Die Debatte zur Kampagne „Zero Covid“ innerhalb fortschrittlicher und linker Kreise

Berlin, 18. Januar 2021

Auf unseren ZeroCovid-Aufruf und auf eigene Diskussionsbeiträge zum Thema innerhalb linker Kreise – so im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und seitens linker Gruppen – erhielten wir ein Dutzend sehr unterschiedliche Antworten: viel Zustimmung und auch durchaus viel Kritik. Es macht Sinn, auf diese Debattenbeiträge – hier nach 16 Themen geordnet – einzugehen. Wir wollen keinen Anlass für die Behauptung bieten, der Diskussion, die unsere Kampagne „Zero Covid“ ausgelöst hat, ausgewichen zu sein.

1. Die Institutionen und die Zahlen

In einigen Beiträgen wird das Robert Koch Institut, die Johns Hopkins University und die „durchprivatisierte Charité“  zu den „wichtigsten virologischen, politischen  usw. Tätern“ gerechnet.  In einem Beitrag wird gesagt, dass es „schwer fällt“, „diesen Institutionen […] auch nur eingeschränkt zu vertrauen“. Von daher werden oft die Statistiken usw., die von diesen Institutionen kommen, generell in Frage gestellt. 

Auf mein differenziertes Eingehen auf diese Institutionen (diese Kritik sei im vergangenen April wichtig gewesen; siehe die RKI-Studie zur Risikoanalyse; siehe das anfängliche Leugnen oder Herunterspielen der Corona-Gefahr usw.) wurde in weiteren Debattenbeiträgen unterstrichen, ich könne, solange ich die „großkapitalistisch finanzierten … Institutionen nicht (kritisiere), das […] vorherrschende Pandemie-Management nicht erfassen.“

Demnach gibt es bei diesen Kritikern ein „Pandemie-Management“, hinter dem die großen Kapitalinteressen stehen. Und alles, was diese Institutionen an Rat, Zahlen, Studien etc. liefern, sollte man in Frage stellen – ja, man müsse dies tun – man könne diesen „nicht einmal eingeschränkt vertrauen“.

Das ist eine katastrophale und blinde Sichtweise. Und es ist auch just das, was die Corona-Leugner vertreten – und womit abstruse und inhumane Praktiken und Folgen verbunden sind bzw. gerechtfertigt werden. Ich habe in der Praxis und mit Artikeln (so in der Zeitung FaktenCheck:CORONA) und mit unserem Corona-Buch[1] klar gestellt, welchen Charakter der Gesundheitssektor in Deutschland hat. Welche Rolle die Privatisierungen hier spielen. Dass und wie das RKI Anfang 2020 versagte. Ich betone in einem neuen Beitrag auch, dass das RKI einen Namensgeber hat, der für Menschenversuche in Afrika verantwortlich ist und mit als erster geplant, hat, bereits damals so bezeichnete Konzentrationslager in großem Maßstab in den deutschen Kolonien einzurichten (wobei er nicht wissen konnte, in welcher Weise später die Nazis KZ einsetzen würden). Es ist, so die Schlussfolgerung von mir, zu debattieren, inwieweit ein medizinisches Institut in unserem Land, das sich auf die Demokratie verpflichtet hat, diesen Mann als Namenspatron haben kann.[2]

Dennoch ist es falsch, pauschal diese Institutionen als „Täter“ hinzustellen, pauschal deren wissenschaftliche Ergebnisse in Frage zu stellen. Das ist vergleichbar blind wie die Behauptung, den Statistiken und Aussagen des Kraftfahrzeugbundesamtes oder denen des Statistischen Bundesamtes oder allen WTO-Studien könne man nicht einmal „eingeschränkt vertrauen“. Man muss diese Zahlen und Materialien dieser Einrichtungen IMMER kritisch prüfen. Sie sind jedoch im Wesentlichen auch nützlich. Und im vorliegenden Fall ist das Gegenteil des Behaupteten Realität. Das RKI, die Charité oder Spahn & Co. haben als staatstragende Institutionen und staatliches Personal doch gar kein Interesse daran, die Realität in der gegebenen Dramatik darzustellen und den Leuten reinen Wein einzuschenken. Diese haben doch von Januar bis März 2020 die Epidemie VERHARMLOST. Sie haben noch in den Monaten Juni bis Oktober geblubbert, man erreiche bald wieder Normalität und werde fröhliche Weihnachten feiern….

Warum taten sie das bloß? Eben WEIL sie wesentlich von Kapitalinteressen gesteuert sind! Und weil es NICHT im Kapitalinteresse ist, die Wahrheit durchdringen zu lassen. Weil es im Interesse dieser Leute und Institutionen ist, zu erklären, man müsse halt „mit dem Virus leben“. Wobei dann der famose Herr Schäuble behauptet, es existiere weit oberhalb des Rechts auf körperliche Unversehrtheit ein Verfassungsrecht auf WÜRDE – was unwahr ist. Just diese kriminelle Bürgerhaltung bekam ich im humanistischen Gymnasium eingetrichtert: „Dulce et decorum est pro patria mori Es ist süß und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben.“

Bilanz: Die genannten offiziellen Institutionen (RKI; JHU; WHO; Spahn & Co.) sind kritisch zu sehen. Doch sie liefern auch wichtige Fakten, mit denen wir arbeiten müssen und argumentieren können.

2. Die Debatte um das „an und mit“ (Corona gestorben)

Es gibt hier bei der Bezeichnung der Corona-Toten die Relativierung „an und mit Corona“. Tatsächlich sagt niemand, es gäbe Menschen „die an und mit Krebs gestorben“ sind. Oder ändern wir jetzt die Statistik der Krebstoten? Oftmals sind es die gleichen Leute, die die Corona-Toten in Frage stellen und die auf dem „an und mit“ bestehen, die diesen Zahlen die „Grippe-Toten“ in den Jahren 2015 bis 2019 gegenüberstellen. Hier sprechen sie dann nicht von Leuten, die „an und mit Grippe gestorben“ sind.

Hoch interessant ist in diesem Zusammenhang die Statistik zu den Straßenverkehrstoten. Hier ist es die Autolobby, die hier eine interessante Relativierung DURCHGESETZT hat, um die Opfer des Straßenverkehrs zu schmälern und teilweise zu leugnen: Man zählt nur bis zum Tag 30 nach einem schweren Straßenverkehrsunfall. Danach starb man nicht einmal „an und mit einem Autounfall“. Sondern eben an Herzversagen, an einem Kreislaufkollaps usw.

Es ist doch UMGEKEHRT. In Italien wurde für die Monate März und April 2020 – und dies für 1689 Gemeinden! – festgestellt, dass die offizielle Zahl der Corona-Toten deutlich untererfasst worden ist.[3] Das ist weltweit der „Normalfall“:

Die VR China musste rund 1000 Corona-Tote in der Statistik „nachreichen“. Russland hat Ende Dezember 2020 eingestanden, nur EIN DRITTEL der tatsächlichen Corona-Toten genannt zu haben; es seien Ende Dezember 2020 186.000 Corona-Tote gewesen – anstelle der bislang gemeldeten knapp 40.000. In Brasilien wurden die Corona-Opferzahlen ebenfalls mehrmals nach oben korrigiert.

Festzustellen ist: ALLE Staaten der Welt führen vergleichbare Corona-Toten-Statistiken. ALLE Staaten der Welt und ALLE dort verantwortlichen obersten Gesundheitsinstanzen und die Weltgesundheitsorganisation WHO betrachten diese Corona-Tod-Definitionen als valide. NIEMAND in diesen Positionen zweifelt grundsätzlich diese Corona-Statistiken an. Es
ist ausgesprochen unernst, wenn hierzulande Fachfremde, im teutschen Mußtopf sitzend,
sich anmaßen, solche Erkenntnisse auf Basis von „Haste-nich-gelesen“ in Frage zu stellen.

