blog 05: Atemlos – im dreifachen Würgegriff

Wirtschaftskrise. Jobkrise. Hegemoniekrise

Wenn Politiker den Eindruck erwecken wollen, sie könnten gegen den kapitalistischen Krisenzyklus etwas ausrichten, dann versuchen sie es mit markigen Sprüchen. In der ersten westdeutschen Nachkriegskrise 1967 ließen der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller und der damalige Finanzminister Franz-Josef Strauß großflächig plakatieren: „Der Aufschwung kommt“. Blickt man heute auf die damals als dramatisch empfundene Situation zurück, ist es ein Blick in die Puppenstube: Kurzzeitig war die Arbeitslosigkeit auf 674.000 hochgeschnellt, um bald wieder bei 240.000 zu verharren. In der Finanzkrise 2008 verkündeten der damalige Finanzminister Peer Steinbrück und die Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind.“ Blickt man heute auf diese Krise zurück, so erscheint auch diese eher im milden Licht. Die Arbeitslosenzahl betrug 2008, zu Beginn der Krise, 3,3 Millionen, die Quote lag bei 7,8 Prozent; 2009, auf dem Krisenhöhepunkt, waren es nur 100.000 mehr; 3,4 Millionen beziehungsweise eine Quote von 8,1 Prozent. Danach sank die Arbeitslosenzahl bis Ende 2019 auf weniger als 2,3 Millionen und 4,9 Prozent.


In der neuen Krise ist fast alles anders. Der Finanzminister Olaf Scholz blies binnen zehn Wochen bereits zwei Mal die Backen auf. Im März, als er bei der Vorstellung des ersten Corona-Hilfsprogramms behauptete: „Das ist die Bazooka“. Und Anfang Juni, als er bei der Vorstellung des neuen Konjunkturprogramms posaunte: „Das hat alles Wumms“. Der Mann wird in dieser Krise noch des Öfteren markig tönen müssen.1

Blickt man Mitte 2020 auf diese Krise, so hält man unwillkürlich den Atem an. Die Worte „I can´t breathe!“ des 2014 ermordeten Eric Garner und des 2020 ermordeten George Floyd erhalten eine zusätzliche Bedeutung. Die Weltwirtschaft und die Weltpolitik befinden sich in einem dreifachen Würgegriff.

Da ist als erstes die Tiefe der Krise. Die Weltwirtschaft – das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP) – wird in diesem Jahr um rund fünf Prozent, der Welthandel um zehn Prozent und die Weltindustrie um geschätzt 15 Prozent einbrechen. In Frankreich, Spanien, Italien und Griechenland wird dieser Einbruch jeweils zwischen 10 und 20 Prozent liegen – und diese vier Länder stehen für rund 50 Prozent des Euroraums. Auch in den USA droht ein Wirtschaftseinbruch von mehr als 10 Prozent. Strategische Branchen wie Autoindustrie, Flugzeugbau, Luftverkehr und der Tourismus sind existenziell bedroht. Das heißt: Hier drohen Großpleiten. Selbst wenn man die sehr reale Gefahr eines Finanzkrachs außen vor lässt, spricht viel dafür, dass diese Krise auch das Jahr 2021 prägen wird. Es gibt gewaltige Überkapazitäten, die erst noch abgebaut werden, es kommt zu einem enormen Nachfrageeinbruch als Folge der schnell steigenden Massenarbeitslosigkeit, die negativen Wirkungen der rückläufigen Exporte schlagen erst ab Mitte 2020 voll auf die gesamtwirtschaftliche Lage durch.2 Schließlich werden die Hoffnungen auf China weitgehend enttäuscht; dort gibt es 2020 eine Fast-Stagnation. Eine vergleichbar tiefe Krise gab es zuletzt 1930. Der wahre Charakter dieser Krise – und es ist primär eine klassische Wirtschaftskrise, die durch die Epidemie zugespitzt wird – wird noch verdeckt durch weltweite Rettungsprogramme in der bislang unvorstellbaren Höhe von mehr als 8 Billionen US-Dollar. Und natürlich gehen die Regierenden davon aus, dass diese Programme, die sich als Neuverschuldung von überschuldeten Staaten niederschlagen, von der Allgemeinheit – also mit noch brutaleren Sparprogrammen als bislang gehabt – zurückzubezahlen sind.3

Zweitens befindet sich die Welt im Würgegriff einer Massenerwerbslosigkeit, wie es eine solche ebenfalls nur Anfang der 1930er Jahre gab. Ende Mai schätzt die Weltarbeitsorganisation ILO, dass bis zu diesem Zeitpunkt durch die Krise weltweit bereits mehr als 310 Millionen Vollzeitjobs zerstört wurden. Das entspräche, so die ILO-Kalkulation, einem Einbruch der weltweit geleisteten Arbeitsstunden von 10,7 Prozent.4 Die Südländer der Eurozone werden im Herbst mit Arbeitslosenquoten von 20 und mehr Prozent geplagt sein. In Großbritannien sind im Juni sechs Millionen Beschäftigte „beurlaubt“. Wenn in Deutschland Ende 2020 nur ein Viertel der im Juni mehr als sieben Millionen Kurzarbeitenden in die Arbeitslosigkeit fällt, wird die offizielle Erwerbslosenzahl auf mehr als vier Millionen klettern. Oder nehmen wir ein Land, über das hier selten berichtet wird: In Israel stieg die Arbeitslosenzahl von 160.000 Anfang 2020 auf mehr als eine Million Mitte 2020, was einer Quote von 25 Prozent entspricht. In den USA sind zum selben Zeitpunkt 40 Millionen arbeitslos – dreimal mehr als Ende 2019. Die realistische Quote liegt bei 25 Prozent. Auch hier gilt: Das damit verbundene Elend wird erst im kommenden Herbst und Winter in vollem Umfang auftreten; aktuell sind es Ersparnisse, „Schutzschirme“, Kurzarbeitergelder und die saisonal positiven Faktoren, die abfedernd wirken.

