Volksfeind for Future

— Warum E-Mobilität den Klimawandel sogar noch beschleunigt und wie eine alternative Verkehrsgesellschaft aussehen könnte

Verkehrsexperte Dr. Winfried Wolf im Gespräch mit der Dramaturgin Janine Ortiz

Elektroautos haben ein »grünes Image«. Warum stellen sie ­­dennoch keine Lösung für die Umwelt- und Verkehrsprobleme dar, die wir heute haben?

Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Herstellung. Jedes Elektro­auto emittiert im Zuge seiner Fertigung fünf bis sieben Tonnen mehr CO2 als ein vergleichbarer Pkw mit Verbrennungsmotor – das hängt vor allem mit der energieaufwändigen Produktion der Batterien zusammen. Dieser »ökologische Rucksack« muss erstmal abgefahren werden, bevor die theoretischen Vorteile eines Elektroautos zur Anwendung kommen können. Das wären bei einem kleinen Modell wie dem Renault Zoe etwa 40.000 km, beim Tesla S rund 120.000 km. Hier in den »grünen Bereich« zu kommen, ist fast nicht zu schaffen. Hinzu kommen Rohstoffprobleme. Der Abbau von Lithium verbraucht Unmengen an Wasser, und das in Ländern der Dritten Welt, wo nicht selten Wassermangel herrscht. Der Abbau von Kobalt ist mit Kinderarbeit und Kriegen verbunden. Das scheint mir keine Alternative zu unserer aktuellen Abhängigkeit vom Erdöl zu sein.

Warum sind Elektroautos meist Zweit- oder sogar Drittwagen?

Wir nennen das den Rebound- oder Bumerang-Effekt. Damit ist gemeint, dass ein Elektroauto in der Regel den Benziner oder Diesel nicht ersetzt und man fortan alle Fahrten damit durchführt, sondern dass das Elektroauto aufgrund seiner geringen Reichweite, der langen Ladedauer, der komplizierten Art zu tanken und des höheren Preises wegen dazu verleitet, es als Zweitwagen anzuschaffen. Längere Fahrten werden mit dem normalen Pkw durchgeführt, das Elektroauto vorwiegend dort genutzt, wo genügend Elektrotanksäulen vorhanden sind, also in der Stadt.

Gerade da, wo man ein Auto nicht benutzen sollte.

Genau. Wer früher mit dem öffentlichen Personennahverkehr oder dem Fahrrad gefahren ist, sagt sich jetzt: »Ich fahre ja grün mit dem Elektroauto zum Einkaufen, zum Fitnesscenter usw.« Wenn sich aber tatsächlich alle Stadt­bewohner Elektroautos zulegen würden, stünden wir – wie oft jetzt bereits – im Dauerstau. Egal ob Benziner, Diesel oder Elektro, je mehr Autos, desto lang­samer werden wir. Und was dabei oft vergessen wird: Mit der Anzahl der Autos steigt auch die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten. Das alles ­stellte in den 1910er Jahren, als Ford mit der Massenproduktion von Autos in Los Angeles und Detroit begann, kaum ein Problem dar. Längst stoßen wir aber an Grenzen, was die Flächennutzung und die Umweltverschmutzung angeht.

Woher kommt eigentlich der Strom für die Elektroautos?

Komischerweise denken die Menschen bei Elektroautos immer: »Wir tanken Ökostrom.« Das ist aber nicht der Fall. Unser Strommix besteht zu etwa 40 % aus fossilen Energieträgern, also Kohle und Erdgas. Wenn der Atomausstieg gelingen und das letzte deutsche Kernkraftwerk 2022 abgeschaltet werden soll, muss die regenerative Stromproduktion entsprechend hochgefahren werden. D. h. Windkraft, Photovoltaik und Biogas müssen die aktuell 13 % Atomstrom komplett ersetzen, was schon ausgesprochen sportlich ist. Dann haben wir aber immer noch rund 40 % fossilen Strom in Deutschland. Und daran wird sich auch in den nächsten Jahren wenig ändern. Mehr noch: Mit den Elektroautos steigt die Stromnachfrage. In China beispielsweise gibt es aktuell 39 Atomkraftwerke, 60 bis 70 weitere sollen gebaut werden, u. a. weil das Land stark auf Elektroautos setzt und diese mit massiven Subventionen durchsetzt.

Bei uns sind Elektroautos jedoch ein Minimarkt?

