Ein Vergleich zwischen der Bahnreform 1994-2018 in Deutschland und dem Projekt einer Reform der SNCF in Frankreich 2018
Ein Gutachten, erstellt für die französische Gewerkschaft CGT und vorgetragen im Senat in Paris am 29. Mai 2018
Dr. Winfried Maria Wolf
In Frankreich und in Deutschland wird mit ähnlichen Maßnahmen der umwelt- und klimafreundliche Schienenverkehr abgebaut. In Deutschland konnte dieser zerstörerische Prozess seit der Bahnreform des Jahres 1994 weitgehend geräuschlos durchgezogen werden. In Frankreich stößt dieses Projekt einer neuen SNCF-Reform auf Widerstand – und auf eine massive Streik- und Protestwelle.
Wenn man die unterschiedlichen Etappen der Bahnprivatisierung in Deutschland kennt und gleichzeitig in diesen Tagen verfolgt, welche Art „Bahnreform“ derzeit in Frankreich Staatspräsident Emmanuel Macron bzw. die Regierung unter Ministerpräsident Éduard Philippe mit der Verkehrsministerin Elisabeth Borne durchsetzen wollen, dann stellt man viele Parallelen fest. Die Behauptung von Staatspräsident Emmanuelle Macron, die Bahnreform in Deutschland sei ein „Vorbild“ für das, was in Frankreich geplant ist, ist nicht beruhigend. Diese ist hinsichtlich der zerstörerischen Potenzen eindeutig erhellend und abschreckend.
15 Kennzeichen der deutschen Bahnreform – 15 Parallelen zur SNCF-Reform
- Status einer Aktiengesellschaft – fortgesetzte Privatisierungsversuche
Nach der deutschen Einheit 1990 gab es in Deutschland zwei Staatsbahnen: in Westdeutschland die „Deutsche Bundesbahn“ und in Ostdeutschland, in der ehemaligen DDR, die „Deutsche Reichsbahn“. Beide wurden Anfang 1994 zusammengeführt und in die neue Aktiengesellschaft mit der Bezeichnung „Deutsche Bahn AG“ überführt.
Dies wurde gefeiert als ein „Neuanfang für die Schiene“, als ein „Ende der Beamtenbahn“ und als eine neue „Kundenorientierung der Eisenbahn“.
Für diese „Bahnreform“ wurde Ende 1993 die Verfassung (das „Grundgesetz“) geändert. Seither ist die Deutsche Bahn AG nach Artikel 87e Grundgesetz einerseits „als Wirtschaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form“ zu führen. Daraus kann eine reine Profitorientierung abgeleitet werden. Andererseits müssen sich der „Ausbau und Erhalt des Schienennetzes“ und die „Verkehrsleistungen“ auf diesem weiterhin an „den Verkehrsbedürfnissen“ und dem „Wohl der Allgemeinheit“ orientieren.
Der Schienenpersonennahverkehr wurde dabei in die Zuständigkeit der Bundesländer übergeben.
Im Rahmen der Debatten zur Bahnreform wurde vielfach geäußert, es werde keine Bahnprivatisierung geben. Gleichzeitig aber gibt es seither keinen Schutz mehr vor einer materiellen Privatisierung. Nur die Infrastruktur (das Schienennetz) muss (laut der 1993 veränderten Verfassung) mehrheitlich in staatlichem Eigentum bleiben.
Seither gibt es einen umfassenden Privatisierungsprozess, und zwar auf zwei Ebenen:
Erstens bei der Deutschen Bahn AG selbst. Bis heute blieb der Eigentümer der Deutschen Bahn AG zu 100 Prozent der Bund (der Staat). Allerdings gab es seit 2000 wiederholt Versuche, die Deutsche Bahn AG auch materiell zu privatisieren. 2007 scheiterte das Projekt, die gesamte Eisenbahn (Betrieb und Infrastruktur) zu privatisieren („integrierter Börsengang“). 2008 scheiterte auch das Projekt eines Börsengangs derjenigen Teile der DB AG, in denen der Schienenpersonenverkehr (Nahverkehr und Fernverkehr), der Schienengüterverkehr und die Logistik zusammengefasst sind. Diese Betreibergesellschaften waren bis 2017 in einer Subholding mit Namen DB ML – DB Mobility Logistics – zusammengefasst.