Bilanz: Die Menschen, die „an und mit einer Corona-Infektion“ starben, können angesichts der realen Untererfassung derjenigen, die Opfer der Pandemie wurden, als „Corona-Tote“ bezeichnet werden. Vergleichbare Unschärfen gibt es auch bei den gängigen Kategorisierungen wie „Krebstote“, Grippetote“ usw. – ohne das je jemand diese Kategorisierungen in Zweifel gezogen hätte.

3. „Aber es gab doch keine Obduktionen“ – Und: „Es sterben doch vor allem Leute mit Vorerkrankungen“

Ab und an gibt es immer noch den Verweis auf eine Debatte, die vor allem im April und Mai 2020 geführt wurde. Damals erregte der Pathologe Püschel Aufsehen. Er behauptete, es würden keine Obduktionen gemacht; es sei höchst unklar, an was die Menschen, die als Corona-Tote geführt werden, wirklich gestorben seien. Schließlich hätten doch viele von ihnen „Vorerkrankungen“ gehabt.

Diese Debatte sollte sich eigentlich erledigt haben. Zu verweisen ist hier auf die DEZEMBER-Recherche des Redaktionsnetzwerks Deutschland zu diesem Thema. Danach lässt sich
sagen, dass sich aus den vorliegenden detaillierten Berichten der Bundesländer ergibt,
dass um die 90% der „an und mit Corona“ Verstorbenen nach der
Entscheidung der jeweils behandelnden Ärzte DIREKT als Folge einer
Corona-Infektion und damit an Corona selbst gestorben sind. Das Bundesland, das dazu die
umfassendste Untersuchungen anstellte, und das wohl alle „Corona-Tote“ obduziert, ist danach Hamburg. Dazu schreibt das Netzwerk: „Bei bisher 449 rechtsmedizinischen Untersuchungen (Stand 11.12.) in Hamburg sei in insgesamt 405 Fällen die Covid-19-Erkrankung als „sicher todesursächlich“ festgestellt worden. Hamburg selbst veröffentlicht nur diese, eindeutig bestätigten Fälle.“ Das sind dann 90,2%.[4]

Bilanz: Belegt ist selbst dort, wo Obduktionen bei Corona-Toten einigermaßen flächendeckend durchgeführt wurden, dass in rund 90% der Fälle die jeweilige Infektion mit dem Corona-Virus direkt ursächlich verantwortlich für den Tod war.

3. „Die Wissenschaft“

In einigen Debattenbeiträgen wurde behauptet, „die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft“ habe in dieser Pandemie „extrem gelitten“, die „VirologInnen“ hätten sich „untereinander zerstritten“, die „Wissenschaft“ sei „im Angesicht einer großen Bedrohung […] weitgehend außerstande, fachübergreifend neues Wissen zu generieren und zur Beratung bereitzustellen“. Besonders hervorgetan hat sich in dieser Hinsicht der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck. Er schrieb in einem viel beachteten FAZ-Beitrag Mitte Januar 2021: „Fact are facts´. Hieß das mal, als es um den Klimawandel ging. Aber welche ´science´? Als Wissenschaftler kann ich da nur fragen: Seit wann denn das? Welche erkenntnistheoretischen Kurse kann jemand besucht haben, der so etwas auf ein Poster schreibt? […] Für die Pandemie zuständig sind nach allgemeiner Auffassung die Virologen; deren Fakten handeln von der molekularen Struktur der Viren, aber nicht von der sozialen Struktur menschlicher Kontakte.“[5]

Auf die sozialen Folgen der Pandemie soll noch eingegangen werden. Hier ist aber darauf zu bestehen, dass eine Pandemie nicht primär eine soziologische Angelegenheit ist. Natürlich hat diese gesamtgesellschaftliche Bedeutung und eine Antwort darauf muss eingebettet sein in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Doch die Wissenschaft der Virologie und Epidemiologie ist von enormer Bedeutung, wenn man COVID-19 verstehen und wirksam bekämpfen will. Einen vergleichbaren Prozess des Verstehens der Bedeutung einer spezifischen Wissenschaft machte die Menschheit – und machte die Linke – in der Klimadebatte durch. Und wir haben dabei zur Kenntnis genommen, dass Klimatologie eine wichtige Wissenschaft ist, deren Erkenntnisse zwar zu debattieren sind, deren Erkenntnisse jedoch schlussendlich entscheidend waren und entscheidend sind.

Dabei gibt es in „der Wissenschaft“ immer einen fortwährenden Prozess der Weiterentwicklung, von neuen Erkenntnisse, und einer kritischen Reflektion. So ist das Wissen um Epidemien und Pandemien ein paar hundert Jahre alt. Es hat sich stets weiter entwickelt. Es kann aber doch – auf Grund der schrecklichen Erfahrungen, die die Menschheit mit Epidemien machen musste – als relativ profund gelten.

Nach dem Ausbruch von SARS vor gut 15 Jahren gab es Dutzende Studien, in denen die Gefahr einer Epidemie wie der nun vorherrschenden vorhergesagt wurde. Und es war nicht zuletzt das RKI, das diese Gefahr in der viel zitierten Risiko-Studie vor fast einem Jahrzehnt und im Auftrag des Bundesgesundheitsministerium analysierte – und in dieser Studie auch vorgab, wie man der Gefahr einer solchen Epidemie vorbeugen müsste. Wobei dann das RKI am Ende eben dies nicht veranlasste bzw. die Politik nicht bereit war, das Erkannte auch umzusetzen. Anfang 2020 tappte das RKI fast blind durch die Landschaft; es waren eher andere, die diese Institution an die eigenen Vorarbeiten erinnern mussten.

Klar war immer auch, dass eine Pandemie, wenn sie denn für das menschliche Leben gefährlich ist, solange, wie es keine geeignete, wirksame medikamentöse Behandlung und keinen Impfstoff gibt, nur durch „klassische Maßnahmen“ der Identifizierung und Eindämmung gestoppt werden kann. Diese Erkenntnis wurde insbesondere als Lehre aus SARS gezogen und u.a. festgehalten in einem WHO-Buch mit dem Titel „SARS. How a global epidemic was stopped“. Darin wird festgestellt: „Während die moderne Wissenschaft eine wichtige Rolle bei der Analyse des Virus […] spielte, spielte keine der top-modernen Instrumente eine wichtigere Rolle bei der Eindämmung von SARS. Als wichtigste Strategien zur Kontrolle von SARS erwiesen sich die Strategien zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit AUS DEM 19. JAHRHUNDERT: die Kontaktpersonen ausfindig machen und alle Kontakte nachvollziehen, Quarantäne und Isolierung.“[6]

An dieser Grundaussage, die ja faktisch auf halbe und schärfere Lockdowns bis auf Shutdowns hinausläuft, hat sich nichts geändert. Diese wird in allen Erdteilen von allen Virologen und Epidemiologen (mit den paar Ausreißern, die es immer gibt, wie wir es ja auch im Fall der KLIMAerwärmungsleugner sehen) so anerkannt. Das ist so in Peking und in Washington, in Canberra und Stockholm, in Havanna und in Dublin: Überall wird das bei 99,9% der Virologen usw. so gesehen. Sicher auch bald in Minsk und Pjöngjang.

Und so gab es bereits im April die gemeinsame Stellungnahme der vier Wissensgesellschaften in Deutschland, in der vor einer massiven zweiten Welle gewarnt und eine systematische Politik der EINDÄMMUNG gefordert wurde. Dieselben vier Einrichtungen meldeten sich im Oktober ein weiteres Mal eindringlich in derselben Tonlage zu Wort. Doch beides Mal wurde der Rat dieser Forschungsnetzwerke ignoriert.

Bilanz: Die Wissenschaften Virologie und Epidemiologie haben eine lange Tradition und liefern wichtige Erkenntnisse. Mehr als 95 Prozent der in diesen Bereichen aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind zu vergleichbaren Auffassungen in Sachen Corona-Pandemie gelangt. Ähnlich wie im Fall der Klimatologie ist dies ein wichtiges Argument in unserer Arbeit, auch wenn ein kritisches Hinterfragen der Erkenntnisse auch bei diesen Wissenschaften immer sinnvoll ist.

