Die Verantwortung für Millionen Tote

Weltweite Situation der Pandemie Ende 2021

Es war leider keine linke Zeitung, sondern das Boulevard-Blatt „Bild am Sontag“, das am 28. November 2021 die Schlagzeile hatte „Hundert für 100.000“ und auf fünf Seiten 100 Kurzporträts mit Fotos brachte von Menschen, die seit Beginn der Pandemie aufgrund einer Corona-Infektion gestorben sind. Zu sehen und zu lesen war da unter anderem: „Arzt Hannes Schedel (59), aus Passau, Bayern † 14.4.2020; Kfz-Werkstattchef Rudi Lempik (52) aus Köln (NRW, † 16.4.2020; Bloggerin Brittanya Karma (29) aus Hamburg, † 29.11.2020; Recycling-Unternehmerin Marion Bergler (41) aus Weiden (Bayern), † 15.4.2020.“ Dazu in großen Lettern: „Wir schulden Ihren Angehörigen unsere Anteilnahme.“

Ende November 2021 hat Corona nach offizieller Statistik auf Weltebene 5,2 Millionen Frauen und Männern und in Deutschland mehr als 100.000 Menschen das Leben gekostet. Andere Berechnungen gehen von weltweit 10,7 bis 19,9 Millionen Corona-Toten aus.1

Damit ist der Todeszoll, den die Covid-19-Pandemie der Menschheit binnen 22 Monaten auferlegte, nicht mehr weit entfernt von den Opfern der Spanischen Grippe, die im Dreijahres-Zeitraum 1918 bis 1920 zwischen 20 und 40 Millionen Menschenleben forderte. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Spanische Grippe unter den Bedingungen des Massenelends am Ende des Ersten Weltkriegs, bei Abwesenheit einer modernen Medizin und bei Fehlen eines Impfstoffes wütete.

Wirft man einen Blick auf die weltweite Lage und die Unterschiede in den verschiedenen Ländern, wird deutlich, welche Chancen es offenkundig gab, Menschenleben zu retten. Anders formuliert: Es war die verfehlte Pandemie-Politik, die Hunderttausenden unnötig den Tod brachte.

Bei der Tabelle auf Seite 16 sind drei Aspekte hervorzuheben:

Erstens: Die Spanne bei der Zahl der Corona-Toten je 100.000 Menschen liegt bei den größeren Ländern in Europa beim Zwei- bis Zweieinhalbfachen im Vergleich Niederlande und Deutschland einerseits und Polen, Großbritannien, Italien und Rumänien andererseits. Sie liegt bei den kleineren europäischen Ländern beim Dreifachen beim Vergleich der Länder Irland, Österreich und Schweiz einerseits und Tschechien, Ungarn und Bulgarien andererseits. In Lateinamerika hat Peru einen siebenmal größeren Blutzoll zu beklagen als Kuba. In Brasilien sind es viermal mehr Corona-Tote als auf Kuba – wobei sehr viel dafür spricht, dass es in Brasilien wesentlich mehr Covid-19-Opfer gab als in der offiziellen Statistik ausgewiesen. Argumentiert man, Kuba sei nicht mit dem übrigen Lateinamerika vergleichbar („Insellage“), dann bleibt als Spanne, dass in Peru 3,4 mal mehr Corona-Tote zu beklagen sind als in Uruguay.

Zweitens: Unter den vier skandinavischen Ländern – alle vier sind hinsichtlich ihrer Randlage in Europa, ihrer sozialen Struktur, ihrer Größe und ihres hochentwickelten Gesundheitssystems vergleichbar – musste Schweden einen achtmal höheren Opferzoll als Norwegen beklagen; er ist siebenmal höher als in Finnland und noch dreimal höher als in Dänemark – wobei das letztgenannte Land aufgrund seiner Grenze mit Deutschland in diesem innerskandinavischen Vergleich benachteiligt ist. Das Urteil über die „liberale“ schwedische Pandemie-Politik könnte kaum deutlicher ausfallen.

Drittens: Ende 2021 gibt es immer noch Länder, in denen es ausgesprochen wenige Covid-19-Opfer gab und die damit nahe „Zero-Covid“ liegen. Zu nennen sind hier China, Taiwan und Neuseeland. Ganz offensichtlich jedoch konnte die Zero-Covid-Politik in Südkorea, Vietnam, Japan, Neuseeland, Australien und auf Kuba nur bis Anfang 2021 aufrechterhalten werden. Ab Frühjahr 2021 wurde diese Politik Schritt für Schritt aufgegeben. Zuletzt kapitulierten im Herbst 2021 Australien und Neuseeland. Dabei spielten wirtschaftliche Zwänge (Tourismus in Kuba!), die Globalisierung (junge Autoindustrie in Vietnam!) und der Kommerz (Olympiade in Japan!) eine große Rolle. Wichtig ist jedoch: Die in diesen Ländern lange Zeit sehr erfolgreiche Zero-Covid-Politik musste aufgegeben werden, weil diese Länder von der Weltgemeinschaft allein gelassen wurden. Eine Politik der Abschottung lässt sich in der gegenwärtigen Welt nur für eine begrenzte Zeit aufrechterhalten. In den Worten von Bary Pradelski vom National Centre for Scientific Research in Grenoble: „Eine Pandemie ist ein globales Problem, das nicht ein Land für sich allein lösen kann.“2 Darüber hinaus trug die Laissez-Faire-Pandemie-Politik in einem großen Teil der westlichen Welt dazu bei, dass sich zunehmend gefährlichere Virus-Mutationen herausbildeten und weltweit verbreiteten, was die Zero-Covid-Politik in diesen Ländern enorm erschwerte und darüber hinaus die Wirkung der Impfkampagnen abschwächte.