Ursache für dieses Scheitern waren ein heftiger Widerstand in der Bevölkerung, eine Kampagne gegen diesen Bahnbörsengang, die Streiks der Gewerkschaft GDL und die Finanzmarktkrise im Sommer 2008. (Die GDL-Streiks betreffend siehe auch unten bei den Angaben zur Person)
Seither gab es mehrere neue Privatisierungsversuche der DB AG. Zuletzt 2015/16. Damals sollten „Investoren“ bei DB ML (bei den Betreibergesellschaften der Deutschen Bahn AG) einsteigen. Auch dieser Versuch wurde gestoppt – mit Rücksicht auf die Bundestagswahlen 2017.
Zweitens vermittelt über die Öffnung des Schienenverkehrsmarktes. Seit 1994 gibt es eine wachsende Konkurrenz beim Betrieb von Eisenbahnen auf dem deutschen Schienennetz. In der Folge werden inzwischen mehr als 40 Prozent des Schienenpersonennahverkehrs von „privaten“ Gesellschaften betrieben. Die Tochter der DB AG für diesen Bereich, DB Regio, hält noch rund 55 Prozent der Anteile. Ähnlich sieht es im Schienengüterverkehr aus, wo der Anteil der Privaten bei 45 Prozent liegt und die Tochter der DB AG DB Cargo (bis vor kurzem mit der Bezeichnung „Railion“) nur noch gut 50 Prozent der Anteile hält.
Im Schienenpersonenfernverkehr hält die DB mit der Tochter DB Fernverkehr noch mehr als 95 Prozent der Anteile. Seit 2017 gibt es hier Konkurrenz durch den Fernbusbetreiber Flixbus, der inzwischen auf ersten Strecken Züge verkehren lässt.
SNCF: Geplant ist die Umwandlung der SNCF in eine Aktiengesellschaft.
- Zerlegung der einheitlichen Eisenbahngesellschaft in unterschiedliche Segmente
Nach der deutschen Bahnreform 1994 gab es mehrere Prozesse der Zergliederung und Aufspaltung der Deutschen Bahn.
Aktuell (Mitte 2018) haben wir eine Holding (Konzerngesellschaft). Unterhalb dieser Dachgesellschaft gibt es
- Die Infrastrukturgesellschaften Netz AG und Station und Service AG (Bahnhöfe). Beides sind formell zwei selbständige Aktiengesellschaften.
- Die Gesellschaften für den Schienenpersonenverkehr: DB Fernverkehr, DB Regio (Nahverkehr) und DB Cargo (Schienengüterverkehr). Auch hier handelt es sich um eigene Aktiengesellschaften).
- Das Logistikunternehmen DB Schenker (ebenfalls eine AG, die vor allem das weltweite Logistikgeschäft und das Lkw-Speditionsgeschäft im Inland kontrolliert)
- DB Arriva (eine Aktiengesellschaft, die europaweit Busverkehre und Bahnverkehre zusammenfasst).
Diese Aufspaltungen wurden in den vergangenen 24 Jahren immer weiter vorangetrieben. Insgesamt gibt es mehr als 500 selbstständige Tochtergesellschaften der DB. Gleichzeitig wurde der Zusammenhalt der ehemals einheitlichen Bahn-Sektoren immer brüchiger. Sehr oft gibt es ein „Gegeneinander“. Fernzüge warten auch bei kleineren Verspätungen von Nahverkehrszügen nicht mehr. Die Gebühren, die für die Nutzung der Trassen und der Bahnhöfe zuzahlen sind, sind exorbitant hoch und werden immer höher (siehe unten unter Punkt 10).
Die „privaten“ Bahnen im deutschen Schienennetz sind vielfach Töchter der staatlichen Nachbar-Eisenbahnen. U.a. der SNCF-Tochter Keolis, der Tochter der italienischen Staatsbahn FS, Netinera, der Tochter der niederländischen Staatsbahn NS, Abellio, der SBB aus der Schweiz, SBB Cargo usw.
Offiziell heißt es, es gebe in Deutschland weiter eine „integrierte Bahn“. Das trifft nur auf die formale Hülle zu. Es steht in krassem Widerspruch zur Realität.
SNCF: Es gibt in Frankreich längst Ansätze einer ähnlichen Aufspaltung. Mit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft und vor dem Hintergrund der EU-Richtlinien droht auch hier eine massive Verschärfung dieser Segmentierung.