Die Elektromobilität spielt im Antriebsmix der in Deutschland zugelassenen Pkw in der Tat nur eine untergeordnete Rolle. Zwar steigt die Zahl der neuzugelassenen Stromer seit einigen Jahren stetig an, der Anteil an konventionellen Verbrennungsmotoren lag Anfang 2020 jedoch weiterhin bei mehr als 98 % Prozent. Die Realität sieht aber so aus: Volkswagen – um nur ein Beispiel zu nennen –
plant für das Jahr 2030, ein Drittel aller neu hergestellten Pkw als Elektroautos. Der Rechenfehler besteht darin, dass so getan wird, als würden die Elektroautos die normalen Autos ersetzen. Stattdessen soll allein im VW-Konzern bis 2030 die Produktion von momentan 10 Millionen auf 15 Millionen Fahrzeuge jährlich erhöht werden. Ein Drittel von 15 Millionen sind 5 Millionen E-Autos. Es bleiben wiederum 10 Millionen Diesel- und Benzin-Pkw. Das Beispiel verdeutlicht: Es geht vor allem darum, mit den Elektroautos einen neuen Markt zu erschließen. Die Anzahl der Autos insgesamt steigt und damit auch die Belastung für die
Umwelt.

Wenn die Fakten so eindeutig gegen das Elektroauto sprechen, warum präsentieren Politik und Medien uns Elektromobilität dann als eine »grüne Alternative«?

Die menschliche Natur wählt eben gern den einfachen Weg. So war es auch bei den bisherigen Umweltschutzmaßnahmen das Auto betreffend, sei es der Katalysator, Bio-Sprit, Tempolimit, Telematik oder nun eben die Elektro­mobilität. Allesamt Scheinlösungen, die vorspiegeln, es gäbe eine »immanente ­Lösung«, eine Reform der Autogesellschaft. Stattdessen ist ein radikales Umdenken vonnöten. Aber an der Autoindustrie hängen eben allein in Deutschland rund 800.000 Arbeitsplätze, die Auto-Lobby ist stark und vergleichs­weise gering die Zahl jener, die es wagen, an eine Restrukturierung der großen Produk­tionsstätten überhaupt zu denken. Im Grunde müsste man da, wo ­heute Autos hergestellt werden, in Zukunft andere Dinge produzieren.

Welche Rolle spielt die erotische Komponente des Individual­verkehrs dabei? Verhindert die Liebe der Deutschen zu ihren Autos eine Verkehrswende?

Ich sage mal so: Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Menschen größtenteils von ihrer Arbeit entfremdet sind, in der sie mitunter Dinge produzieren, die gegen andere oder auch gegen die Produzierenden selbst gerichtet sind. Oder es sind Waren und Dienstleistungen, die unsinnig, nicht gesellschaftlich notwendig sind. Da ist es natürlich ideal, ein Produkt auf den Markt zu bringen, mithilfe dessen sich die Menschen in ihrer Freizeit scheinbar selbst verwirklichen können. Und sei es eine kleine Blechkiste mit 200 PS und einer supertollen Hifi-Anlage. Wenig verwunderlich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Henry Ford ein Faschist und überzeugter Antisemit war. 1938 erhielt er den höchsten Orden des nationalsozialistischen Deutschland für Ausländer, das Großkreuz des Deutschen Adlerordens. Adolf Hitler war ein glühender Verehrer des Automobilproduzenten und plante, dass in Zukunft »jeder Volksgenosse« Besitzer eines Automobils sein solle. Die NSDAP ­baute nach Ford’schem Vorbild das »Kraft durch Freude«-Werk bei Fallers­leben, ­heute Wolfsburg. Der »KdF-Wagen« sollte aus Hitlers Sicht den »klassentrennenden Charakter der Kraftfahrzeuge« überwinden und den »einzelnen Volksgenossen in die Volksgemeinschaft« integrieren. Benito Mussolini verfolgte eine vergleichbare Ideologie und ließ einen »Wagen für die breite Schicht«, den Fiat 500, genannt »Topolino« (Mäuschen), bauen. Das Arbeitsregime des Fließbandes, wie es Ford von den Tötungs- und Verarbeitungs­techniken der Schlachthäuser in Chicago übernommen hatte, wurde so zum Vorbild der Autoproduktion weltweit.

Jetzt werfen Sie aber totalitäre Regime und Kapitalismus ganz schön durcheinander.

Das ist sicher zugespitzt und vereinfacht. Dennoch: Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen, sagt Max ­Horkheimer. Ich finde, das gilt auch umgekehrt! Zumindest was die ­Geschichte der Autoindustrie angeht, sind Faschismus und Kapitalismus untrennbar miteinander verbunden. Aber um auf Ihre Frage nach der Autovernarrtheit zurückzukommen – wir haben es da auch mit einem Mann-Frau-Problem zu tun. Unter Männern ist die Affinität zu PS-starken, aggressiven Autos eindeutig stärker ausgeprägt als bei Frauen. Die Besitzer eines hochgetunten Golf GTI oder eines Porsche Cayenne oder eines Tesla X sind zu 90 % Männer, während beispielsweise der schnucklige Renault Clio zu 70 % von Frauen gefahren wird.