4. „Die Regierung ist unglaubwürdig“

Die Grundaussage, die Verantwortlichen seien unglaubwürdig, ist allgegenwärtig. Und sie trifft zu. Was aber nicht heißen muss, dass die Aussagen und Aktivitäten der Regierung (und der Verantwortlichen des RKI, des Bundesgesundheitsministeriums usw.) selbst in jedem Fall unglaubwürdig wären.

Dabei ist das Gesamtbild ja auch widersprüchlich. Die Bevölkerung selbst erwies sich und erweist sich als erstaunlich offen für die wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die Zustimmung zu den restriktiven Maßnahmen lag in der Bevölkerung fast immer bei zwei Drittel und mehr. Die Zustimmung zu Merkel als Kanzlerin und zur CDU-CSU als Hauptträgerin der Koalition ist in der Corona-Krise deutlich (um 4 bis 6 Prozentpunkte) gewachsen; die Zustimmung zur AfD, die den Coronaleugnern nahesteht, ist deutlich gesunken. Vergleichbares gilt für die LLLP, Lindners Liberale Lockerungspartei: diese dümpelt wieder erfreulich nah der 5-Prozent-Marke. Die Linke, die das Thema Epidemie nicht der Bedeutung entsprechend aufgriff und die dazu keine eigene und überzeugende Linie entwickelte, konnte bestenfalls ihren Stimmenanteil halten. Und bei der Kür des neuen CDU-Vorsitzenden verlor derjenige, der offensiv für Lockerungen eintritt, am Ende deutlich.  

Wenn die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung, des Herrn Spahn und des RKI etc. erodierte, dann nicht deshalb, weil „die Wissenschaft“ keine klaren Vorgaben gemacht hätte. Sondern vor allem, weil DIE REGIERENDEN und die Verantwortlichen und die Bundesländer einen krassen Zickzack-Kurs fahren und sich ständig widersprechende und widersprüchliche Maßnahmen beschließen, die dann noch ALLE ein krasses soziales Gefälle haben: Private größere Versammlungen – nein! Kirchliche Veranstaltungen und Kreuzfahrtschiff-Tourismus – ja! Restriktionen im Privatleben – ja! Restriktionen in Büro und Fabrik – nein! Skifahren in Deutschland – nein! Skifahren in der Schweiz – ja!

Bilanz: Die Regierenden sind unglaubwürdig, gerade WEIL sie keine konsequente Politik gegen die Corona-Pandemie betreiben und weil das Auf und Ab bei den „Maßnahmen“ zur Epidemie-Eindämmung erkennbar den Interessen weniger – den Interessen der Wirtschaft – folgt.

5. Die Dynamik der Corona-Epidemie 2021

Wir (Kreilinger-Wolf-Zeller) behaupten in Texten, dass die Zahl der Infektionen und der Corona-Toten 2021 nochmals deutlich ansteigen würde. Dagegen wurde argumentiert, unsere Zahlen von bis zu 75.000 Corona-Toten bis Mitte 2021 allein in Deutschland seien „spekulativ“; wir „beförderten damit Panik“.

Ich behaupte, dass unsere Zahlen eher auf konservativer Basis gerechnet seien. Konkret: Am 31.12.2020 hatten wir in Deutschland offiziell 33.791 Menschen, die „an und mit Corona“ gestorben sind. Nur 15 Tage später sind es 46.500 oder 12.000 Corona-Tote mehr. Wenn nur diese Ergebnisse der zwei Januar-Wochen verlängert werden, dann haben wir im Januar mehr als 20.000 Corona-Tote – und damit so viele, wie im gesamten Zeitraum Februar 2020 bis 30. November 2020. Und wenn es in den kommenden Monaten bis Mitte 2021 nur halb so viele je Monat sein sollten, dann haben wir im ersten Halbjahr 2021 insgesamt mit 70.000 Menschen, die an und mit Corona starben, doppelt so viele Corona-Tote wie INSGESAMT im vorangegangenen Jahr 2020 an der Epidemie starben. Bis zum Jahresende könnte es das Dreifache sein.

Wer sich die Zahlen und grafischen Darstellungen für England und Irland oder Brasilien vor Augen hält, wo die jüngsten Corona-Mutanten bereits eine enorme Verbreitung finden, gewinnt den Eindruck, dass die Lage ausgesprochen dramatisch ist. Das ist ja mit ein Grund dafür, dass die Initiative Zero Covid vor allem in den Ländern Irland und Großbritannien zunächst schnell an Boden gewann.

Lasst uns INSTÄNDIG hoffen, dass wir unrecht haben, wenn wir sagen: Die Lage droht außer Kontrolle zu geraten. Wobei Angela Merkel, die Anfang Januar sagte, wir hätten jetzt „die schwersten Monate noch vor uns“, Grund für diese Aussage haben dürfte. Einiges spricht dafür, dass die Regierenden die tatsächliche Dynamik der Pandemie kennen und teilweise Panik schieben.

Bilanz: Die Dynamik der Pandemie ist auch 2021 groß – und sie könnte noch gesteigert werden. Diese These ist keine Panikmache; sie wird durch die Entwicklungen in anderen Ländern (Brasilien, Südafrika, Irland, Großbritannien) leider gestützt.

6. Übersterblichkeit

Die Gegenrechnung zu den Zahlen derjenigen, die an und mit Corona starben – und damit ein Kontrollfaktor – war und ist ja die Übersterblichkeit. Dazu liegen seit Mitte 2020 gute statistische Zahlen vor, die damals bereits deutlich machten, dass es in den Monaten, in denen es viele Corona-Tote gab, es auch eine deutliche Übersterblichkeit gab, was vom Stat. Bundesamt und von der Statistik EuroMomo (an letzterer nehmen aus der BRD allerdings nur die Länder Berlin und Hessen teil – ansonsten jedoch alle EU-Staaten) dokumentiert wurde.

Wenn man dann, was wichtig und sinnvoll ist, diese Statistiken eingrenzt auf (a) die entscheidende Altersgruppe (der über 65-Jährigen) und dann noch auf (b) die am stärksten betroffenen Regionen (im Frühsommer Teile von NRW, so die Region um Heinsberg, und Bayern, und aktuell für Dezember 2020 und Januar 2021 Thüringen und Sachsen), dann sind die Daten noch deutlicher.

Seit dem 15. Januar gibt es die Zahlen für Deutschland für das gesamte Jahr 2020. Das Stat. Bundesamt spricht dabei den Zusammenhang Übersterblichkeit/Corona an. Vor allem gilt dies für die Zahlen ab der 2. Dezemberwoche 2020. Da lag die Übersterblichkeit Deutschlandweit um 20% über dem Durchschnitt 2015-2019, in Thüringen um 35% und in Sachsen um 88%. [7]
Das entspricht ziemlich genau der Entwicklung der Epidemie und deren regionale Verteilung. Einige behaupten, man könne sogar deutlich erkennen, dass die Infektionen dort besonders hoch seien, wo dass Coronaleugnertum endemisch und der AfD-Stimmenanteil am höchsten sei.

Bilanz: Die Übersterblichkeit ist auch in Deutschland, Österreich und Schweiz spätestens seit Ende 2020 eindeutig belegt – was ein Korrektiv für die absoluten Zahlen der „an und mit Corona“ Verstorbenen darstellt. Damit werden ein weiteres Mal die Angaben von WHO, RKI usw. gestützt.

