Vonovia – ein Wohnungskonzern im Deutschen Aktienindex DAX – Geschichte eines Aufstiegs

Im Frühjahr 2020 flog die Lufthansa aus dem deutschen Aktienindex (DAX). Im Jahr zuvor musste der deutsche Stahl- und Maschinenbaukonzern ThyssenKrupp diese Königsklasse verlassen. Neu in den DAX aufgenommen wurden 2020 hingegen der Wohnungskonzern Deutsche Wohnen und der Lieferservice Delivery Hero. 2015 war bereits der Wohnungskonzern Vonovia in den DAX aufgenommen worden. Damit verändert sich der Charakter des DAX immer mehr – und durchaus in dem Maß, wie sich der „moderne Kapitalismus“ verändert – weg vom produktiven Bereich, hinein in den unproduktiven, teilweise parasitären und spekulativen Sektor. Die Geschichte des Vonovia-Konzerns, die in diesem folgenden Beitrag dargestellt wird, beleuchtet diese Veränderungen – und welchen Motor diese oft haben, hier den Motor der Privatisierung von staatlichem Eigentum.

Ergänzende Notiz: Im DAX sind diejenigen Unternehmen, die an der deutschen Börse gelistet sind, zusammengefasst, die nach Börsenwerten die größten sind. Es zählen also nicht Umsatz, nicht Beschäftigtenzahl, ja nicht einmal der Gewinn, sondern ausschließlich der „Hoffnungswert“ der Aktienkurse bzw. die Multiplikation des Werts der einzelnen Aktie mit der Zahl der im Handel und Besitz befindlichen Aktien (= Börsenwert; Kapitalisierung). Weiterlesen.

Schon mal was vom Dax-Konzern Vonovia gehört? Immerhin eines der nach Umsatz dreißig größten Unternehmen in unserer Republik – in einer Liga mit VW, BMW, Daimler Siemens oder Bayer angesiedelt.

Am 21. September 2015 war es soweit. Der Dax – der Leitindex der Frankfurter Aktienbörse – wurde neu zusammengesetzt. Die Wohnungsgesellschaft Deutsche Annington, die bald darauf in Vonovia umbenannt wurde, stieg als erstes Immobilienunternehmen in den Dax auf. Gleichzeitig flog der Chemiekonzern Lanxess aus dem DAX heraus. Schließlich wird der Deutsche Aktienindex ausschließlich von den dreißig umsatzstärksten Unternehmen, die in Frankfurt am Main an der Börse notiert sind und dort gehandelt werden, gebildet. Wenn also einer neu in den DAX reinkommt, muss ein anderer raus. Damit schlägt sich seit diesem Datum der Immobilienboom in Deutschland auch im wichtigsten deutschen Börsen-Barometer, eben dem DAX, nieder.

Diese Veränderung kann man durchaus als typisch bezeichnen. Ein Industriekonzern fliegt aus dem Index, ein Konzern, der mit der Spekulation um Grund und Boden verbunden ist, steigt in diesen auf. Dies illustriert die Veränderungen in der Struktur des aktuellen Kapitalismus – weg vom produktiven Sektor und hin zu spekulativen Bereichen, so zu dem massiv mit dem Finanzkapital verbundenen Immobilien- und Wohnungssektor.

Doch wie kam Vonovia zustande – was ist die Vergangenheit dieses Riesens? Oder handelt es sich um einen Scheinriesen? Sicher ist, dass Vonovia kein natürlich gewachsenes Unternehmen ist. Der Wohnungskonzern ist noch keine zwei Jahrzehnte alt. Und er ist vor allem ein typisches Produkt der vom Staat und seinen Agenten betriebenen Privatisierungen.

Am Ursprung des neuen DAX-Konzerns stand die deutsche Bahnreform, also die Umwandlung der Staatsbahnen Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn in Deutsche Bahn Aktiengesellschaft. Diese führte nicht nur zu einer weitreichenden Umgestaltung des Verkehrssektors, mit einer fortgesetzte Schwächung der Schiene und einer Stärkung der Autobranche – ein Prozess, bei dem die drei aus der Daimer-Kaderschmiede stammenden Bahnchefs Heinz Dürr (1991-1998), Hartmut Mehdorn (1999-2009) und Rüdiger Grube (2009-2017) eine führende Rolle spielten. Es gab in diesem Zusammenhang auch ganz andere bedeutsame spin-offs. So lässt sich der britische Telekommunikationsriese Vodafone auf diesen Prozess zurückführen: über die Herauslösung der „bahneigenen Signalanlagen – BASA“ aus dem Bahnkonzern, die zu Mannsmann-Arcor wurden, worauf Mannesmann in einem spektakulären Wirtschaftskrimi an Vodafone verkauft wurde. Doch dazu ein anderes Mal. Hier soll es um Wohnungen und Vonovia gehen.

