechischer Föderativer Verband der Arbeitenden in den Öffentlichen Spitälern) müssten mindestens 3 500 Betten auf Intensivstationen in den öffentlichen Spitälern installiert sein.

4 Der genaue Allokationsplan dieser EU-Hilfen soll Mitte Oktober 2020 bekanntgegeben werden. In absoluten Zahlen – mit Stand August 2020 – dürfte Griechenland 22,5 Milliarden Euro an (nicht zurückzuzahlende) Zuschüsse erhalten und Anspruch auf niedrig zu verzinsende Darlehen im Umfang von 9,4 Milliarden Euro erhalten.

5 Dazu zählen u.a. Kurzarbeitergeld, Einmalzahlungen für Arbeitnehmer im Fall der Einstellung der Unternehmenstätigkeit, Verlängerung des Arbeitslosengeldes und einmalige Sonderzuschüsse für Langzeitarbeitslose.

6 Die Niederlande und Großbritannien bilden diesbezüglich eine gewisse Ausnahme. Die jeweiligen Regierungen in Den Haag und in London verfolgten zeitweilig eine mit Schweden vergleichbare Politik – und mussten dafür ebenfalls einen hohen Preis bezahlen.

7 Unter der Losung „Ende der Pandemie – der Tage der Freiheit“ und „Wir sind die zweite Welle“ demonstrierten beispielsweise am 1. August 2020 in Berlin knapp 100.000 Menschen.

8 Das ursprüngliche Ziel war 2,6 Milliarden. Das entsprechende Defizit ein Jahr zuvor betrug 2,7 Mrd. Der Primärüberschuss, der zu derselben Zeit 313 Millionen betragen sollte, wurde im 1. Halbjahr 2020 zu einem gewaltigen Primärdefizit umgewandelt: 6,1 Milliarden Euro. Im ersten Halbjahr 2019 – Syriza war damals noch in der Regierung – betrug er plus 381 Millionen Euro.

9 Die weltweite Industrieproduktion war im vierten Quartal 2019 bereits rückläufig. Die weltweite Autoherstellung lag 2019 bereits um 8 Prozent unter dem Niveau von 2017.

10 Bezeichnend ist, dass die schwedische Wirtschaft 2020 einen ähnlichen Einbruch von mehr als 8 Prozent des BIP erlebt wie andere EU-Mitgliedsstaaten. Dabei gab es in Schweden – aufgrund der beschriebenen Laissez-faire-Politik in Epidemie-Zeiten – keinen Lockdown.

11 2019: 34 Millionen Besucher, 18 Milliarden Euro Einnahmen, 10% des BIP, 700.000 Beschäftigte – die meisten davon in der Hauptsaison.