Alle sind überrascht: „Uups, der Winter kommt!“

Die zweite Welle der Epidemie war lange angekündigt

Keiner komme in der Corona-Debatte nochmals mit Verweisen der Art „… aber es gibt doch viel mehr Tote im Autoverkehr; und Autofahren wird ja auch nicht verboten…“ Dagegen ist zunächst einzuwenden, dass die Zahl der 1,2 Millionen Menschen, die weltweit jährlich im Straßenverkehr den Tod finden, auf einen Bruchteil reduziert werden könnte, wenn Sicherheitsstandards wie niedrige Tempolimits und strikte Begrenzungen bei PS-Zahl und maximaler Geschwindigkeit eingeführt, wenn also die individuellen Freiheiten Einzelner zur lebensgefährlichen Bedrohung der Gesundheit und des Lebens vieler eingeschränkt werden würden. Vor allem aber ist Ende 2020 deutlich, dass die Zahl der Corona-Toten deutlich über der Zahl der jährlichen Straßenverkehrsopfer liegt. Über den Jahresverlauf 1. März 2020 bis 28. Februar 2021 hinweg werden es – grob überschlagen – weit mehr als zwei Millionen Corona-Tote sein, doppelt so viel wie Straßenverkehrstote. Als Anfang 2020 einige Fachleute Vergleichbares vorhergesagt hatten, wurden sie in den Mainstream-Medien nicht ernst genommen. Dass es bislang nicht zu noch viel höheren Opferzahlen kam, hat einen einzigen Grund: die von Milliarden Menschen – meist freiwillig, oft auch als Resultat staatlichen Zwangs – befolgten Maßnahmen des social distancing retteten Hunderttausenden Menschen das Leben. Das lässt sich konkret an der Entwicklung der Zahl derjenigen, die an einer Corona-Infektion starben, dokumentieren.

Bis Mitte Dezember 2020 sind mehr als 1,5 Millionen Menschen aufgrund einer COVID-19-Infektion gestorben. Ich schreibe bewusst nicht „an und mit dem Virus gestorben“. Gemeint ist: Mindestens 1,5 Millionen Menschen starben bislang als direkte Folge einer Corona-Infektion (siehe Kasten). Und ich wähle auch bewusst die Zahl der registrierten Corona-Toten und nicht die Zahl der Infektionen, weil die Angaben für die Epidemie-Toten deutlich belastbarer sind. Allerdings sei darauf verwiesen, dass Millionen Menschen, die nach einer Corona-Erkrankung wieder genesen sind, aufgrund dieser Infektion für den Rest ihres Lebens mit oft erheblichen gesundheitlichen Schäden belastet sind.

Tabelle: Zahl der Corona-Toten im Zeitraum 31. März bis 30. November 2020 weltweit, in den USA, in der EU (ergänzt um Großbritannien, Norwegen und die Schweiz), in Lateinamerika, Indien, Iran und Russland – absolut und in Prozent der weltweiten Opferzahl [1]

* EU plus Großbritannien, Norwegen und Schweiz ** Mexiko, Mittelamerika, Karibik u. Südamerika *** 5-Tages-Durchschnitt

Die Corona-Toten-Zahlen sind ausgesprochen aufschlussreich.

Erstens Die Corona-Toten in der Tabelle addieren sich auf 1,3 Millionen oder 85,7 Prozent aller Corona-Toten weltweit. In diesen Ländern beziehungsweise Regionen leben gut drei Milliarden Menschen, was 39,1 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Auf knapp 40 Prozent der Weltbevölkerung entfallen demnach mehr als 80 Prozent aller registrierten Corona-Toten.

Zweitens Nimmt man nur die USA, Lateinamerika und die (um drei Länder ergänzte) EU so sind die Relationen nochmals extremer: In diesen „westlichen Regionen“ leben 1,4 Milliarden Menschen, was lediglich 18,5 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Dort wurden jedoch 1,1 Millionen Corona-Tote registriert, was 71,2 Prozent aller Corona-Opfer entspricht.