- Status der Beschäftigten
In Deutschland wurde 1994 mit der Gründung der Deutschen Bahn AG der Beamtenstatus für neue Bahnbeschäftigten abgeschafft. Damit verbunden war für die neuen Bahnbeschäftigten (die inzwischen bei weitem die Mehrheit aller Beschäftigten der DB AG ausmachen) eine Senkung der durchschnittlichen Arbeitseinkommen und der Rentenansprüche. Damit einher ging eine demagogische Kampagne gegen die (alte) „Beamtenbahn“, deren Beschäftigte angeblich „privilegiert“ gewesen seien.
Die Folgen sind verheerend. Während der Eisenbahnerberuf früher ein hohes Prestige hatte und Lokführer ein Traumberuf war, ist heute in Deutschland eine deutliche Mehrheit der Bahnbeschäftigten unzufrieden mit dem Job. Die „corporate identity“, die Identifikation mit dem Unternehmen, ist bei den DB-Beschäftigten extrem niedrig. Das Ansehen der Deutschen Bahn rangiert nach Umfragen unter den prominenten Unternehmen an vorletzter Stelle – vor der Deutschen Post, die ebenfalls in den 1990er Jahren privatisiert wurde.
SNCF: In Frankreich soll mit der SNCF-Reform das „Statut“ für alle neu eingestellten Bahnbeschäftigten abgeschafft werden. Bei diesem „Statut“ handelt es sich um ein öffentlich-rechtliches Arbeitsverhältnis, das – als Folge sozialer Kämpfe – im Vergleich zur privaten Wirtschaft etwas mehr Schutz bietet und teilweise mit günstigeren Arbeitsbedingungen verbunden ist. Auch hier heißt es, es gehe um einen „Abbau von Privilegien“. Im „Spiegel“ (7.4.2018) wurde behauptet, es gebe für SNCF-Beschäftigte „automatische Gehaltssteigerungen und ein Renteneintrittsalter ab 52 Jahren.“ In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (22.2.2018) konnte man lesen: „Lokführer in Frankreich – ein Traumberuf“. In den französischen Medien heißt es, der Durchschnittslohn der SNCF-Beschäftigten läge bei 3000 Euro netto. Die Wirklichkeit sieht deutlich anders aus. Fast zwei Drittel der SNCF-Beschäftigten verdient weniger als 1600 Euro netto. Das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt in der Nähe von 60 Jahren – wer mit 52 Jahren in Rente geht, hat so viele Abschläge, dass er davon nie und nimmer leben kann.
- Abbau der Beschäftigung
In Deutschland gab es 1994 bei Bundesbahn und Reichsbahn noch 350.000 Beschäftigte. Diese waren zu 95 Prozent im Bereich Schienenverkehr im Inland engagiert.
Im Mai 2018 gibt es bei der Deutschen Bahn AG im Bereich Schiene noch 170.000 Beschäftigte. Hinzu kommen weniger als 10.000 Beschäftigte bei den privaten Bahngesellschaften (den privaten Betreibern von Eisenbahnunternehmen im Bereich von Schienenpersonennahverkehr und Schienengüterverkehr). Insgesamt gibt es im Bereich Schiene heute weniger als 180.000 Beschäftigte. Die Bahnbelegschaft hat sich demnach fast halbiert.
SNCF: Auch bei den französischen Bahnen gab es in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen deutliche Abbau der Belegschaft. Dieser war aber nie so dramatisch wie im Nachbarland Deutschland. Vieles spricht dafür, dass sich dieser Belegschaftsabbau mit der „Reform“ – wie in Deutschland erfolgt – drastisch beschleunigen wird.
- Verschuldung, Übernahme von Schulden und Neuverschuldung
In Deutschland wurden mit Gründung der DB die Schulden von Bundesbahn und Reichsbahn vom Staat übernommen. Damals lagen diese addierten Schulden (umgerechnet) bei mehr als 75 Milliarden Euro. Allerdings spielte hier die deutsche Einheit und die marode Struktur der DDR-Eisenbahn „Reichsbahn“ eine wichtige Rolle. Der Schuldenberg diente jedenfalls dazu, die Gewerkschaften, die Bahnbeschäftigten und die Öffentlichkeit zu erpressen. Argumentiert wurde: Ohne „Reform“ wird die Staatsbahn bald pleite gehen.