Mehrheiten für eine konsequente Pandemie-Bekämpfung

Es gibt seit mehr als einem Jahrzehnt genaue Erkenntnisse der WHO, wie eine Pandemie wie Covid-19 eingedämmt und wie der abverlangte Blutzoll in engen Grenzen gehalten werden können.3 Diese Erkenntnisse wurden auf Weltebene weitgehend ignoriert. In der erwähnten Ländergruppe jedoch wurde diese Zero-Covid-Politik gut ein Jahr lang erfolgreich praktiziert. Dabei gab es in Ländern wie Australien, Neuseeland, Japan, Taiwan und Vietnam deutliche Mehrheiten für die dort lange Zeit praktizierte Zero-Covid-Politik. Die Olympiade in Japan fand beispielsweise statt, obgleich eine Mehrheit in der Bevölkerung dies aus Angst vor einer Intensivierung der Pandemie ablehnte. In Neuseeland, wo es eine ausgesprochen konsequente Politik der Pandemie-Eindämmung gab, konnte die Premierministerin Jacinda Ardern bei den Parlamentswahlen im Oktober 2020 als Dankeschön der Bevölkerung einen grandiosen Wahlsieg für ihre Labour-Party – mit der absoluten Mehrheit der abgegebe nen Stimmen – erzielen. Auch in der VR China dürfte die Politik der Pandemie-Bekämpfung von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt werden. Und als die Corona-Leugner in der Schweiz eine Volksabstimmung über das „Corona-Zertifikat“ erzwangen, lautete am 28. November 2021 das Ergebnis beim Plebiszit: 62 Prozent der Bevölkerung stimmten für den Erhalt des „Zertifikats“; das Referendum galt als Gradmesser für die öffentliche Haltung zu den Schweizer Auflagen im Kampf gegen das Virus.

Es spricht sehr viel dafür, dass es im Fall eines einheitlichen und klaren Auftretens von WHO und dem größten Teil der Regierungen weltweit klare Mehrheiten für eine konsequente Pandemie-Bekämpfung gegeben hätte. Eine solche einheitliche und frühzeitige Covid-19-Politik hätte die Chance beinhaltet, eine größere Verbreitung des Virus – und damit auch das Entstehen gefährlicher Mutanten – zu verhindern. Dazu kam es nicht. Die klassischen Erfahrungen zur wirksamen Pandemiebekämpfung wurden insbesondere in den USA, in Europa und in Russland ignoriert. Bei jeder neuen Pandemie-Welle behauptete die Politik in diesen Regionen, man sei „völlig überrascht“ worden, weswegen dann kurzatmige – und teilweise unnötig harte – Maßnahmen ergriffen und ein absurder Zickzack-Kurs mit den sattsam bekannten Jojo-Lockdowns praktiziert wurden. Und als es Anfang 2021 in großen Mengen wirksame Impfstoffe gab, wurde deren Einsatz zu mehr als 80 Prozent auf die reichen westlichen Länder konzentriert und der Bevölkerung im Westen suggeriert, die Pandemie-Gefahr sei damit weitgehend gebannt.

In der Bilanz kostete diese Politik Millionen Menschen das Leben. Sie gab auch freien Raum für ein flächendeckendes Corona-Leugnertum, was einer Entsolidarisierung und einer Verstärkung der Ellbogen-Mentalität in den westlichen Gesellschaften gleichkommt. Auch wenn es einige Linke unter den Corona-Relativierern gibt, so ist auf Weltebene doch eindeutig, dass es in erster Linie Neoliberale wie FDP-Lindner, Rechte wie Trump und Rutte und Rechtsextreme wie Gauland und Bolsonaro sind, die die Pandemie relativieren und die „Freiheit des Individuums“ ins Zentrum der Corona-Debatte rückten. In einigen Fällen – so in den niederländischen Städten Rotterdam und Leeuwarden und in der belgischen Metropole Brüssel – mündeten im November die Corona-Leugner-Demos in blinde Zerstörungswut, bei der in den Innenstädten auch die Läden vieler kleiner Geschäfte zerstört wurden.

Die Parteinahme von Liberalen und Rechten für das Relativieren von Corona wiederum weist auf die entscheidende Triebkraft hin, die hinter der fatalen Nichtbekämpfung der Pandemie steckt. Das globale System kapitalistischer Weltwirtschaft muss am Laufen gehalten werden. Profit geht vor Gesundheit.

Anmerkungen:

1 Siehe The pandemic´s true death toll, Economist vom 13. November 2021; https://www.economist.com/graphic-detail/coronavirus-excess-deaths-estimates.

2 Interview in Süddeutsche Zeitung vom 4. Mai 2021.

3 World Health Organisation – Western Pacific Region, SARS, How a Global Epidemic was Stopped, Washington 2006. Siehe Verena Kreilinger, Winfried Wolf, Christian Zeller, Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie, Köln 2020, S. 46ff.