DrittensDie Zahl der weltweit registrierten Corona-Toten an einem einzelnen Tag (letzte Zeile in der Tabelle) hat sich – mit der Ausnahme des Zeitraums Ende Juli bis Ende September 2020 – kontinuierlich erhöht. Die jüngste hier dokumentierte Steigerung (Ende November gegenüber Ende September) ist die bislang größte. Die Dynamik der Pandemie ist nicht gebrochen; im Gegenteil. Der designierte neue US-Präsident Joe Biden sagte am 4. Dezember: „Ich will niemandem Angst einjagen, aber […] wir werden zwischen jetzt und Januar wahrscheinlich weitere 250.000 Menschen verlieren“.

Rückblende Frühsommer 2020

Die herrschende Epidemie-Politik in der EU – und durchaus auch in Berlin – hat in zwei Phasen komplett versagt. Zunächst in den ersten zehn Wochen des Jahres 2020, als die Epidemie in unverantwortlicher Weise verharmlost (Spahn im Februar: „Eine besonders milde Form der Grippe“) und keinerlei Vorbereitungen auf eine erste Welle ergriffen wurden.[2] Sodann nach dem ersten Lockdown, den es in unterschiedlicher Form in den meisten westeuropäischen Ländern gab. Die mit diesem Herunterfahren des öffentlichen Lebens verbundenen Restriktionen zeitigten zunächst ja durchaus Erfolge. Die Grafik mit dem Vergleich der Corona-Toten in Europa und den USA (wo es so gut wie keinen allgemeinen Restriktionen gab) verdeutlicht dies: Es gab eine rund zweimonatige Periode mit einem geringen Anstieg der Corona-Toten in Europa, sodass rund 100 Tagen lang die absoluten Zahlen in beiden Regionen auf vergleichbarem Niveau lagen. (Siehe die Tabelle Seite 7 und dort die grün unterlegten Zeitabschnitte).

[Senkrechte: Zahl der Toten // Waagrechte: Tage seit dem 100. registrierten Corona-Toten]

Doch auch diese zweite Chance wurde vertan. Es geschah nichts: keine Aufstockung des Personals in den Altenheimen und Krankenhäusern (die nicht besetzten Pflegestellen auf den Intensivstationen haben sich in den letzten drei Jahren verdreifacht![3]); die Schließung von weiteren sechzehn Krankenhäusern seit März 2020 (siehe S.37), keine relevante Verbesserung der Einkommen des Pflegepersonals, keine Abschaffung des Prinzips der Fallpauschalen in den Kliniken, kein ausreichender Ausbau des Testwesens, keine wirksamen Maßnahmen gegen die massenhaften Infektionen in den Fleischfabriken und im Logistikgewerbe, keine Anschaffung von mobilen, virustötenden Filter- und Lüftungsanlagen für die Schulen; es wurde sogar versäumt, über die Sommerferien hinweg flächendeckend in den vielen Zehntausenden Klassenzimmern, in denen die Fenster gar nicht geöffnet werden können, Maßnahmen für eine mögliche Frischluftzirkulation zu ergreifen.

Stattdessen wurde der Laschet-Söder-Merz-Wettbewerb mit Lockerungsübungen veranstaltet. Dabei hatten in Deutschland bereits am 28. April die Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen eine aufsehenerregende gemeinsame Stellungnahme mit dem Titel „Adaptive Strategien zur Eindämmung der Covid-19-Epidemie“ vorgelegt. Sie warnten dort davor, die einschränkenden Maßnahmen nach dem ersten Lock down zu früh aufzuheben. Das contact tracing müsse unbedingt systematisch betrieben werden, was bei einer zu hohen Anzahl von Ansteckungen nicht mehr möglich sei. Es brauche ein Ensemble ineinandergreifender Maßnahmen, um die Pandemie so stark zu reduzieren, dass jede einzelne Ansteckung erkennbar und nachvollziehbar werde.[4] Exakt das ist nicht passiert. Und dies ist der Kern der fortgesetzten Misere.