7. Der Charakter der Epidemie und Kollateralschäden

Der bereits zitierte Wolfgang Streeck schreibt: „Eine Gesellschaft, die mit Lungenkrebs leben kann, kann, wenn sie muss, wohl auch mit covid-19 leben.“ Der Herr Philosoph will nicht verstehen, dass eine Epidemie etwas grundsätzlich anderes als eine individuelle Erkrankung ist. Die Ansteckungsgefahr bei Lungenkrebs für die Menschen im Umfeld von dem an Lungenkrebs Erkrankten ist Null. Die Gefahr, sich mit Corona zu infizieren und die Gefahren, dass sich in kurzer Zeit eine große Zahl damit infiziert (wovon ein Teil schwer erkrankt) ist erheblich. Und die Beispiele vom exponentiellen Wachstum sind nicht nur in hässlichen Grafiken dargestellt – wir erleben sie, so ist zu befürchten, wie die Menschen in Irland und Großbritannien, wohl in Bälde hautnah.
Aussagen wie die von Wolfgang Streeck zitierte könnte man auf einer Verdi-Betriebsversammlung der Charité in Berlin oder bei einer entsprechenden gewerkschaftlichen Veranstaltung von Pflegekräften in Köln nicht vortragen. Würde man dies dennoch tun, dann würden die Pflegekräfte und die Verdi-Vertreter einen zu Recht als menschenfeindlich und als kollegenverachtend bezeichnen.
In einem Debattenbeitrag hieß es, das Virus sei „neuartig“. Und: „Mutationen“ machten das Virus gefährlicher“ machten oder eben auch (mal) „ungefährlicher“. Zunächst einmal gilt: Das Virus ist ganz gut erforscht und als gefährlich identifiziert. Die Moralitätsraten sind bekannt. Die Auswirkungen einer Corona-Infektion sind inzwischen auch breit erforscht. Es geht keineswegs „nur“ um Tod oder Leben. Bei denen, die „nur“ erkrankten, gibt es oft Krankheitsfolgen, die viele Organe betreffend.

Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des klassischen Corona-Virus ist ebenfalls bekannt. Die bislang bekannten und vor allem in Großbritannien, in Irland, in Südafrika und inzwischen auch in Brasilien auftretenden Mutationen verbreiten sich extrem viel schneller. Sie machen das Virus eindeutig gefährlicher – nicht wegen der höheren Mortalität, aber wegen dieser enormen Ausbreitungsgeschwindigkeit, was die Gefahr eines Zusammenbruchs der Gesundheitssysteme wesentlich erhöht.

In einem Diskussionsbeitrag heißt es: „Welche Folgen Lockdowns und andere restriktive Maßnahmen […] auf die psychische und physische Gesundheit haben werden, ist in diesem [nach Auffassung des Autors verengten; W.W.] Gesundheitsverständnis überhaupt nicht berücksichtigt. Es ist noch gar nicht abzusehen, welche Auswirkungen die […] Kontaktbeschränkungen […] auf Menschen, insbesondere auf Kinder und Jugendliche haben werden.“ Der Diskutant kritisiert in diesem Zusammenhang vor allem den „absolut reduzierten Gesundheitsbegriff, der (auch) in großen Teilen der Linken vorherrscht. Dieser beschränkt Gesundheit offensichtlich auf den Schutz vor Vireninfektion.“

Die „Nebenwirkungen“ der Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie, die hier angesprochen werden, wurden in den letzten zwölf Monaten vielfach diskutiert. Es ist ein falsches Narrativ zu unterstellen, als könnten diese „Kollateralschäden“ GRÖSSER sein als die eigentlichen Schäden, die das Virus anrichtet. Dafür gibt es keinerlei Belege. Wenn dieser Aspekt ernsthaft thematisiert werden soll, dann wäre zunächst gegenzurechnen, welcher indirekte NUTZEN diese „nicht-medizinischen Maßnahmen“ hatten. 2020 war dies zum Beispiel zehn Prozent weniger Verkehrstote, 15 Prozent weniger Verletzte im Straßenverkehr, nochmals weniger CO2- und andere das Klima schädigende Emissionen. 

Doch vor allem fällt auf – und dies ist fatal: In allen Diskussionsbeiträgen, die kritisch auf die Zero-Covid-Kampagne eingehen, wird KEIN WORT zu den konkreten Toten geäußert. Außer dass vage behauptet wird, es seien vielleicht ja gar nicht so viele.  Die „physischen und psychischen Folgen der Kontaktbeschränkungen“ sind doch DORT besonders groß, wo es KEINE KONTAKTE mehr gibt, weil die Menschen, zu denen man Kontakt hatte, nicht mehr leben, weil sie starben, weil es allein in Deutschland 45.000 Corona-Toten – also vorzeitig aus dem Leben Geschiedene, gibt, um die ganz sicher mehr als 150.000 Menschen trauern. Wo bleibt denn da der „erweiterte Gesundheitsbegriff“? Und was meint das denn: ein Gesundheitsbegriff, der sich „auf den Schutz vor Vireninfektionen beschränkt“? Es geht eben nicht um diese „kleine Grippe“, wie dies der brasilianische faschistoide Präsident unterstellt, wovor geschützt werden soll.

Bilanz: Die Debatte über „Nebenwirkungen“ und „Kollateralschäden“ der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ist berechtigt. Eine genauere Untersuchung zeigt jedoch, dass auch heute die Schäden (Schwererkrankte, Tote), die damit verhindert wurden, diese Nebenwirkungen deutlich überwiegen. Vor allem aber sind diese Nebenwirkungen deshalb noch relativ groß, weil es die beschriebene falsche Politik des Auf und Ab zwischen Restriktionen und Lockerungen gibt.

8. Problematische und unzulässige Vergleiche


Streeck macht Zahlenvergleiche, die den unangenehmen Geruch der Menschenverachtung und des Zynismus verbreiten. So wenn er schreibt, dass die „an und mit Corona Verstorbenen“ ja nur “ 3,6 Prozent der Toten des Jahres 2020″ ausmachen würden.

Wir haben am Beginn der Epidemie dutzendfach erlebt, dass die damals nach ein paar Hunderten zählenden Corona-Toten mit der „doch viel größeren Zahl der Straßenverkehrstoten“ verglichen und damit die sich entwickelnde Epidemie relativiert wurde.
Jetzt hatten wir 2020 eine Zahl von „an und mit Corona Verstorbenen“, die das ELFFACHE der Zahl aller Straßenverkehrstoten ausmacht (34.194 : 2900 = 11,7). Und wir haben bereits  in den ersten 14 Tagen des aktuellen Monats Januar 2021 eine Zahl der Corona-Toten, die beim knapp VIERFACHEN der Zahl aller im gesamten Jahr im Straßenverkehr zu Tode
Kommenden liegt (11.298 : 2900 = 3,9).

Wer unter solchen Umständen, wie Streeck es tut, schreibt: „Nach unbeherrschbaren Größenordnungen sieht Corona […] jedenfalls nicht aus,“ der ist geistig tatsächlich dort angesiedelt, wo die Vertreter der Industrie in ihren Corona-Debatten-Beiträgen angesiedelt sind. So schreibt Michael Hüther vom Institut der Wirtschaft (IW), dass doch „jedes Leben nur ein Leben zum Tode ist; ein Thema, das philosophische Diskurse seit jeher erfasst.“[8]

Bilanz: Es ist zynisch, die Corona-Toten dadurch zu relativieren, dass sie mit anderen Todesarten in Bezug gesetzt werden. Die absolute Zahl der Pandemie-Toten liegt längst in einem Bereich, der es rechtfertigt, von der schwersten Pandemie seit der spanischen Grippe zu sprechen.


 9. Ein kaputtgespartes und fehlgeleitetes Gesundheitswesen

In diesem Punkt herrscht weitgehend Einigkeit: Das Gesundheitswesen wurde in den letzten zwei Jahrzehnten kaputtgespart. Wir haben dem Thema in unserem Buch ein ganzes Kapitel gewidmet. Und darin auch verdeutlicht, dass die Zahl der Krankenbetten auf deutschem Boden dann, wenn man korrekterweise die DDR-Kliniken berücksichtigt, seit Mitte der 1980er Jahre mehr als halbiert wurde.[9]

Wir sind uns auch darin einig, dass wir diese Aspekte – die fortgesetzte Schließung von Kliniken; die Beibehaltung der Profitorientierung; die viel zu geringe Bezahlung des Pflegepersonals – massiv betonen müssen. Das wird auch im Aufruf „Zero Covid“ so unterstrichen. Die NGO Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) macht dazu eine wichtige Kampagne.[10]

Generell ist jedoch festzuhalten: Bei einigen Debattenbeiträgen wirkt der Verweis auf „das kaputtgesparte Gesundheitswesen“ wie eine Ablenkung davon, dass man die Pandemie selbst nicht ernst nimmt. Und indirekt behautet, es gebe da in erster Linie dieses Problem des unzureichend funktionierenden Gesundheitswesens, weswegen es überhaupt ein Corona-Problem geben würde.

