Salisbury ist ein Test. Sarajewo war der Ernst. Der Fall Skripal

Oder: Wie Kriege im Kapitalismus entstehen

Der mutmaßliche Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny vom August 2020 wirft vergleichbare Fragen auf, wie es solche vor zwei Jahren beim Fall Skripal gab. Und es geht dabei immer um das alt-neue Feindbild Russland. Der nachfolgende Beitrag wurde im Sommer 2018 verfasst. Weiterlesen

In der Bundesrepublik Deutschland scheinen Krise und Elend für viele weit entfernt. Oder sie sind in das abgeschottete, unmenschliche Hartz-IV-System gebannt. Der Zustrom von Flüchtlingen ging massiv zurück. 2017 ertranken 5000 Menschen. Nicht in der Ostsee. Nur im Mittelmeer. Ein Krieg in Europa? Gar hierzulande? Für die Medien, die den Ton angeben, ist dies kein Thema. Selbst die Bundeswehreinsätze im Ausland, die im Übrigen eine deutliche Mehrheit ablehnt, scheinen weit entfernt. Und dennoch ist die Einschätzung richtig: Es besteht ernsthaft die Gefahr eines großen Krieges, der dann auch Europa erfasst. Diese Gefahr wurde bereits 2014/15 mit der Ukraine-Krise deutlich. Damals spürten das viele Menschen und gingen auf die Straße. Seither wurde diese Gefahr erheblich größer. Das wurde mit Salisbury verdeutlicht. Dafür sprechen auch die Drohgebärden im Wirtschaftsbereich und der beginnende Handelskrieg. Dafür spricht nicht zuletzt der systematische Umbau des Kabinetts von US-Präsident Trump hin zu einem Kriegskabinett.

Doch bislang spüren das nur wenige. Dabei ist die Kriegsgefahr umso größer, je kleiner die Friedensbewegung ist.

Wie ernst die Situation ist, zeigte in den letzten Wochen der Fall Skripal. Dabei liegt völlig im Dunkeln, was konkret am 4. März im britischen Städtchen Salisbury dem ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seiner Tochter Julia widerfuhr. Es gibt keine unabhängige Untersuchung. Keine eindeutigen Indizien. Die britische Regierung weigerte sich, eine Probe des verwendeten Giftes der beschuldigten russischen Regierung zu überstellen. Zwei wichtige Grundsätze wurden bei dem Vorfall außer Kraft gesetzt: „in dubio pro reo“, die strikt anzuwendende Unschuldsvermutung, solange es keinen Beweis gibt. Und „cui bono“ – Wem nutzt der Mordanschlag in Salisbury? Offensichtlich nicht Russland!

Stattdessen entwickelte sich der „Fall Skripal“ zur West-Ost-Konfrontation. Die britische Regierung wies 23 russische Diplomaten aus. London, Brüssel, Paris, Berlin und Washington praktizierten den Schulterschluss. Neue Sanktionen gegen Russland sind angekündigt. Heiko Maas, der neue deutsche Außenminister, erklärte, alles deute darauf hin, „dass es keine alternative plausible Erklärung dafür gibt, dass hier auch eine Mitverantwortung der russischen Seite besteht.“ Der Mann war Justizminister! Vor keinem seriösen Richter würde ein Staatsanwalt mit der Behauptung durchkommen: Wir haben zwar keinen Beweis, dass X der Mörder ist. Aber es gibt „keine plausible Erklärung für den Mord“.

Die britische Premierministerin Theresa May sah sich im Unterhaus, als sie ihren konfrontativen Kurs gegen Russland bekanntgab, mit kritischen Fragen des Labour-Oppositionsführers Jeremy Corbyn konfrontiert. Doch es gelang ihr, die Emotionen so hochzupeitschen, dass dessen Nachfragen in Sprechchören der Tories untergingen. May berief sich in ihrer Argumentation auf „Informationen unserer Geheimdienste“. Das ist famos – zumal, wenn es, wie hier, um Nervengas und Massenvernichtungswaffen geht! Es war der britische Geheimdienst MI6 und dessen damaliger Chef Richard Dearlove, die 2002 die „Beweise“ dafür geliefert hatten, dass Saddam Hussein weiterhin im Besitz von Chemiewaffen sei. Das war dann der Vorwand für die britische Regierung, mit den USA den Angriffskrieg gegen den Irak zu führen. Jahre später erwies sich: Es gab keine Beweise; das „Beweismaterial“ bestand aus plumpen MI6-Fälschungen.

Dabei gibt es seriöse Hinweise, dass die Urheber des Mordanschlags nicht in Russland zu suchen sind, sondern in Großbritannien aktiv sind. So befindet sich in Porton Down, unweit von Salisbury, eine geheime britische Forschungsanlage zur Analyse von Kampfstoffen. Belegt ist, dass britische und US-amerikanische Dienste über just das in Salisbury angewandte Nervengift Nowitschok verfügen. So nahmen 1999 US-Experten in Usbekistan (das bis 1991 Teil der Sowjetunion war) eine ehemalige sowjetische Forschungseinrichtung außer Betrieb, die just dieses Nervengift im Bestand hatte. Skripal hatte engen Kontakt zu einer privaten Geheimdienstorganisation mit Namen Orbis. An der Spitze dieser Organisation steht der ehemalige MI6-Agent Christopher Steele, der früher, als Skripal insgeheim für den britischen Geheimdienst arbeitete, der MI6-Führungsoffizier für Skripal war. Orbis wiederum gilt als Urheber wesentlicher Elemente der Kampagne, mit der Russland nachgewiesen werden soll, dass 2016 in der US-amerikanischen Wahlkampf zugunsten von Trump eingegriffen habe. All diese Informationen sind hochbrisant; sie werden längst in internationalen Medien ausgebreitet und geben Anlass für höchst unterschiedliche Spekulationen. Auf alle Fälle sollten sie Anlass sein, den Fall von einer unabhängigen Instanz untersuchen zu lassen.)