Für ein solches Verfolgen der Infektionsketten benötigt man ausreichend Personal. Und das fehlt konkret in den Gesundheitsämtern. Mehr noch: Die Beschäftigtenzahl in diesen Ämtern wurde in den letzten 30 Jahren halbiert. Seit Beginn der Epidemie wird dieses strategisch entscheidende Personal nicht in größerem Umfang aufgebaut. Der Einsatz von ungeschulten Bundeswehrsoldaten ist hilflos und oft wenig effektiv. Beispiel Gesundheitsamt Stuttgart. Dort waren 1990 insgesamt 293 Menschen weitgehend in Vollzeit beschäftigt. Im März 2020 waren es noch 158,7 Stellen, wobei ein Teil der Beschäftigten in Teilzeit arbeitet. Seither gab es Gemeinderatsbeschlüsse zur Personalaufstockung – um einmal zusätzliche 25 und einmal um weitere 20 – jedoch befristete! – Stellen. Doch selbst diese Aufstockung konnte bis Ende 2020 nicht komplett umgesetzt werden. Ein Grund dafür ist: Die Bezahlung ist unzureichend; beim medizinischen Personal liegt der Monatsverdienst um rund 1000 Euro unterhalb einer vergleichbaren Beschäftigung in einem Krankenhaus. Der Forderung von Verdi nach einer Ballungsraumzulage, um auf diese Weise wenigstens teilweise dem Problem gerecht zu werden, wurde nicht entsprochen. Der Leiter des Stuttgarter Gesundheitsamtes gestand daher bereits im November: „Das Infektionsgeschehen spielt sich mittlerweile teilweise außerhalb unseres Radar ab. […] Aktuell wissen wir bei 58 Prozent der Fälle nicht, bei wem die Menschen sich angesteckt haben. Im August lag dieser Wert bei 16 Prozent.“[5] Inzwischen gibt es Aussagen aus anderen Städten, wonach sich dort „das Infektionsgeschehen“ in mehr als 80 Prozent der Fälle „außerhalb des Radars“ des zuständigen Gesundheitsamtes abspielt.

Entsprechend gibt es in Deutschland – und so gut wie allen anderen europäischen Ländern – in den letzten Wochen des Jahres 2020 Negativ-Rekorde bei den Infektionen und den Corona-Toten. In vielen Altenheimen herrschen erneut katastrophale Zustände. Aus einem Heim in Bayern wird berichtet, dass man angesichts der Personalknappheit „angedacht hat, positiv getestete Pflegekräfte, die symptomfrei sind, arbeiten zu lassen. Aber nur infizierte Bewohner dürfen von ihnen betreut werden.“[6] Die Intensivbetten sind in Deutschland erneut, trotz Aufstockung, fast komplett belegt. Ähnlich sieht es anderswo aus. Am 17. November stellte die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin fest, dass im Nachbarland alle zertifizierten 876 Intensivbetten praktisch belegt sind. Sie empfahl allen Personen „sich im Rahmen einer Patientenverfügung Gedanken dazu zu machen, ob sie im Falle einer schweren Erkrankung lebensverlängernde Maßnahmen erhalten möchten oder nicht.“[7]