Wenn wir auf eine Verkehrswende hinarbeiten und lang­fristig ­autofreie Innenstädte haben wollen, wen müssen wir in die Pflicht nehmen? Konzerne, Verbraucher, Politiker?

Autokonzerne werden alles tun, um weiter Autos zu produzieren. Erst vor kurzem hat die Autolobby eine Diskussion in der Politik darüber angestoßen, nicht nur Elektro- und Hybridfahrzeuge, sondern auch Benzin- und Dieselautos mit einer Kaufprämie zu fördern. Da wird im Grunde die Corona-Krise gegen die Klimakrise ausgespielt. Auch in die Politik habe ich wenig Vertrauen. Zwar haben sich die Koalitionsspitzen von Union und SPD Anfang Juni 2020 gegen die Einführung einer neuen Abwrackprämie entschieden, dennoch wurde ein 130 Milliarden schweres Programm verabschiedet, u. a. um die Corona-bedingt eingebrochenen Fahrzeugverkäufe und den Flugverkehr wieder anzukurbeln. Also um ausgerechnet die Verkehrsarten zu fördern, die das Klima besonders belasten. Für mich ist die entscheidende Frage, ob das in der Bevölkerung bereits vorhandene Gefühl, dass das Auto großen Anteil an der Klimakrise und der Umweltzerstörung hat, genutzt werden kann, um real existierende Alternativen ins Zentrum zu rücken.

Wie kann man diesen Umschwung konkret fördern?

Ein Mittelklassewagen kostet durchschnittlich 400€ im Monat – Anschaffung, Sprit, Versicherung, Steuern, Wertverlust und Wartung miteingerechnet. Das ist eine Menge Geld. Dennoch werden die Menschen nicht auf ihr Auto verzichten wollen, solange Fahrradfahren in der Stadt keinen Spaß macht und als gefährlich gilt. Erst wenn Straßenbahnen und Busse einen auch nachts um zwei noch sicher nach Hause bringen und das im Idealfall zum Nulltarif, können sich die Menschen wirklich frei bewegen. Erst dann werden sie auf einen eigenen Pkw verzichten und Carsharing als Ausnahme zum Alltag betrachten.

Welche Folgen wird Corona für die Verkehrspolitik haben?

Generell besteht natürlich die große Gefahr, dass es unter dem Druck der ­Krise zu einem Rückschritt in allen ökologischen Fragen kommt. Es gibt zurzeit ­viele Menschen, die wieder für das Auto plädieren, weil sie sich dort vor Ansteckung sicher fühlen. Ich würde dagegenhalten, dass Corona zeitlich begrenzt sein wird, während alle Argumente, die gegen das Auto sprechen, weiterhin gültig sein werden, auch nachdem die Pandemie eingedämmt worden ist. Wir sollten also langfristig denken und investieren, beispielsweise in den Ausbau des ÖPNV, so dass genügend Platz ist, Abstand zu halten und niemand das Gefühl haben muss, in eine Sardinenbüchse gequetscht zu sein. Durch einen Null­tarif – den ich für dringend erforderlich und absolut finanzierbar halte – würde zudem der Kontakt mit Kontrolleuren und Automaten entfallen. Sofern die öffentlichen Verkehrsmittel regelmäßig desinfiziert werden, kann man also beides tun, Corona bekämpfen und den ÖPNV benutzen.

Wie würden Sie die Verkehrsgesellschaft der Zukunft ­beschreiben?