Tatsache ist: Auch das beste denkbare Gesundheitssystem kann einer Corona-Epidemie, wenn ihr denn freier Lauf gelassen wird, nicht Einhalt gebieten. Es sind IMMER die restriktiven Maßnahmen, gleich wie sie im Einzelnen ausgeformt sein mögen, die diesen Kollaps verhindern. Der Verweis, „aber das privatisierte Gesundheitssystem ist der wesentliche Faktor dieser Gesundheitskrise“, führt ins Leere. Umgekehrt ist wiederum interessant, dass die Epidemie in einigen Ländern, in dem das Gesundheitssystem nicht „kaputtgespart“ wurde, sondern in denen es ein solche nur in Ansätzen gibt, sich nicht so ausbreiten konnte, wie in Ländern mit einem relativ hoch entwickelten Gesundheitssektor. Darauf wird noch einzugehen sein.

Bilanz: Ja, das Gesundheitssystem wurde kaputtgespart. Doch das beste Gesundheitssystem wäre nicht in der Lage, die am Corona-Virus Erkrankten aufzunehmen und ausreichend zu versorgen, überließe man die Pandemie ihrer Eigendynamik.

10. Andere Länder

Wir haben uns in unseren Beiträgen einige Mühe gemacht, auf die extremen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern hinzuweisen. Das spielt in unserem Aufruf eine zentrale Rolle. Kein einziger der Diskussionsbeiträge geht auch nur mit einem Wort darauf ein. Es gibt in diesen Beiträgen nur den enorm verengten Blick auf Deutschland.

Das springt besonders beim Thema China ins Auge. Auch, weil China mit einer Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen enorm wichtig ist in dieser Welt. Und weil in diesem eminent wichtigen Land eine letzten Endes erfolgreiche Pandemie-Eindämmungspolitik betrieben wurde – und immer wieder aufs Neue betrieben wird. Wobei Grundelemente dessen praktiziert werden, die wir auch vorschlagen. Mit EINEM ganz wichtigen UNTERSCHIED, der etwas mit dem autoritären Charakter des Regimes in Peking zu tun hat.

Japan rief vor wenigen Tagen den „Notstand“ aus. Und in „Südkorea gibt es die dritte Welle“. Beides trifft zu. Auch irritiert sicher, dass es in Neuseeland und in Australien immer wieder zu „Ausbrüchen“ kommt. Doch WANN ergreifen diese Länder jeweils diese Maßnahmen? Und in welcher Gesamtlage befinden sich diese Länder? Vergegenwärtigen wir uns die Zahl der Menschen, die „an und mit Corona gestorben“ sind, bezogen auf jeweils 100.000 Menschen, und dies mit Stand vom 31. Dezember 2020.

China: 0,3 Corona-Tote auf 100.000 Menschen; Taiwan: 0,03; Vietnam: 0,4; Neuseeland: 0,6; Kuba: 1,3; Südkorea: 1,8; Japan: 2,6; Australien: 3,5; Uruguay 5,2; Norwegen 8,1; Finnland 10,1.

Demgegenüber dann: Deutschland: 40,6 Tote auf 100.000 Menschen; Niederlande: 66,6; Schweden: 84,7; Frankreich 96,7; Spanien 107,9; Italien: 123,0 und Belgien: 171,3.

Das sind ins Auge springende Unterschiede. In Japan wird der Ausnahmezustand ausgerufen in einer Situation, in der es dort nur EIN FÜNFZEHNTEL der Corona-Toten-Zahl von Deutschland gibt (jetzt immer bezogen auf 100.000 Menschen)!

Diese Zahlen laufen darauf hinaus, dass dann, wenn man in Europa auch nur in Ansätzen eine Politik zur Corona-Eindämmung durchgeführt hätte, wie sie in den aufgeführten Ländern mit ihren relativen Erfolgen stattfand, man allein hier, in Europa, mehr als 200.000 Menschen das Leben gerettet hätte. (Aktuell liegt in Europa bei Einschluss von Russland die Zahl der Corona-Toten bei mehr als 450.000).

Streeck schreibt in dem zitierten Beitrag, dass Restriktionen mit dem Ziel, die
Infektionszahlen drastisch zu reduzieren nicht funktionieren – „bei uns nicht und auch nicht anderswo in Europa.“ Das ist schlicht und einfach falsch. Zunächst sollte man es dem Herrn Streeck nicht durchgehen lassen, sich nur auf Europa zu kaprizieren, und dann nur noch Neuseeland zu nennen, um das abzutun, weil ja „Deutschland keine Insel“ sei. Warum kein Vergleich der der beiden Industriestaaten Italien und Südkorea – ähnlich groß, ähnlich viele Menschen, ein nicht ganz unähnliches Bruttoinlandsprodukt, auch beim BIP pro Kopf, vergleichbar lange Küsten usw. – und die folgenden Pandemie-Unterschiede: Südkorea = 1,8 Corona-Tote je 100.000 Einwohner –  Italien = 123  Corona-Tote je 100.000 Einwohner (ebenfalls jeweils Stand 31-12-2020). Das ist die 68-fache (Todes)-Rate!!!

Und wenn wir uns auf Europa konzentrieren, dann ist weiterhin der Vergleich unter
den skandinavischen Ländern deutlich: Norwegen = 8,1 und Finnland = 10,1 Corona-Tote je 100.000 Einwohner – dagegen Schweden = 84,7 Corona-Tote je 100.000 Einwohner. Das Zehnfache bzw. das Achtfache. Die drei Länder haben absolut vergleichbare Strukturen, ein vergleichbares Durchschnittsalter, alle drei sind Industriestaaten. Oder auch anders gesehen: Gäbe es bei uns in Deutschland eine Corona-Politik wie in Schweden, dann hätten wir nicht 45.000, sondern ziemlich genau 90.000 Menschen, die „an und mit Corona gestorben“ sind.

Dabei treten die kubanischen und die chinesischen Virologen, die ich auf diesem Gebiet als ausgesprochen relevant empfinde, mit besonders klaren Worten und mit Taten hervor. Die Taten laufen in der Substanz auf dasselbe hinaus: Strikte Kontaktreduktionen dort, wo Infektionen auftreten. Ein Beispiel aus der Ausgabe von China Daily vom 15. Januar. Dort heißt es: „Heilongjiang declared a state of emergency on Jan 12 and, as of Jan 13 afternoon, the province had reported 57 confirmes cases since Jan 10“ – will sagen: Bei ein paar Dutzend Fällen – nicht von Toten, sondern von Infektionen! – wird der Ausnahmezustand verhängt!

Diese grundsätzlich RICHTIGEN, nachvollziehbaren Maßnahmen werden in China teilweise extrem autoritär durchgesetzt. In Kuba werden sie bisher (wie in der nächsten Ausgabe von Lunapark21 zu lesen sein wird) auf der Basis von viel praktischer Solidarität und Nachbarschafthilfe realisiert. In BEIDEN Ländern mit vergleichbar beeindruckenden Ergebnissen: China = 0,3 Corona-Tote je 100.000 Einwohner – Kuba = 1,3 Corona-Tote je 100.000 Einwohner. Deutschland = 40,6.

Bilanz: Der Blick auf andere Länder und dabei der Blick auf diejenigen Länder, die relativ erfolgreich die Pandemie eindämmen konnten, wird systematisch verweigert. Offensichtlich spielt dabei eine Rolle, dass ein gewissenhaften Blick über den Tellerrand des eigenen Landes hinaus illustrieren würde: Zero Covid macht Sinn! Eine wirksame Eindämmung ist macbar.