Es gab allein in Westdeutschland bis zur Bahnreform 1994 noch 112.000 Eisenbahnerwohnungen. In diesen lebten rund 350.000 Menschen. In den meisten Großstädten gab es einen festen Bestand an solchen Eisenbahnerwohnungen, die im Übrigen oft unter Denkmalschutz standen. Allein im Stuttgarter Norden waren es 4884 Wohnungen.

Und dann gab es einen erstaunlichen Vorgang im Deutschen Bundestag. Im 2. Dezember 1993 formulierte Klaus Daubertshäuser, der damalige verkehrspolitische Sprecher der SPD im Bundestag, bei der Bahnreform-Debatte im Bonner Plenarsaal den folgenden Treueschwur: „Ein ganz wichtiger Punkt ist […] die unbedingte Sicherung der Eisenbahnerwohnungen. Im Gesetz ist nun eindeutig festgestellt, dass der gesamte Wohnungsbestand […] in der Verantwortung der öffentlichen Hand nach den bisherigen Grundsätzen fortgeführt wird […]. Das heißt im Klartext: Kein Eisenbahner und seine Familie muss um seine Wohnung bangen.“ So festgehalten im Protokoll der Bundestagsdebatte vom 2. Dezember 1993 (Drucksache 16/957, S. 16962). Wobei der Redetext eine ziemlich klare Aussage enthielt – Weiterführung in der Verantwortung der öffentlichen Hand –, der entscheidende Gesetzestext jedoch an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ.1

Ein halbes Jahr nach dieser Rede war Herr Daubertshäuser Mitglied im Vorstand der neu gegründeten Deutschen Bahn AG; er nahm diese Position mehr als ein Jahrzehnt lang ein und erhielt in dieser Zeit – damals lagen die Vorstandsvergütungen noch niedriger als heute – von seinem Arbeitgeber Vergütungen in Höhe von umgerechnet mehr als fünf Millionen Euro. Das war rund das Zehnfache dessen, was er als bescheidener Abgeordneter erhalten hätte. Genau besehen handelte es sich dabei um eine eher bescheidene Investition in eine einzelne Person, die sich tausendfach rechnete. Sie rechnete sich für all diejenigen, die von der Bahnprivatisierung profitierten – und die Gewinne, die damit gemacht wurden, liegen im zweistelligen Milliarden Bereich. Wobei wir hier von Euro reden.

Die Investition rechnete sich auch für diejenigen, die im Bereich der Immobilien- und Wohnungsspekulation unterwegs waren. Denn sechs Jahre nach der zitierten Daubertshäuser-Rede war entgegen allen Versprechungen der gesamte Bestand an Eisenbahnerwohnungen privatisiert.

Das war der Ausgangspunkt für den erwähnten neuen deutschen DAX-Konzern, für das heute größte deutsche Wohnungsunternehmen, den größten privaten Vermieter in Deutschland, die Vonovia SE, die zuvor Deutsche Annington Immobilien SE hieß, die wiederum auf dem Unternehmen Annington Homes basiert, das ursprünglich von den japanischen Versicherungsriesen Nomura gegründet wurde.

Verwirrend ja. Daher im Einzelnen. Im Zuge einer frühen britischen Privatisierungswelle übernahm 1996 die für diesen Zweck neu gebildete Gesellschaft Annington Homes vom britischen Verteidigungsministerium 40.000 Wohnungen. Annington Homes war eine Tochter des japanischen Versicherungskonzerns Nomura. In Japan hatte es ein Jahrzehnt zuvor die Privatisierung der japanischen Staatsbahn Japan National Railways (JNR) gegeben, in deren Zusammenhang es zu einem massiven Anwachsen der Immobilienspekulation (und in den 1990er Jahren zum Zusammenbruch der gigantischen, spekulativen Blase in Japan) gekommen war. Nomura hatte also im eigenen Land bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt.

1998 wurden die deutschen Eisenbahner-Wohnungen noch unter der CDU/CSU-FDP-Regierung und dem damaligen Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann an ein Konsortium um die Familie Ehlerding vergeben. Die Ehlerdings hatten den Zuschlag erhalten, indem sie 5 Millionen DM an die CDU gespendet hatten (die in einem geheimen CDU-Konto versteckt worden war). Annington war damals bereits als Bieter und mit einem deutlich besseren Gebot präsent.