Wesentlich weniger Corona-Tote in großen Teilen von Asien und Afrika

In weiten Teilen von Afrika, in Australien und Neuseeland und in einer Reihe asiatischer Länder konnte die Epidemie weitgehend unter Kontrolle gehalten werden. Das steht in einem auffallenden Gegensatz zur beschriebenen Situation in den USA, in Lateinamerika und in Europa. Für zehn Länder haben wir diese erfolgreiche Politik auf den Seiten 6 und 7 mit konkreten Zahlen belegt. Das Argument „Das, was in China gemacht wurde, ist autoritär und mit einer offenen Gesellschaft nicht vereinbar“, wird bereits durch die Vielzahl von anderen – höchst unterschiedlichen – Ländern, die vergleichbar erfolgreich waren, relativiert. Wobei man sicher auch von der Art, wie in China die Epidemie erfolgreich eingedämmt wurde, Erkenntnisse gewinnen kann. Das angesehene Medizin-Fachblatt The Lancet brachte dazu einen analytischen Beitrag, in dem eine überwiegend positive Bilanz gezogen wird.[8] Auch zeigen die Beispiele Indien (Ende 2020 150.000 Corona-Tote) und Lateinamerika (500.000 Corona-Tote), dass die COVID-19-Epidemie im globalen Süden keineswegs generell eingedämmt ist. Hier ist nicht ausreichend Raum, um die erfolgreiche Politik zur Bekämpfung der Epidemie, die in einzelnen Ländern betrieben wurde, im Detail zu analysieren. Für das Beispiel Vietnam gibt es auf Seite 7 einige Hinweise. Zwei Aspekte scheinen jedoch in den meisten dieser Fälle eine wichtige Rolle zu spielen: Erstens gab es in allen diesen Ländern durchaus auch weitreichende Maßnahmen der „Sozialdistanz“. Dabei wurde meistens mit einem großen Einsatz an Menschen erreicht, dass das Infektionsgeschehen unter Kontrolle gehalten werden konnte. Der Virologe und Direktor der Afrikanischen Seuchenschutzbehörde, John Nkengasong, führte dazu aus: „Die community health workers kennen die Orte und die Menschen dort. Wir haben sehr früh dazu aufgerufen, eine Million von ihnen [Afrika-weit; W.W.] gegen die Pandemie einzusetzen. Wir haben sie geschult. […] Sie gehen nun von Haus zu Haus, um Informationen über  vorliegende Ansteckungen zu bekommen, Kontakte aufzuspüren. […] Das ist echte ´Schuhleber-Epidemiologie´“[9]

Zweitens gibt es in diesen Ländern meist eine weitreichende, gesellschaftliche Solidarität, die dazu beiträgt, dass die notwendigen Maßnahmen auf freiwilliger Basis und als Resultat individueller Einsicht umgesetzt werden. Die investigative Journalistin Gaby Weber machte im November einen aufschlussreichen Film zur Epidemie-Situation in Uruguay, einem Land, in dem es, in völligem Kontrast zu den Nachbarländern, bislang außerordentlich wenige Corona-Tote gab (bis Anfang Dezember waren es rund 80). In diesem Film gibt es mehrere Passagen, in denen interviewte Uruguayer darauf verweisen, dass die 15 Jahre mit einer linken Regierung, der Frente Amplio (sie wurde allerdings im März 2020 von einer konservativen Regierung abgelöst), und der in dieser Zeit erfolgte Aufbau eines flächendeckenden Netzes von dezentralen Gesundheitsstationen zu einem intensiven gesellschaftlichen Zusammenhalt beitrugen. Auch hätten sich die Menschen – ohne dass es in den ersten sechs Monaten der Epidemie Zwang und entsprechende Gesetze gab – strikt an „social distancing“ gehalten; es habe „faktisch einen Lockdown“ gegeben.[10]

Warum hat die zweite Welle freien Lauf?