11. Welches Ziel? Solidarischer Lockdown von unten

Es gibt offensichtlich ein Missverständnis, was das Ziel dessen ist, was wir mit der Kampagne ZeroCovid vorschlagen. So heißt es in einem Diskussionsbeitrag: „Was soll das Ziel eines harten, vierwöchigen Lockdowns sein – die Begrenzung der Todesfälle? […] Oder die Ausrottung des Virus? Im letzteren Fall benötigt man keinen vierwöchigen Lockdown, sondern genau so viel Zeit, wie es benötigt, alle Menschen der Welt zu impfen, die die Krankheit noch nicht hatten, also fast alle. Das dürfte eher vier Jahre dauern.“

Das ist eine krasse Falschdarstellung dessen, was wir vorschlagen – und dessen, was wir konkret in der Welt seit Anfang 2020 erleben. Es gibt doch Politiken der Virus-Bekämpfung, teilweise mit harten Lockdowns, teilweise ohne dieselben, die dazu geführt haben, dass das Virus so weit eingedämmt werden konnte, dass die jeweiligen Gesellschaften wieder ein relativ normales Leben führen können. Dass Rockkonzerte stattfinden. Dass Strände und Bars und Restaurants geöffnet sind. Dass das Leben auf den Straßen und Plätzen pulsiert. Zu behaupten, es gäbe in diesen Ländern mit erfolgreicher Virus-Bekämpfung einen permanenten Lockdown, ist einfach sachlich unrichtig. 

Richtig ist: Das Virus wird nie ganz ausgerottet sein. So wie Pocken und Masern nie ganz ausgerottet sind. Es wird immer wieder neue Herde geben – zumal solange, wie breite Impfkampagnen weltweit nicht stattfanden. Dennoch ist es ein himmelweiter Unterschied, ob man den aktuellen Zickzackkurs erlebt und sich immer entlang der maximalen Belastung des Gesundheitssystem hangelt und dabei KEINE ernsthafte Reduktion der Infektionen auf ein Niveau als Ziel vor sich hat, wo die Pandemie eingrenzbar und WEITGEHEND (zeitweilig und regional weitgehend) eliminiert ist. Oder ob man restriktive Maßnahmen ergreift, als deren Resultat man ernsthaft und konkret ein relativ normales Leben in absehbarer Zeit in Aussicht stellen kann.  

Noch ein Versuch, das Projekt „Solidarischer Shutdown“ in drei Punkten zu formulieren:

(A) Die dramatische aktuelle und absehbare Zuspitzung der Pandemie und die absehbar große Zahl an neuen und NICHT NOTWENDIGEN Toten erfordern ein Eingreifen, eine Stellungnahme der Linken. Sie läuft darauf hinaus, dass eine massive Zurückdrängung des Virus notwendig und machbar ist.

(B) Propagiert und möglichst umgesetzt werden soll ein solidarischer Shutdown von unten, der auch – und nicht zuletzt und vor allem – den Bereich der „Wirtschaft“ (die Produktion mit Ausnahme der lebenswichtigen Bereiche) einschließt. Wie das konkret auszusehen hat, kann und muss diskutiert werden. Doch die zitierte WHO-Bilanz von 2006 ist zutreffend; sie hat sich auch in den genannten Ländern mit relativ erfolgreicher Corona-Eindämmungspolitik bewährt: Man muss, wie im 19. Jahrhundert, zeitweilig die Zirkulation des gesamten gesellschaftlichen Lebens herunterfahren, um eine derart niedrige Zahl der neuen Infektionen zu erhalten, dass diese alle von den dafür Zuständen nachverfolgt, isoliert usw., werden können. Was die massive Aufstockung des betreffenden Personals mit erfordert.

(C) Ideal wäre dabei, wenn dies aus gesamtgesellschaftlicher Einsicht erfolgte; wenn eine solche Politik von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung getragen und akzeptiert und solidarisch kontrolliert werden würde. Das ist keineswegs absolut aussichtslos. Die Erfahrungen in Neuseeland und wohl auch in Kuba stimmen in diesem Sinn optimistisch. Es gibt bei den Ländern mit erfolgreicher Virus-Eindämmungspolitik offensichtlich erhebliche Unterschiede, die man im Einzelnen untersuchen muss. So gibt es die krassen Differenzen zwischen Argentinien einerseits (95,3 Corona-Tote auf 100.000 Menschen) und Uruguay andererseits (5,2).[11] In einem aktuellen Film von Gaby Webers wird verdeutlicht, weshalb es diese Unterschiede gibt.[12]

Sicher ist allerdings auch, dass die Erwartung, eine solche Politik könnte AUSSCHLESSLICH auf dem freien Willen und basierend auf allgemeiner Solidarität funktionieren, nicht realistisch ist.

Bilanz: Es gibt keine perfekte Anleitung für einen solidarischen Lockdown. Doch das Grundelement – Herunterfahren des GESAMTEN gesellschaftlichen Lebens für eine beschränkte Zeit – ist eindeutig. Das Ziel – die Infektionen müssen konkret nachvollziehbar sein, also nahe Null liegen – auch. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass diese Konzeption klar und überzeugend vorgetragen werden muss, damit die Menschen sie selbst nachvollziehen – und befolgen – können.

12. Einbeziehung „der Wirtschaft“ und linke Politik

Die Einbeziehung der Wirtschaft in Lockdown-Maßnahmen, das zeitweilige Beenden der Einsaugung von Mehrwert aus Lohnabhängigen, die einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind, müsste für Linke eigentlich ein besonderes Anliegen sein. Es sind in erster Linie die Ganz-Rechten, die strikt neoliberalen Lindner und Kubicki, die AfD-Rechten, der BDI und der BDA, die gegen diese von uns mit vorgeschlagenen Restriktionen eintreten. Der Klassencharakter, der in der Ablehnung solcher Maßnahmen mitschwingt, ist mehr als deutlich.  Wörtlich sagt der BDA-Chef Rainer Dulger in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 10. Januar 2021: „Unsere Position war und ist: Man sollte die einschränkenden Maßnahmen so schnell wie möglich lockern.“ Er gesteht auch ein, dass aktuell nur noch HALB SO VIEL Menschen im Homeoffice arbeiten. Schließlich seien „in den Betrieben ja die Hygienekonzepte ausgerollt“ worden.

Immer wieder wurde im Verlauf des Jahres 2020 auf die extrem hohen Zahlen von Corona-Infektionen in denjenigen Arbeitsstätten verwiesen, wo es Kontrollen gab: in der Fleischindustrie und in den Logistikzentren. Zu ergänzen ist: auf dem Bau. In Singen gab es kurz vor Weihnachten bei der ECE-Baustelle (am Hauptbahnhof) eine Kontrolle. Ergebnis: mehr als ein Viertel der mehr als 150 Baubeschäftigten war infiziert. Die Baustelle wurde für eine Woche geschlossen. Seither wird weiter gebaut – und nicht mehr kontrolliert.

Die gesamte Argumentation, die „Haushalte“ seien der „Ansteckungsort Nummer 1“, ist unseriös. Da stellt sich doch die Frage: Und wie kam das Virus denn in die Haushalte? Durch den Briefkasten? Durch Lüftungsschächte? Oder durch die Katzenklappe? Oder vielleicht doch durch die Kontakte, die eben die im Haushalt Lebenden „draußen“ haben: am Arbeitsplatz und in den Schulen usw.