Die DB AG startete dann im Januar 1994 komplett schuldenfrei. Allerdings hat die DB inzwischen – Mitte 2018 – erneut 18,6 Milliarden Euro (neue) Schulden. In diesem Jahr 2018 sollen es 20 Milliarden Euro werden. Für diese neuen Schulden bezahlt die DB heute im Jahr rund 800 Millionen Euro für Zinsen und Tilgung. Laut der Ratingagentur Standard & Poor´s ist die Deutsche Bahn AG überschuldet; für die Agentur lautet der „Ausblick“ auf „negativ“. Nur das Wissen, dass im Fall einer Pleite der DB AG der Staat einschreiten würde, hält die genannte Ratingagentur davon ab, ein noch negativeres Urteil zu fällen.
SNCF: Auch in Frankreich sollen die SNCF-Schulden, die derzeit bei 55 Milliarden Euro liegen, in einer Höhe von 35 Milliarden Euro vom Staat übernommen werden. Wobei eine Teilintegration der SNCF-Schulden durch den Staat bedeutet, dass die gigantische französische Staatsschuld in Höhe von 2,2 Billionen Euro nochmals – dann auf 2,25 Billionen Euro – ansteigt … Was das Gegenteil dessen ist, was Macron als zentrales Ziel ausgegeben hat: ein Schuldenabbau.
Die Tatsache, dass es nur zu einer Teilentlastung der SNCF von ihrem Schuldenberg kommt, heißt auch: Die neue französische Bahn-AG startet von Anfang an mit einem Schuldenberg in Höhe von 20 Milliarden Euro, was dem entspricht, was die Deutsche Bahn AG in 24 Jahren neu anhäufte.
- Infrastruktur – ein sich ständig verschlechternder Zustand
In Deutschland hat sich der Zustand der Schieneninfrastruktur vor allem seit Ende der 1990er Jahre erheblich verschlechtert. Das gilt für die Nebenstrecken in besonderem Maß, wo u.a. oft noch die Sicherungstechnik aus den 1980er Jahren existiert und es auch zu schweren Eisenbahnunfällen kam, bei denen unzureichende Sicherungstechnik eine wichtige Rolle spielte. Das gilt aber auch für die Hauptstrecken, in denen es immer mehr „Langsamfahrstellen“ („La“) gibt, die oft in den nächsten Fahrplan integriert werden. Auf diese Weise haben sich auch Verbindungen, auf denen der Hochgeschwindigkeitszug ICE verkehrt, verlangsamt. So betrug die ICE-Fahrtzeit Stuttgart – München 1996 noch 121 Minuten, heute sind es 137 Minuten. Vergleichbare Fahrtzeitverlängerungen gibt es auf mehreren Verbindungen.
Die Pünktlichkeitsquote ist seit 15 Jahren rückläufig. Sie liegt 2018 im Fernverkehr offiziell deutlich unter 80 Prozent (wobei als „pünktlich“ Züge gelten, die nur 5 Minuten und 59 Sekunden verspätet sind). Nach unabhängigen Statistiken liegt die Pünktlichkeitsquote unter 75 Prozent.
SNCF. Die Infrastruktur befindet sich außerhalb der TGV-Strecken in einem unzureichenden, oft maroden Zustand. Dieser wird sich mit einer Reform sicher nicht verbessern – bzw. ganze Strecken werden schlicht abgebaut.
- Infrastruktur – Abbau
In Deutschland wurde das Streckennetz (mit Schienenverkehr = „Betriebslänge“) seit der Bahnreform um knapp 8000 km (oder um 18,5 Prozent) abgebaut. Hier sind die wenigen Neubaustrecken bereits berücksichtigt.
Wesentlich wichtiger ist der Abbau in der Qualität und Kapazität der Infrastruktur. Seit der Bahnreform wurde die Zahl der Weichen im Schienennetz um 46 Prozent, die Länge der ausweichgleise um 50 Prozent und die Zahl der Gleisanschlüsse für Firmen (Industriegleise) um 80 Prozent reduziert.
SNCF: In Frankreich sollen mit der neuen „Reform“ 9000 km Schienennetz verschwinden. Was ein Abbau von 26 Prozent wäre. Allerdings gab es seit Anfang der 1990er Jahre auch bereits einen Streckennetz-Abbau (um rund 15 Prozent). Damit würde sich der alte Abbau mit einem zusätzlichen Abbau addieren.