Ende 2020 herrscht in den Kreisen der offiziellen Politik Verwunderung ob der neuen Negativ-Rekorde. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann bekannte Anfang November, mit dem neuen Anstieg der Infektionen „haben wir nicht gerechnet, das muss man schon ehrlicherweise sagen“. Zu Recht kommentierte dies Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), mit: „Ich habe den Eindruck, die Politik ist davon überrascht, dass der Winter kommt.“[11] Die Frage steht im Raum: Warum verfolgen die Kanzlerin und die maßgebenden Politiker diesen fortgesetzten, ermüdenden Zickzackkurs: Anfang des Jahres Laissez-faire, im Frühjahr Lockdown, im Frühsommer und Sommer der Wettbewerb mit Lockerungsübungen, dann Anfang November ein halber Lockdown, der jedoch Anfang Dezember – „nach Gutsherrenart“, wie Dietmar Bartsch (Die Linke) zu Recht kritisierte – nochmals bis Mitte Januar verlängert wird, wobei es jedoch an Weihnachten wieder Lockerungen – sogar mit umfassenden Hotel-Öffnungen in einigen Bundesländern – geben soll? Warum wurden erneut die Warnungen ignoriert, die die bereits zitierten außeruniversitären Forschungsorganisationen am 24. September in einer zweiten dringlichen Schrift publizierten?[12] Warum gibt es diese Dutzende sich widersprechende Regelungen, wo Theater und Kabaretts geschlossen, aber Kreuzfahrtschiffstouren erlaubt sind, wo Veranstaltungen trotz aller bestehenden Sicherheitskonzepte verboten, aber Gottesdienste weitgehend ohne Auflagen erlaubt sind, wo es im privaten Bereich erhebliche Einschränkungen gibt, in der Produktion und bei den Dienstleistungen jedoch selbst dann weiter gewirtschaftet wird, wenn ein größerer Teil der Belegschaft – beispielsweise bei Amazon in Graben bei Augsburg – mit dem Corona-Virus infiziert ist.[13] Warum gibt es keine Best practice-Politik mit Anleihen dort, wo die Epidemie erfolgreich in Schach gehalten wird und wo als Resultat dieser Politik die Menschen längst wieder weit größere Freiheiten genießen als hierzulande?

Die Antwort lautet: Die Politik orientiert sich in der gesamten Zeit in erster Linie an den Vorgaben der Wirtschaft. Wenige Tage vor den Beschlüssen über den zweiten „halben Lockdown“ veröffentlichte der mächtige Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine Erklärung, die die Corona-Leugner erfreut haben dürfte und in der es heißt: „Trotz der sprunghaft gestiegenen Corona-Virus-Infektionszahlen appelliert der BDI […], von einem erneuten generellen Herunterfahren der deutschen Wirtschaft abzusehen.“ Der BDI-Präsident Dieter Kempf „mahnte“ in diesem Zusammenhang „die Bürger zu Eigenverantwortung: Sie könnten mit diszipliniertem Verhalten vermeiden, […] wirtschaftliche Aktivität zu gefährden. Auf diese Weise könnten die Bürger auch für den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes sorgen.“[14]

Damit gab der Industriellenverband die Marschroute vor: Einschränkungen im Produktionsprozess und beim Konsum – letzteres betrifft vor allem den Konsum, der in den großen Einkaufszentren und bei denjenigen Firmen, die auch übers Internet liefern, stattfindet – soll es möglichst wenige geben. Faktisch hangelt sich die Politik immer entlang eines Infektionsgeschehens, das gerade noch so unter Kontrolle gehalten werden kann – oder auch mal nicht mehr. Im Grunde orientiert diese Politik einerseits darauf, dass auf diese Weise irgendwann eine Herdenimmunität – die ausreichend große Durchseuchung der Bevölkerung – erreicht sein könnte. Andererseits soll ab Anfang 2021 das große Impfen stattfinden, sodass man im Frühsommer 2021 wirtschaftlich wieder durchstarten kann. Im Übrigen wird eine Position wie diejenige des BDI weltweit in vergleichbarer Weise von allen großen Unternehmen und Banken und deren Interessensverbänden eingenommen. Als Ende April in Kalifornien nach einer enormen Steigerung der Zahl der Corona-Toten Ausgangsbeschränkungen und Produktionseinschränkungen in Kraft traten, wetterte der Tesla-Cef Elon Musk: „Das ist Faschismus“.[15]

Im Übrigen kann man eine kühle Rechnung wie folgt aufmachen: Der Corona-Tod von rund zwei Millionen Menschen, von denen sich eine Mehrheit im Rentenalter befindet, entlastet die verschiedenen privaten und öffentlichen Kassen für Altersversorgung weltweit mit weit mehr als 100 Milliarden Euro.[16] Selbstverständlich ist dies kein konkretes Ziel der Corona-Politik, jedoch ein interessanter Mitnahmeeffekt.