Die meisten alternativen Verkehrsplaner arbeiten an Konzepten, die den Verkehr verlagern, beispielsweise vom Flugzeug auf die Bahn, vom Auto auf den ÖPNV. Ich aber sage, der Verkehr muss nicht nur verlagert, er muss als erstes generell vermieden werden – für eine dezentrale, also eine rezentralisierte Gesellschaft, in der die Menschen viel mehr im Nahbereich erledigen können, weswegen dann auch Füße und Fahrrad viel mehr zum Einsatz kommen.
Über die Jahre haben wir leider eine sehr einseitige Auffassung des Begriffes Mobilität entwickelt. Mobilität, abgeleitet vom lateinischen »mobilitas, mobilitatis«, verweist nicht nur auf die Quantität der zurückgelegten Kilometer, sondern bedeutet auch Beweglichkeit um die eigene Achse herum. Die wichtigsten Bedürfnisse zu befriedigen, muss also nicht zwangsweise damit einhergehen, möglichst viele Kilometer zurückzulegen. Eine Düsseldorferin vor 45 Jahren hat durchschnittlich 6500 km im Jahr motorisiert zurückgelegt, während eine Düsseldorferin heute etwa 11.000 km im Jahr zurücklegt. Der Grund dafür ist nicht, dass wir heute öfter einkaufen, zur Arbeit oder in den Urlaub fahren, sondern dass sich die Wege dorthin – in ihrer jeweiligen Länge – teilweise vervierfacht haben. Und das produziert Verkehr. Niemand würde freiwillig den weiten Weg zum Einkaufszentrum vor der Stadt auf sich nehmen, wenn beim Wocheneinkauf dort nicht 160 € statt 230 € auf dem Kassenzettel stünden. Und das berühmte Billy Regal? Ist bei IKEA natürlich nur halb so teuer wie beim Schreiner um die Ecke. Das Problem ist, während ich als Einzelperson den Eindruck gewinne, es sei billiger, am Stadtrand einzukaufen, bezahlt die Allgemeinheit für die zusätzlichen Kilometer, die ich bis dorthin zurücklege. Autobahnen werden gebaut, die Umwelt und das Klima zerstört, die Verkehrspolizei muss zur Stelle sein, es kommt zu mehr Unfällen usw. – die Kosten dafür tragen aber nicht IKEA oder Lidl, Aldi & Co. , sondern die tragen wir, als Ausgleich dafür, dass wir am Stadtrand ein scheinbar günstigeres Regal oder einen preiswerteren Kasten Mineralwasser erwerben können.
Gleiches gilt für den Güterverkehr. Wenn ich eine Papaya aus Peru für 1,80 € im Supermarkt kaufen kann, denke ich natürlich: »Super, das ist ja fast billiger als ein Apfel!« Aber was dahinter steckt an Transportwegen, vom Luftfrachtverkehr bis zur Ausbaggerung der Elbe, ist das Drei- bis Fünffache dessen. Was wäre, wenn die Preise nicht subventioniert und die Allgemeinheit nicht diese absurd hohen Kosten tragen würde? Eine Papaya würde vermutlich zehn Euro im Laden kosten. Dann könnte ich meiner Geliebten einmal im Jahr eine Papaya schenken, und sie würde sich freuen. Aber ich würde den Preis für eine Papaya nicht regelmäßig ausgeben, wie jetzt, wo dieser Preis faktisch massiv subventioniert ist. Um diesen Umwelt- und Verkehrswahnsinn zu ­beenden, plädiere ich für eine Gesellschaft, in der die Nähe wieder ins Zentrum rückt: regionales Wirtschaften und Einkaufen, Läden um die Ecke besuchen, schöne Cafés und Kneipen in der Innenstadt, auf der Straße flanieren können, dezentrale Kulturstätten, die alle Viertel beleben.

Ist es also eine Frage der Bewusstseinsbildung, den Verbraucher auf solche Missstände aufmerksam zu machen?

Ich glaube, die Bewusstseinsbildung und Aufklärungsarbeit hat größtenteils schon stattgefunden. Mittlerweile wissen die meisten Menschen oder ahnen zumindest, was Massentierhaltung bedeutet und warum man zu Weihnachten keinen Erdbeerkuchen backen sollte. Die Frage ist, wie aus Bewusstsein und Bildung materielle Gewalt werden kann. Wenn wir vor zweieinhalb Jahren dieses Gespräch geführt hätten und ich gesagt hätte »Ich hoffe auf eine Jugendbewegung, die für eine Klimaveränderung kämpft und die außerdem mehrheitlich von Frauen getragen wird.« – Sie hätten mich vermutlich für verrückt gehalten! Die Fridays for Future-Bewegung war noch bis vor kurzem außerhalb jeder Vorstellungskraft. Aber was die jungen Menschen heute fordern, ihre Solidarität, das könnte auch zwischen der Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft entstehen im Kampf gegen die Klimakatastrophe und im Kampf für eine andere Verkehrsgesellschaft.

Winfried Wolf, geboren 1949 in Horb am Neckar, ist promovierter Politik­wissenschaftler, Autor und Journalist. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Verkehrs- und Europapolitik, Krisen- und Globalisierungsanalyse, Krieg und Kapitalismus. Von 1994 bis 2002 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Er ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac. 2019 erschien seine Studie »Mit dem Elektroauto in die Sackgasse«.

Das Interview ist hier erschienen