- Konzentration auf Hochgeschwindigkeitsstrecken – Abbau in der Fläche
Es gab bereits vor der Bahnreform eine zunehmende Konzentration auf Hochgeschwindigkeitsstrecken. Dieser Trend hat sich seit 1994 verstärkt. Es wurden sehr teure Neubaustrecken gebaut – so Köln – Frankfurt/M, Hannover – Berlin und Berlin – München. Gleichzeitig wurde das Schienenetz in der Fläche vernachlässigt und, siehe oben, deutlich reduziert
2001 wurde eine enorm erfolgreiche Zuggattung, der Interregio, eingestellt. Dieser Ende der 1080er Jahre neu entwickelte Zug hatte vor allem die Fläche mit Fernverkehr erschlossen. Ende der 1990er Jahre zählte der Interegio mehr Fahrgäste als der ICE. Mit der Einstellung dieser Zuggattung verloren hunderte Städte den Anschluss an den Schienenpersonenfernverkehr.
Der ICE-Verkehr und die Neubaustrecken sind defizitär. Das trifft dann zu, wenn berücksichtigt wird, dass der Bau der Strecken komplett vom Staat finanziert wird. die DB (bzw. deren Tochter DB Netz) muss auch keine Abschreibungen auf diese Strecken berücksichtigen, da sie in der Bilanz nicht auftauchen.
SNCF:Es gibt seit Jahrzehnten eine Konzentration auf die TGV-Strecken. Diese galten ebenfalls jahrzehntelang als eine Art „Markenzeichen“ für erfolgreichen Schienenverkehr in Frankreich. Die Alstom-Züge waren und sind in der Qualität mit den deutschen ICE-Zügen zumindest vergleichbar, wenn nicht (z.B. hinsichtlich der stabilisierenden Drehgestelle) dem ICE überlegen. Wenn aktuell der TGV mit der Reform in Frage gestellt wird, so hat dies zwei Seiten: zum einen war die Konzentration auf die Hochgeschwindigkeitsstrecken bei Vernachlässigung der Fläche sicher problematisch. Andererseits ist die Behauptung von riesigen Defiziten im TGV-Verkehr aber auch fragwürdig. Hier dürfte es auf die Grundlagen der Berechnung ankommen. Auf alle Fälle ist die Behauptung von Macron und Philippe falsch, wonach der deutsche ICE gewinnbringend wäre. Wenn die sündhaft teuren Strecken auch nur zu einem größeren Teil eingerechnet werden, dann ist die betriebswirtschaftliche Bilanz auf alle Fälle negativ.
- Der Kahlschlag bei den Bahnhöfen
Die Deutsche Bahn AG hatte bei ihrer Gründung noch 5500 Bahnhöfe. Ein größerer Teil von ihnen war noch mit Personal besetzt. Seither wurden mehr als 2000 Bahnhöfe verkauft. Heute haben weniger als 100 Bahnhöfe noch Personal.
Der größte Teil der Bahnhöfe stellt einen Schandfleck in den betroffenen Orten und kleineren Städten dar: Sie sind geschlossen und befinden sich in einem Stadium des Verfalls.
In großen Städten stehen Bahnhöfe oft im Zentrum von großen Projekten der Immobilienspekulation. Sie wurden an Investoren verkauft (so in Hamburg oder Leipzig). Gut funktionierende Bahnhöfe sollen aufgegeben und verlegt werden (so in Hamburg-Altona; Verlegung nach Diebsteich am Rand von Altona). In Stuttgart gibt es seit 1994 das zerstörerische Großprojekt „Stuttgart21“: ein Kopfbahnhof mit Rekordbilanz hinsichtlich Pünktlichkeit soll aufgegeben und durch einen unterirdischen Bahnhof („Stuttgart21“) ersetzt werden. Dieser Bahnhof soll durch 60 Kilometer lange Tunnelstrecken erschlossen werden. Das Projekt war mit 2 Milliarden Euro geplant. Aktuell muss von 10 Milliarden Euro ausgegangen werden.
SNCF. Auch hier ist der Verfall der Bahnhöfe in der Fläche längst zu beobachten. Er wird sich mit der Reform beschleunigen.