Doch das interessiert die Scharfmacher in London und Washington nicht. Und auch die Verantwortlichen in Berlin und Brüssel sind nicht bereit, diese Fakten zur Kenntnis zu nehmen und sich auf eine solche Untersuchung einzulassen. Die britische Regierung behauptet sogar ernsthaft, der Mordanschlag in Salisbury sei ein „bewaffneter Angriff eines feindlichen Staates“, weswegen militärische Maßnahmen „zur Selbstverteidigung“ ergriffen und die Nato-Partner zur „Solidarität“ aufgefordert werden könnten. Es war dann eher Zufall und Glück, dass bei einem Treffen der EU-Außenminister am 19. März der griechische und der österreichische Außenminister – aus höchst unterschiedlichen Interessenslagen heraus – eine direkte Schuldzuweisung an Moskau verweigerten. Noch gilt auf dieser EU-Ebene das Prinzip der Einstimmigkeit. Es gilt übrigens nicht mehr beim neuen EU-Hochrüstungspakt PESCO / SSZ, der „ständigen strukturierten Zusammenarbeit“, zu der sich im November 2017 23 EU-Staaten zusammenschlossen und dazu verpflichteten, ihre Rüstungsausgaben von Jahr zu Jahr zu erhöhen.

Erinnert sei an den 28. Juni 1914. Kaum jemand glaubte damals, dass die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch den 18jährigen bosnischen Serben Gavrilo Princip in Sarajewo, der Hauptstadt des von Österreich-Ungarn annektierten Bosnien und Herzegowina, den ersten großen Krieg mit 17 Millionen Toten auslösen würde, ein Weltkrieg, dessen Ende vor 100 Jahren wir in diesem Jahr begehen.

Salisbury = Sarajewo? Wohl (noch) nicht. Doch es war ein Test. Mit dem gezeigt wurde, wie weit die Kriegstreiber bereits gehen. Den Kriegstreibern wiederum wurde gezeigt, dass sie bereits sehr weit gehen können. Dabei geht es nicht allein darum, dass das Führungspersonal in London, Washington, Paris, Berlin und Brüssel zynisch und bereit zum Spiel mit dem Feuer ist. Es geht darum, dass dieses Personal letzten Endes nur scheinbar die große Politik bestimmt. Die Triebkräfte, die spätestens seit 2014 auf einen neuen großen Krieg orientieren, sind weit mächtiger und gefährlicher. Es sind derer drei:

Da ist erstens die gigantische Rüstungsindustrie: Diese entfaltet zunehmend eine innere Eigendynamik – und das nicht nur in den USA und Europa, sondern durchaus auch in China und Russland.

Da ist zweitens die atomare Gefahr: Derzeit modernisieren alle Atommächte ihre nuklearen Massenvernichtungswaffen. Indem sie Systeme entwickeln, die schneller zum Einsatz gelangen und „präziser“ treffen können, senken sie die Schwelle für einen atomaren Vernichtungskrieg.

Und da ist drittens das Prinzip der kapitalistischen Weltmarktkonkurrenz: Diese kann den aktuellen Handelskrieg in einen heißen Krieg umschlagen lassen. US-Präsident Trump hat zunächst allgemeine Strafzölle (vor allem für Stahl- und Aluminium-Importe) angekündigt. Dann nahm er Schritt für Schritt einzelne Länder und Regionen (so die EU) von den Strafmaßnahmen aus (und er dürfte noch weiteren Ländern – so Japan – Verschonung anbieten. Zurück bleibt vor allem China.

Diese Weltmarktkonkurrenz ist auch das treibende Motiv bei der Politik der militärischen Einkreisung, die der Westen gegenüber Russland und China betreibt. Da die – durchaus auch kapitalistischen – Länder Russland und China ihre Märkte weitgehend und teilweise erfolgreich abschotten (siehe Hannes Hofbauer in der neuen Lunapark21, Heft 41, Seite 12ff), da das Menschenpotential und die Ressourcen dort nicht den westlichen Multis zur gnadenlosen Ausbeutung zur Verfügung stehen, setzt der Westen auf militärische Bedrohung, auf Einkreisung und auf Hochrüsten. Und gegebenenfalls auf die Fortsetzung der Konkurrenz mit militärischen Mitteln.

Genau so war es 1914. Sarajewo war der Vorwand. Die Ursache für diesen (und für fast alle anderen Kriege) waren Kapitalismus, Konkurrenz, Profitmaximierung und Hochrüstung.

Erstmals erschienen auf der Website von Lunapark21 im März 2018