Große dürfen saufen – Kleine lässt man ersaufen

Die Corona-Epidemie trifft vor allem prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Obdachlose, Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen und wenig Möglichkeiten für Home Office und Erholung im Grünen. Nicht zufällig gelangt eine neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu dem Ergebnis, dass sich diese besonders Betroffenen „im Durchschnitt empfänglicher für Verschwörungsmythen zur Pandemie zeigen.“[17]

Die konkrete Corona-Politik ist deutlich auf die Interessen der großen Unternehmen ausgerichtet; Kleingewerbe, die Bereiche Kunst und Kultur, Bildung, Ausbildung und Schulen, Gastronomie, inländischer Tourismus und kleine Einzelhändler sind von den Krisenfolgen existenziell betroffen; eine Welle von Hunderttausenden Insolvenzen droht. Dabei ist dies keineswegs objektiv bedingt – Geld ist genug da. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Beispiel 1. Die Bundesregierung hat in mehreren Tranchen an die Lufthansa und an den Touristik-Konzern TUI rund 18 Milliarden Euro an Unterstützungsgelder bezahlt. Lufthansa und TUI waren bis Anfang 2020 hochprofitabel. Faktisch konserviert die Politik auf diese Weise Strukturen, die klimapolitisch hochproblematisch sind und die perspektivisch auch aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht massiv reduziert werden müssen. Nun sind bei Lufthansa und TUI heute nur noch 180.000 Menschen beschäftigt. Das gesamte Gastgewerbe in Deutschland mit rund 200.000 Unternehmen beschäftigt jedoch zehn Mal mehr Menschen. Mit den Lufthansa-TUI-Subventionen könnte man den gesamten Gastgewerbe-Sektor mit seinen zwei Millionen Beschäftigten mehr als ein Vierteljahr durchfinanzieren.

Beispiel 2. In Deutschland gibt es inzwischen 2,1 Millionen Menschen, die über ein privates Vermögen von mindestens einer Million US-Dollar verfügen. Im neuesten Global Wealth Report wird konstatiert, dass sich dieses Vermögen sogar im Corona-Krisenjahr erhöht hat.[18] Das addierte Vermögen dieser Dollar-Millionäre beläuft sich nach diesem Report auf 14,8 Billionen US-Dollar; umgerechnet sind dies gut 12 Billionen Euro. Würde man lediglich verlangen, dass auf drei Jahre der durchschnittliche Gewinn von fünf Prozent, der mit diesem Vermögen im Minimum erzielt wird, durch eine Vermögenssteuer abgeschöpft wird, dann ergäbe dies drei Mal 600 Milliarden oder 1,8 Billionen Euro Sondereinnahmen der öffentlichen Hand. Das ist ein Vielfaches aller bisherigen Kosten, die die Corona-Krise bislang verursachte hat.

Eine solche Forderung ist angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse unrealistisch, jedoch nach drei Jahrzehnten Umverteilung von unten nach oben absolut gerechtfertigt. Sie müsste von einem breiten linken und gewerkschaftlichen Bündnis in einer Kampagne propagiert werden. Stattdessen erleben wir Diskussionen darüber, wie nach der Bundestagswahl 2021 die Corona-Schulden durch Steuererhöhungen, höhere Beiträge und Rentensenkungen finanziert werden sollen (siehe S.22).