- Trassenentgelte und Stationsgebühren
Seit der Bildung der getrennten Infrastrukturtöchter DB Netz und DB Station & Service stiegen die Entgelte, die die beiden Gesellschaften von den Nutzern (Töchter der DB und private Gesellschaften) verlangen, kontinuierlich. Sie liegen deutlich höher als in wichtigen Nachbarländern. Dies führt dazu, dass damit zunehmend Schienenverkehr stark verteuert und oft unmöglich gemacht wird.
Als am 16. Dezember 2016 der gesamte Nachtzugverkehr der DB eingestellt wurde, wurde dies u.a. mit den zu hohen Trassenentgelten begründet.
[Hier verfüge ich über keine ausreichende Information zur Situation bei der SNCF]
- Wachsende öffentliche Zuschüsse
Die Bahnreform in Deutschland wurde 1994 damit begründet, dass die öffentlichen Gelder für das System Schiene zu hoch seien. Der Schienenverkehr müsse wirtschaftlich gestaltet und die öffentlichen Subventionen reduziert werden.
Das Gegenteil trat ein. 1991 (im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung) flossen 10,3 Millionen Euro in das Schienennetz (gingen an Bundesbahn und Reichsbahn). Im Jahr 1994 waren es 16,5 Milliarden Euro (wobei es damals Sonderlasten gab durch nachholende Investitionen im Bereich der Ex-DDR). 2017 flossen 17 Milliarden Euro in das System Schiene als Ganzes.
Nicht enthalten sind in diesen Zahlen die Zinskosten für die übernommenen Altschulden von Bundesbahn und Reichsbahn und die Übernahme der Kosten für die Altersversorgung der ehemaligen Bahnbeamten.
Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass die Infrastruktur wie oben beschrieben massiv abgebaut wurde.
SNCF: Es spricht viel dafür, dass die öffentlichen Zuschüsse für das System Schiene in Frankreich mit einer Reform nicht geringer werde. Sie werden sich entwickeln wie in Deutschland. Auch im Mutterland der Bahnprivatisierung, in Großbritannien, stiegen die staatlichen Subventionen nach der Privatisierung drastisch an.
- Global Player-Politik
Die Deutsche Bahn AG wurde in den letzten zwei Jahrzehnten unter den Bahnchefs Mehdorn, Grube und Lutz zum Global Player umstrukturiert; fast die Hälfte des Umsatzes macht die DB inzwischen im Ausland. Diese Investitionen im Ausland erfolgen überwiegend außerhalb des Bereichs Schiene. Oft agieren dabei Töchter der DB als Konkurrenten gegenüber noch bestehenden Eisenbahnen – so im Fall der Busgesellschaften von DB Arriva.
Dieses Global Player-Geschäftsmodell ist hoch riskant. In den USA musste die DB eine große Investition (Bax Global) fast komplett abschreiben und aufgeben.
Vor allem stellt diese Orientierung eine Zweckentfremdung von steuerlichen Subventionen dar, die schließlich Jahr für Jahr in Milliardenhöhe gewährt werden – eigentlich für Schienenverkehr im Inland.
SNCF: Eine vergleichbare Orientierung verfolgt die SNCF mit Guillaume Pépy an der Spitze. Der französische Bahnkonzern ist in zwei Dutzend Ländern mit Töchtern vertreten, u.a. in Deutschland mit Keolis (in NRW als „Eurobahn“), in Shanghai mit Metrolinien, in Australien und Neuseeland mit Bus-und Bahn-Unternehmen und in den USA u.a. mit einer Beteiligung am „Hyperloop“ des Tesla-Chefs Elon Musk. Diese – falsche – Orientierung dürfte sich mit der Umwandlung der SNCF in eine Aktiengesellschaft verstärken.
- Fernbus-Verkehr werden liberalisiert
In beiden Ländern – in Frankreich und Deutschland – wurde vor wenigen Jahren der Busfernverkehr liberalisiert – in Frankreich war es der damalige Wirtschaftsminister und heutige Präsident Macron, der diese Tat vollbrachte.