Eine spezifische Haltung beim Thema „Restriktionen auch im Bereich derArbeitswelt“ nimmt eine spezifische Kritik einer linken Gruppe ein. Dort heißt es zunächst auch, es sollte eine „Schließung aller Fabriken und Betriebe, die nicht zur Aufrechterhaltung der Grundversorgung nötig sind“ geben … „es sei denn, Belegschaften, Gewerkschaften und Betriebsrät*innen stimmen einem Weiterbetrieb auf Basis funktionierender Hygienekonzepte … zu.“[13]

Damit wird die Politik „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ verfolgt. Die Entscheidung wird anscheinend an die Basis delegiert. Doch wie werden Beschäftigte und ihre Vertretungen vor Ort in der Regel entscheiden? In der Autoindustrie? Im Bereich Rüstung? Auf dem Bau? Sehr viel spricht dafür, dass es dann einen Flickenteppich von Ausnahmen geben wird – und damit ein Unterlaufen des eigentlichen Zieles eines solchen solidarischen Shutdowns.

Eine Forderung nach ZeroCovid, die vor allem auf die Einbeziehung der GESAMTEN Wirtschaft (mit Ausnahme der tatsächlich für das Leben benötigten Bereiche) in Shutdown-Maßnahmen abzielt, sollte eigentlich Sache der Linken sein. Und es ist schlimm genug, dass dieses thema so lange ein Tabu war. Es gibt ein paar Anzeichen dafür, dass sie auch hier aufgegriffen wird. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow, DIE LINKE, griff sie Mitte Januar zum ersten Mal auf. Die LINKEN-Vorsitzende Katja Kipping nahm den Begriff „solidarischer Lockdown“ in den Mund. Die Grünen entdecken jetzt „die Arbeitswelt als Pandemietreiber“ – so Göring-Eckhardt laut Süddeutscher Zeitung vom 11. Januar 2021. Und der DGB-Chef fordert inzwischen „einen Rechtsanspruch auf Homeoffice“, weil „sonst die Kapitalisten machen, was sie wollen.“ All das zeigt, dass eine Debatte angestoßen wurde. Mehr allerdings nicht. Arbeitsminister Heil, SPD, brachte jüngst ein Gesetzchen in den Bundestag ein, wonach ein Arbeitnehmer in Bälde ein „Recht“ auf „ein Gespräch“ mit dem Arbeitgeber zum Thema Homeoffice haben.

Bilanz: Bislang war das Einbeziehen der Wirtschaft tabu. Und es ist kein Zufall, dass vor allem die Vertreter der Konzerne und Banken gegen einen solidarischen Lockdown und gegen ZeroCovid heftig argumentieren. Für sie steht das Recht auf Profitemachen vor dem Recht auf körperliche Unversehrtheit.

13. Sollte man nicht „differenzieren“?

Immer wieder hieß es im gesamten Jahr 2020, die Lockdown-Maßnahmen seien „undifferenziert“. Diese müssten „flexibler“ gestaltet werden. So auch in der bereits zitierten Kritik am Zero Covid von Sascha (siehe oben; Fußnote [13]). Daran schließen sich dann eine Reihe Forderungen an, die als solche sinnvoll sind: Luftfilter in den Klassenzimmern, die Fenster müssten geöffnet werden können; Halbierung der Klassen; Verlegen von Unterricht in größere Räume in anderen öffentlichen Gebäuden.

Zunächst einmal wurde Forderungen nach „mehr Flexibilität“ in jüngerer Zeit von denen vorgetragen, die allgemein für Lockerungen eintraten: Vor allem von der FDP und den Unternehmerverbänden BDI-BDA, lange Zeit jedoch auch von Armin Laschet und von Bodo Ramelow.

Damit verkennt man die Wirkungsweise des Virus. Egal, wer sich wo trifft; die „Süddeutsche Zeitung“ hat dies jüngst richtig und klar (im Rahmen einer Zustimmung zu „Zero Covid“) formuliert: „Das Sars-2-Coronavirus wird in jeder erdenklichen Alltagssituation übertragen, beim Sprechen, Singen, Knutschen und Streiten. Es mag langweilig erscheinen, diese zur Banalität gewordene Erkenntnis zu wiederholen, doch genau in ihr liegt die Lösung: Die Zahlen werden sinken, wenn Viren nicht im Gesicht des Gegenüber landen.[14]

Diese Erkenntnis gilt für alle Arten von Zusammentreffen einer größeren Zahl von Menschen – in Büros, in Fabriken, auf Feten und auch in Schulen. Die davon betroffenen Kids erkranken deutlich weniger – doch Träger des Virus sind sie nicht weniger als alle anderen Betroffenen.

Vor allem übersieht diese Kritik den Sinn und DIE ART des geforderten Shutdowns, den wir mit „Zero covid“ propagieren: Wir fordern ein Herunterfahren des GESAMTEN gesellschaftlichen Lebens und wir sagen, dass dies für eine KLAR UMGRENZTE ZEIT so stattfinden soll. Das ist das Gegenteil des aktuell Praktizierten. Wir erlebten 2020 bereits viele Wochen mit Kita- und Schulschließungen. Und wir erleben aktuell – seit Dezember 2020 – erneut viele Wochen mit weitgehenden Schulschließungen. Und wir werden, geht es so weiter, auch dann, wenn alle diese kleinteiligen UND RICHTIGEN Forderungen im Schulbereich umgesetzt werden sollten, auch 2021 noch mindestens einen weiteren neuen Halblockdown mit Schuldschließungen erleben.

Damit aber liegt die addierte Belastung für Kids und Eltern bei der realen Politik und auch bei Umsetzung der geforderten Maßnahmen HÖHER als im Fall des geforderten allgemeinen gesellschaftlichen Shutdowns.

Bilanz: Das „Differenzieren“ und das „flexibel Gestalten“ wurde nun fast ein Jahr lang propagiert und auch vielfach umgesetzt. Mit katastrophalen Folgen. Ein Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens heißt: ein Herunterfahren des GESAMTEN gesellschaftlichen Lebens. „Flexibilität“ heißt hier erneut, Lücken (und oft Scheunentore) zu öffnen – für das Virus und dessen Verbreitung.

14. „Zero“ sei doch „unrealistisch“

Diese Kritik, wonach „Null Infektionen“ als Ziel unrealistisch sei, wird ebenfalls wiederholt vorgetragen. Teilweise kombiniert mit dem Verweis, „dass die Nachverfolgung von Neuinfektionen […] auch etwas mit der Arbeitsfähigkeit und damit mit der Personalausstattung der Gesundheitsämter […] zu tun hat“[15]

Das letztere trifft zu hundert Prozent zu. Das Personal der Gesundheitsämter ist gegenüber dem Stand von 1990/92 rund halbiert worden. Und ein Aufstocken fand 2020 nur in homöopathischer Dosierung, völlig unzureichend, statt. Entsprechend fordern wir auch eine entsprechende Aufstockung der Beschäftigten in den Gesundheitsämtern und natürlich auch in den Krankenhäusern.

Aber auch da ist eindeutig, dass selbst eine Marge von 50 Neuinfektionen, die als offizielles Ziel noch gilt (bei aktuell real mehr als 150!), nicht ausreicht, um ein Nachverfolgen zu ermöglichen. Diese Zahl muss deutlich niedriger sein – und zwar nahe Null.

Das Ziel „Null“ ist ein politisches Ziel. Und in DIESER FORM, als „Null“ auch absolut gerechtfertigt. In Schweden gibt es seit mehr als einem Jahrzehnt die Kampagne „Null Straßenverkehrstote“. Das ist auf absehbare Zeit unrealistisch. Doch kaum jemand sagt da, das sei doch „unrealistisch“. Wir fordern seit 15 Jahren, dass das Klima sich nicht stärker als um 1,5 Grad Celsius erwärmen darf. Das dürfte inzwischen unrealistisch sein. Doch wir halten daran fest.

Ich gestatte mir erneut auf die angeführten Länder zu verweisen. Südkorea oder China und vor allem auch Kuba verfolgen exakt dieses Ziel: ZERO COVID. Dass sie das nicht immer ganz erreichen, ist naheliegend. Als Ziel bleibt es aber bestehen. Siehe oben die konkreten Angaben zu diesen Ländern.

Bilanz: Zero ist ein politisches, aber einleuchtendes und richtiges Ziel. In der Realität wird es immer heißen, dass man so nah wie möglich herankommen muss an Null Corona-Infektionen.