Drittens befindet sich die Welt im Würgegriff einer aggressiven US-Politik, die sich in einem Handels- und Wirtschaftskrieg und vor allem in der größten Hochrüstung seit dem Höhepunkt des Kalten Kriegs niederschlägt. Diese Politik hat nur wenig mit Donald Trump und sehr viel mit dem Aufstieg Chinas zur führenden Wirtschafts- und Technologiemacht zu tun. Dieser Aufstieg wird mit der aktuellen Krise beschleunigt. Seit einem Jahrhundert sind die USA im Weltkapitalismus die hegemoniale Macht. Diese Hegemonieposition war – wie im 18. Jahrhundert die niederländische und im 19. Jahrhundert die britische – dreifach abgesichert: auf den Gebieten Währung, Wirtschaft und Militär. Auf wirtschaftlichem Gebiet liegt China heute vor den USA. Die Dominanz des US-Dollars hält noch an; sie könnte dann in Frage gestellt werden, wenn die neue Krise auf die Finanzwelt übergreift. Es bleibt die US-Vormachtstellung auf militärischem Gebiet. Die US-Regierungen haben in jüngerer Zeit alles getan, diese alles entscheidende Vormachtstellung zu verteidigen und auszubauen. Knapp 40 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben konzentrieren sich auf die USA. Und es geht längst um konkrete Kriegsvorbereitung. Der Ausstieg der USA aus allen wichtigen Verträgen, die ein neues Wettrüsten begrenzen, ist nicht zu übersehen. Mit der – unter US-Präsident Obama begonnenen – Modernisierung der Atomwaffen – auch der auf deutschem Gebiet lagernden – verfolgt die US-Regierung das erklärte Ziel, einen atomaren Krieg in einer aus Sicht des Pentagons „berechenbaren“ Form führen zu können. Längst richtet sich diese Hochrüstung nicht nur – und vielleicht nicht einmal vor allem – gegen die Atommacht Russland. Die US-Regierung zielt damit auf den Herausforderer China. Das kann zu größeren strategischen Umorientierungen führen – siehe Trumps Entscheidung, zum nächsten G-7-Gipfel Russland einzuladen. Dafür wird China als Feindbild aufgebaut. „Das chinesische Virus“ wird als Krisenauslöser identifiziert. Die – unzweideutig zu unterstützende – Demokratiebewegung in Hongkong wird seitens der US-Regierung instrumentalisiert. Und es sind die Demokraten und der Trump-Konkurrent Joe Biden, die Trump in seiner gegen die Volksrepublik China gerichteten Politik zu „110 Prozent“ (mathematisch ein Unfug, steht also metonymisch für: im Übermaß) unterstützen.

In einem weitsichtigen Interview äußerte der Historiker und Marxist Eric Hobsbawm: „Keiner kann wissen, wie wir aus der Krise herauskommen. […] Womöglich kann sich der Kapitalismus nur durch eine Riesenkatastrophe retten. [… ] Alles ist möglich. Inflation. Deflation. Hyperinflation. […] Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns […] auf eine Tragödie zubewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut. Das Leid der Menschen wird zunehmen, und die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde – zwischen den USA und China.“ Der damals 92-jährige Hobsbawm sagte dies 2009 – auf dem Höhepunkt der letzten Krise.5

Wir nähern uns mit Riesenschritten der Verwirklichung dieses Alptraums.

Anmerkungen:

1 Interview im Handelsblatt vom 4. Juni 2020.

2 Im April 2020 sanken die BRD-Exporte um 31,1% gegenüber dem Vorjahr – ein Negativ-Rekord.

3 Siehe die konkreten Angaben zu den Kosten der Rettungsprogramme und den Vergleich zu 2008/2009 auf S. 67.

4 ILO Monitor: COVID-19 and the world of work. Forth edition vom 27. Mai 2020. Die ILO geht dabei von 48-Wochenstunden-Jobs aus. Im Fall von 40-Wochenstunden-Arbeitsplätzen wären es laut ILO 365 Millionen zerstörte Vollzeitjobs.

5 Hobsbawm starb 2012. Interview in: Stern vom 13. Mai 20009. Für den Stern: Arno Luik. Korrekterweise sei darauf verwiesen, dass es Fred Schmid vom Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München war, der in einer ausgezeichneten isw-Analyse vom 28. April 2020 (China: vom Lockdown und Shutdown zum Neustart) das Hobsbawn-Interview anführt.

Der Beitrag erscheint als Printausgabe im neuen Heft 50 von LunaPark21