Seither wächst der Fernbusverkehr mit zweistelligen Wachstumsraten, während die Schiene an die Busse Fahrgäste verliert. Wobei es in Frankreich vor allem die SNCF selbst ist, die in großem Umfang den Fernbusverkehr betreibt – in Konkurrenz zur „eigenen“ Schiene. In Deutschland wird das Fernbusgeschäft inzwischen zu mehr als 90 Prozent von Flixbus kontrolliert. Flixbus ist inzwischen auch in den Bahnfernverkehr eingestiegen und betreibt erste Fernverkehrszüge zu extrem niedrigen Tarifen.
- Der Verkehrsmarkt begünstigt Straße und Luftfahrt – im kompletten Widerspruch zur verbalen Politik
Eine entscheidende Parallele zwischen Deutschland und Frankreich besteht zu guter Letzt in Folgendem: Die offizielle Politik, die in Paris und in Berlin verfolgt wird, lautet: Aus Gründen des Umwelt- und Klimaschutzes wird die Schiene vor dem Straßen- und dem Luftverkehr bevorzugt.
In der konkreten Verkehrspolitik jedoch findet Tag für Tag und von Regierung zu Regierung (in Frankreich von Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy über Francois Hollande bis zu Emmanuel Macron, in Deutschland von Merkel I bis Merkel IV) das glatte Gegenteil statt: Im Bereich Schiene wird abgebaut und auf Substanz gefahren; das Straßennetz wird ausgebaut und optimiert; Bahnhöfe veröden – neue schicke Airports entstehen. Bahnfahren ist, abgesehen von einzelnen Schnäppchenpreisen, teuer; der Pkw-Verkehr, der Fernbusverkehr und die Billigairlines werden im Vergleich zur Schiene immer günstiger.
Die Bilanz: Diesseits und jenseits des Rheins wird viel getan, um die umweltfreundliche und soziale Bahn kaputt zu sparen.
- Es gibt eine Durchsetzung des Top-Personals im Schienenverkehr mit Personen, die nichts mit Bahn zu tun haben und der Schiene entgegengesetzte Interessen vertreten
Drei der entscheidenden letzten deutschen Bahnchefs – Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube – kamen aus der Autoindustrie und waren Top-Manager im Daimler-Konzern. 2002/2003 wurde ein neues Bahnpreissystem bei der DB eingeführt (“PEP”), das weitgehend aus der Luftfahrt übernommen wurde. Es musste wegen massenhafter Proteste teilweise wieder aufgegeben werden (u.a. wurde damals die BahnCard50 abgeschafft. Sie musste 2003 wieder neu eingeführt werden).
Neue Hochgeschwindigkeitsstrecken erschließen oft Airports (z.B. Frankfurt/M, Düsseldorf und zukünftig Stuttgart). Die Folge: Die Investitionen in Hochgeschwindigkeit werden ad absurdum geführt, da es dadurch zu einer Verlangsamung kommt. ICE-Züge werden als Zubringer zum Flugverkehr eingesetzt.
An dem Fernbusbetreiber Flixbus ist neben internationalen Investoren auch Daimler beteiligt, Europas größter Bushersteller. Daimler und Porsche engagieren sich auf stark für das zerstörerische Projekt Stuttgart21.
SNCF: Der aktuelle SNCF-Reformplan wurde von dem ehemaligen Air France-Chef Jean-Cyril Spinetta erarbeitet. Der Mitte der 1990er Jahre an die Spitze von SNCF berufene Loik Le Floch-Prigent war zuvor Boss von Elf Acquitaine. Ihm folgte mit Francois Gallois ein Mann, der lange Zeit Airbus-Manager war – und der Ende 2006 an die Sputze von Airbus wechselte.
Der Unterschied
In Deutschland wurde der beschriebene Prozess des Niedergangs der Schiene bislang weitgehend ohne große Widerstände vollzogen. Mit drei Ausnahmen: Es gab einen erfolgreichen – zivilgesellschaftlichen – Widerstand gegen den Bahnbörsengang 2005-2008. Es gab heftige Gegenwehr der Bahnbeschäftigten im Nachtzugbereich gegen die dann im Dezember 2016 dennoch erfolgte Einstellung aller Nachtzüge der DB. Und es gibt bis heute einen wunderbaren Widerstand gegen das zerstörerische Großprojekt Stuttgart21 mit wöchentlichen Montagsdemonstrationen seit knapp acht Jahren.