Bilanz: Die Regierungen der westlichen Welt haben in der Corona-Epidemie auf ganzer Linie versagt. Das zeigen Vergleiche der Situation in den USA, in Lateinamerika und in den meisten Ländern Westeuropas mit vielen Ländern in Asien und Afrika. Sie sind mitverantwortlich für den Tod von Hunderttausenden Menschen und für schwere gesundheitliche Schäden, die Millionen Personen erlitten haben. Diese Regierungen sind dabei auch 2021 zu versagen, indem sie sich bei den Massenimpfungen der Orientierung der Pharmalobby am maximalen Gewinn je Impfdosis unterwerfen. Das Handeln der westlichen Regierungen hat in erster Linie den Nenner: Gesunde Gewinnmargen haben Vorrang vor der menschlichen Gesundheit. Profit geht vor Mensch.

Anmerkungen:

[1] Angaben nach der Johns Hopkins University; und: www.worldometers.info/coronavirus/

[2] Siehe ausführlicher in Lunapark21, Heft 50, S.33ff und bei Verena Kreilinger / Winfried Wolf / Christian Zeller, Corona, Kapital, Krise, Köln 2020, Seite 163ff.

[3] 2011 gab es „nur“ 1200 „nicht besetzte Pflegestellen auf Intensivstationen“ in Deutschland; 2020 waren es 4700. Quellen: Divi-Intensivregister; Der Spiegel 46/ 7.11.2020.

[4] Kleiner, Matthias; Neugebauer, Reimund; Stratmann, Martin und Wiestler, Otmar D., Strategien zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie. Eine Stellungnahme der Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen, 28. April 2020, Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V., Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V., Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V.

[5] Interview mit Stefan Ehehalt, Leiter des Stuttgarter Gesundheitsamtes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. November 2020.

[6] Das Virus ist zurück in den Heimen, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. November 2020.

[7] SGI (2020): COVID-19: Vollständige Auslastung zertifizierter und anerkannter Intensivbettenkapazitäten (2), 17. November 2020, Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin.

[8] Talha Burki, China´s succesful control of Covid-19, in: The Lancet vom 8. Oktober 2020. Die Autorin betont u.a. das „breite Engagement der Bevölkerung“ und die „beispiellose Solidarität“, die es bei der Bewältigung der Epidemie in China gegeben habe.

[9] „Wir haben harte Lektionen gelernt“, Interview mit dem Direktor der Afrikanischen Seuchenschutzbehörde, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.11.2020.

[10] Gaby Weber, Uruguays Weg zwischen Darwinismus und Käfighaltung, November 2020, siehe: Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=88TYp_gC3FM

[11] In: Der Tagesspiegel vom 14. November 2020.

[12] Stellungnahme der Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen zur COVID-19-Epidemie vom 24. September 2020; Autoren und Institutionen wie oben in Fußnote [4].

[13] Laut Gewerkschaft Verdi sind 300 der 1800 Beschäftigten in dem Amazon-Werk in Graben bei Augsburg mit dem Virus infiziert. Süddeutsche Zeitung vom 4.12.2020.

[14] Nach: BDI-Erklärung vom 23. Oktober 2020.

[15] Nach: Die Welt vom 30. April 2020.

[16] Von den zwei Millionen Corona-Toten, die es bis Februar 2021 absehbar gibt, lebten rund 1,75 Millionen in westlichen Gesellschaften mit Systemen der Renten- und Altersversorgung. Gut 70 Prozent von ihnen oder 1,2 Millionen befanden sich zum Zeitpunkt ihres Todes im Rentenalter. Wenn wir nur ein durchschnittliches monatliches Renteneinkommen von 900 Euro unterstellen, dann ergibt dies mehr als eine Milliarde Euro im Monat bzw. gut 12 Milliarden Euro in Jahr an entfallenden Rentenzahlungen. Im Durchschnitt hatten die Betroffenen noch mindestens zehn Jahre Lebenszeit vor sich gehabt. Was 120 Milliarden Euro ausmacht.

[17] Wer Einkommen verliert, ist besonders empfänglich für Pandemie-Verschwörer, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.11.2020; auch: Der Spiegel vom 29. Oktober 2020.

[18] Börse ARD vom 22. Oktober 2020. https://boerse.ard.de/anlagestrategie/vorsorge/trotz-corona-mehr-millionaere-in-deutschland100.html