Als 1998 die SPD die Bundestagswahl gewonnen hatte und es zu der neuen rot-grünen Regierung kam, wurde der Skandal um die Ehlerding-Spende publik. Der Zuschlag an Ehlerding war noch nicht wasserdicht und mit der illegalen Spende ohnehin in Frage gestellt. Nun konnte die Deutsche Annington Immobilien Gruppe, eine neu gebildete Tochter der Briten und der Japaner, den größten Teil der Eisenbahnerwohnungen übernehmen. Interessanterweise war es der SPD-Politiker Franz Müntefering, der in seiner 11-monatigen Amtszeit als Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Oktober 1998 bis September 1999) maßgeblich zu diesem Mega-Deal beitrug. Dabei war zweifellos hilfreich, dass Kajo Wasserhövel, der langjährige Vertraute von Franz Müntefering, für Annington als Lobbyist tätig wurde. Ironie der (Wirtschafts-)Geschichte: 2005 prägte Müntefering für Gesellschaften wie Annington den Begriff „Heuschrecken“.

Gezahlt wurde damals von Annington im Übrigen ein Spottpreis von (umgerechnet) 32.735 Euro je Wohnung – ein Preis, zu dem die Mieterinnen und Mieter diese Wohnungen meist gerne selbst übernommen hätten, was ihnen jedoch nicht gestattet wurde.

Den entscheidenden Schritt zum führenden deutschen Wohnungskonzern unternahm Annington bzw. Vonovia 2015 mit der Übernahme des Konkurrenten Gagfah, was weitere 144.000 Wohnungen einbrachte. Aktuell hat Vonovia mehr als 400.000 Wohnungen im Bestand. Inzwischen nennt der Konzern als Ziel eine Million Wohnungen. Ihr Chef, Rolf Buch, wird als „deutscher Donald Trump“ bezeichnet. Das mag hinsichtlich der Größenordnungen einigermaßen übertrieben sein. Die Methoden, mit denen Vonovia arbeitet und vorgeht, rechtfertigen den Vergleich allemal. Hunderttausende Mieterinnen und Mieter können dazu ein Klagelied singen.

Vonovia im Dax wird gerne als Sonderfall vorgestellt. Tatsächlich wird der Aktienindex immer noch in starkem Maß vom produktiven Sektor, von der deutschen Industrie, bestimmt. 13 Industriekonzerne und ein Bauunternehmen bilden die stärkste Gruppe im Dax. Es sind dies vier Chemie- und Pharmakonzerne (BASF, Bayer, Beiersdorf und Merck), vier Großunternehmen der Autobranche (VW, BMW, Daimler, Continental), drei Elektrokonzerne (Siemens, SAP, Infineon), ein Stahlkonzern (ThyssenKrupp), ein Baustoffkonzern (Heidelberger Zement) und der Anlagenbauer Linde. Doch die zweitgrößte Gruppe besteht inzwischen bereits aus ehemals öffentlichen Unternehmen, die das Ergebnis der Privatisierung öffentlichen Eigentums sind. Es handelt sich um die sieben Dax-Konzerne Deutsche Post, Deutsche Telekom, E.on, Lufthansa, Pro 7/Sat 1, RWE und eben Vonovia. Erst nach dieser Gruppe folgt der Finanzsektor mit fünf Unternehmen (Allianz, Commerzbank, Deutsche Bank, Deutsche Börse, und Munich Re).

Dieser Artikel wurde 2017 geschrieben. Der erste Veröffentlichungsort ist unklar; eine Kurzfassung erschien in der Wochen Zeitung Unsere Zeit/ZU.

1 Dort heißt es im Eisenbahnneuordnungsgesetz (ENeuOG) in §15, Absatz 2: „Die in der Anlage zu diesem Gesetz aufgeführten übrigen betrieblichen Sozialeinrichtungen und die anerkannten Selbsthilfeeinrichtungen der bisherigen Bundeseisenbahnen werden für den Bereich des Bundeseisenbahnvermögens [bei dieser BEV handelt es sich um eine neue bundeseigene Gesellschaft, die direkt dem Finanzministerium unterstellt ist und in der u.a. auch die übernommenen Schulden von Bundesbahn und Reichsbahn konzentriert wurden; W.W.] aufrechterhalten und nach den bisherigen Grundsätzen weitergeführt.“ Im Anhang sind dann u.a. aufgeführt die „Eisenbahn-Wohnungsgesellschaften (EWG)“ und die „Eisenbahner-Baugenossenschaften (EBG)“. Die Formulierung „… wird für den Bereich des Bundeseisenbahn-Vermögens aufrechterhalten“ ist ausgesprochen vage.

Im übrigen werden im genannten Anhang zum ENeuOG auch aufgeführt: die Eisenbahner-Versicherungsgesellschaften DEVK und die bis dahin zum Bundesbahn-Bereich zählenden „Sparda-Banken – Verband der Sparda-Banken“. Es wäre höchst lehrreich, den gesamten Bestand dessen, was zu den Eisenbahnen zählte, aufzulisten und zu untersuchen,, was knapp 25 Jahre nach der Bahnreform daraus wurde bzw. welche privatkapitalistischen Unternehmen daraus entstanden.