In Frankreich gibt es seit vielen Jahren Massenstreiks gegen die Angriffe auf das System Schiene und auf die SNCF-Beschäftigten. Im Herbst 1995 kam es im öffentlichen Sektor mit Schwerpunkt Eisenbahnen zu Massenstreiks gegen „Reformpläne“ unter dem damals neu gewählten Staatspräsidenten Jacques Chirac. Die Regierung (mit Ministerpräsident Alain Juppé) musste klein beigeben.
In diesem Jahr streikten die französischen Eisenbahner seit dem 3. April nach „Fahrplan“ gegen die sogenannte Reform der SNCF.
Es wurden jeweils zwei Tage lang gestreikt, dann drei Tage gearbeitet. Dann wieder zwei Tage Streik und drei Tage Arbeit… usw.bis einschließlich dem 28. Juni. Für die Tage 2. Juli und 6. und 7. Juli sind zwar drei weitere Streiktage angekündigt. Sie werden allerdings nur noch getragen von CGT und Rail SUD (und vor allem nicht mehr von der CFDT, die aus der Streikfront herausgebrochen werden konnte).
Die Regierung hat hoch bezahlte Streikbrechertrupps eingesetzt. Zu berücksichtigen ist: In Frankreich gibt es kein Streikgeld; die Lohneinbußen müssen weitgehend von den Streikenden selbst getragen werden. Neu in diesem Jahr 2018 war: Als Resultat eines von Intellektuellen gestarteten Solidaritätsappells wurde ein Sonderfonds zur Unterstützung des SNCF-Streiks eingerichtet, in den binnen weniger Wochen mehr als eine Million Euro eingezahlt wurde. Dabei stehen die französischen Bahnbeschäftigten nicht allein.
Es gab parallel wichtige Mobilisierungen der Beschäftigten in den Krankenhäusern, in anderen Bereichen des öffentlichen Sektors und bei Air France. Auch gärte es an Unis und an Schulen; es gab mehrere Besetzungsaktionen.
In der Gesamtbilanz allerdings endet die Phase der Mobilisierungen gegen Macrons Politik vor der Sommerpause 2018 zunächst mit einem Sieg Macrons.
Während Macron in den deutschen Medien wie ein Superstar gefeiert wird, äußerten sich im Juni 2018 54 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen ablehnend gegenüber Macron; bei 44 Prozent erhielt er zustimmende Werte.
Zum Autor und Sachverständigen:
Winfried Maria Wolf ist Ökonom, Dr. phil., Verkehrswissenschaftler und Chefredakteur der Vierteljahresschrift Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie.
Er war von 1994 bis 2002 Mitglied des Bundestages (für die Fraktion der PDS, heute DIE LINKE) und dort verkehrspolitischer Sprecher. Wolf ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und Sprecher der Bahnfachleutegruppe “Bürgerbahn statt Börsenbahn”. Er ist Mitglied in der Dienstleistungsgewerkschaft verdi.
Wolf veröffentlichte rund ein Dutzend Bücher zu Thema Verkehr, Mobilität und Eisenbahn. Seine Publikationen ″Eisenbahn und Autowahn″ (1985, 1986 und 1992) und ″Verkehr. Umwelt. Klima -Die Globalisierung des Tempowahns (Wien 2007 und 2009) gelten als Standardwerke. 2014 erschien von ihm “Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform” (Stuttgart 2014; zusammen mit Bernhard Knierim). Im Januar 2018 erschien (in dritter und Neuauflage) sein Buch “abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands”. Im Mai 2018 erschien von Wolf die Schrift “Elektro-Pkw als Teil der Krise der aktuellen Mobilität”. Während der Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) 2014/2015 gründete Winfried Wolf zusammen mit anderen Aktiven die “STREIKZEITUNG: Ja zum Arbeitskampf der GDL – NEIN zum Tarifeinheitsgesetz”, die während des Arbeitskampfs mit fünf Ausgaben erschien.
Am 29. Mai 2018 sprach Winfried Wolf auf Einladung der Gewerkschaft CGT im Senat in Paris als Sachverständiger zum Vergleich deutsche Bahnreform und SNCF-Reform. Am gleichen Tag sprach er auf einer Kundgebung der CGT vor dem Senat.
Der vorliegende Text basiert in der Substanz auf dem Text, den der Autor am 29. Mai 2018 in Paris vorlegte. Er wurde am 28. Juni 2018 vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklung überarbeitet und aktualisiert.