15. Alles Corona-Leugner? Darf man jetzt nicht mehr die Regierung kritisieren?

In einem Kritik-Beitrag wurde kritisiert, der „ständige Hinweis auf Coronaleugner, Querdenker… bis hin zu faschistoiden Strömungen …trägt zur Lähmung von Linken und Gewerkschaften bei.“ Und: „Ich kann mich schwer damit abfinden, der AfD die Rolle der Opposition zu überlassen“. Der besagte Kritiker wolle „nicht aufhören, Regierungshandeln zu kritisieren.“

Das ist echt verquer. In WELCHEN ASPEKTEN denn soll das „Regierungshandeln kritisiert“ werden? Wenn kritisiert werden soll, dass es zu viele restriktive Maßnahmen gibt und wenn gefordert wird, dass es mehr Lockerungen geben möge – dann liegt das auf AfD-Linie und ist gesundheitspolitisch eine fatale und die Epidemie fördernde Position, die klassenpolitisch in dieser Weise eben vom großen Kapital vertreten wird. Das muss dann aber auch gesagt werden. Wenn die einseitige, sozial nicht ausgeglichene, unlogische usw. Politik der regierungsamtlichen Restriktionen kritisiert werden soll – dann freie Fahrt für diese Kritik. Wir formulieren eine solche Kritik seit April 2020.

Und warum bloß werden Linke und Gewerkschafter „gelähmt“, wenn darauf verwiesen wird, dass die Forderung nach Lockerungen und die Kritik an Eindämmungsmaßnahmen Forderungen der Kapitalseite und logischerweise weltweit die Forderungen der rechtesten Rechten, hierzulande der AfD, sind? Warum eine Lähmung, wenn wir konstatieren, dass eindeutig faschistoide Strömungen die Querdenker-Demos unterwandert haben, dass eindeutig die dort Demonstrierenden sich politisch im Verlauf des letzten Dreivierteljahres nach rechts bewegt haben – siehe die Basel-Studie von Oliver Nachtweih?[16] Wenn wir dazu die Klappe halten, helfen wir den Rechten, die doch genau in diesem Fahrwasser schwimmen wollen: keine Restriktionen, weil doch „die Grundrechte in Gefahr“ seien. Und ausgerechnet die Herren Kubicki und Lindner entdecken dann das Thema „Gewalt gegen Frauen“.   

Also: Präzise Kritik an den Regierenden – ja, unbedingt!! Und natürlich bleiben wir sozialistische Opposition! Selbstverständlich haben wir Null Vertrauen in Merkels Corona-Politik. Es gibt aber auch nullkommanull gemeinsame Sache mit Ganz-Rechts. Es gilt, offen aufzuzeigen, dass das große Kapital, dass die AfD und dass diejenigen, die „Lockerungen“ fordern, die seit einem Dreivierteljahr die Gefährlichkeit der Epidemie relativieren und die Zahlen der tatsächlich Betroffenen und Gestorbenen pauschal in Frage stellen, Hand in Hand gehen – und dass sie dies interessensgelenkt, im Interesse des Kapitals mit dessen menschenverachtendem Prinzip der Mehrwertauspressung auf Teufel komm raus tun.  

Bilanz: Man darf nicht nur die Regierung usw. kritisieren. Man MUSS sie kritisieren. Wir erwarten auch in keiner Weise, dass die Regierenden eine ZeroCovid-Kampagne starten werden. Sie werden vielleicht versuchen, den Begriff zu besetzen (so wie sie von Verkehrswende und „Nachhaltigkeit“ reden – und das Gegenteil des damit Geforderten betreiben). ZeroCovid kann nur von unten kommen – man muss die Regierenden durch eine breite Kampagne zwingen, diese für die Menschen wichtige Politik zur Eindämmung des Virus umzusetzen.

Anmerkungen:

[1] Zeitung Faktencheck:CORONA (FCC); siehe: www.info-faktencheck.de. Das genannte Buch: Verena Kreilinger, Winfried Wolf, Christian Zeller, Corona, Kapital, Krise – Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie, Köln 2020, PapyRossa-Verlag. Siehe: https://shop.papyrossa.de/Kreilinger-Verena-/-Wolf-WInfried-/-Zeller-Christian-Corona-Krise-Kapital

[2] Der Beitrag erscheint demnächst auf einer großen Internet-Plattform.

[3] JAMA – Internal Medicine, 1. Sept. 2020; Comparison and Reported Deaths from COVID-19 and Increase in Total Morality in Italy.

[4] Siehe: https://www.rnd.de/gesundheit/an-corona-oder-mit-corona-gestorben-das-ist-der-unterschied-und-das-sagen-die-aktuellen-zahlen-ID5I4BOXBNG7FJJJUIYOTULE3M.html

[5] Wolfgang Streeck, Welchen Wissenschaftlern folgen wir in der Pandemie, in: FAZ vom 11. Januar 2021. Siehe: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/corona-beitrag-der-soziologie-zur-bewaeltigung-der-krise-17138966.html Streeck ist kein Unbekannter. Er ist mitverantwortlich für die Hartz-IV-Gesetze, damals als öffentlicher Unterstützer von Kanzler Schröder. Er schrieb damals: „Letzten Endes erfordert die Öffnung von Wirtschaft und Gesellschaft […] ein Überdenken von Gerechtigkeitsvorstellungen, die aus der Industriegesellschaft und der Vollbeschäftigungswirtschaft der Nachkriegszeit stammen.“ (zusammen mit
Rolf Heinze: in:  Der Spiegel 10.5.1999). Diese unsoziale und zynische Haltung findet sich jetzt in dem neuen FAZ-Artikel, wenn derselbe Herr schreibt: „Wenn man die Hausärzte dazu bekäme, ihre vorerkrankten Stammpatienten einzubestellen und ins Gebet zu nehmen, wäre eine, soweit ich sehe, überhaupt die wichtigste Begründung für die mit ewiger Wiederkehr drohenden Lockdowns entfallen.“ Das ist altenfeindlich, autoritär und Stammtischdenken.

[6] WHO, SARS. How a global epidemic was stopped, 2006, S. 247; auch bei Kreilinger-Wolf-Zeller zusammenfassend ausgeführt Seite 50f; von mir hervorgehoben.

[7] Siehe ARD-Tagesschau vom 15.1.2021.

[8] Michael Hüther in: Cicero vom 13. Januar 2021. Das vollständige Zitat sei hier gebracht; es veredeutlicht den Zynismus der Mehrwertauspresser: „So richtig der Hinweis ist, dass jeder Todesfall menschliches Leid und Trauer begründet, so gilt ebenso, dass jedes Leben nur ein Leben zum Tode ist; ein Thema, das philosophische Diskurse seit jeher erfasst. Moderne Gesellschaften erwecken den Eindruck, dass der medizinisch-technische Fortschritt es rechtfertige, den Tod zu verdrängen. Doch wir beginnen jedes neue Jahr in Deutschland mit der Gewissheit, dass es 900.000 Todesfälle und mehr geben wird.“ Siehe; https://www.iwkoeln.de/presse/in-den-medien/beitrag/michael-huether-es-gibt-keinen-absoluten-lebensschutz.html

[9] Siehe Verena Kreilinger, Winfried Wolf, Christian Zeller, Corona, Kapital, Krise…, a.a.O., S. 62ff

[10] Siehe: https://www.gemeingut.org/neues-buendnis-klinikrettung-de-fordert-sofortigen-stopp-der-schliessungen-von-krankenhaeusern/

[11] Die Zahlen sind vom 31.12.2020. Seither steigen die Corona-Opfer-Zahlen in beiden Ländern deutlich an. Am 15.1. liegt die Zahl der Corona-Toten in Uruguay bei 274; es sind 8,4 Corona-Tote auf 100.000 Einwohner. Argentinien hat am gleichen Tag 45.227 Corona-Tote zu beklagen; es sind 99,6 Corona-Tote je 100.000 Einwohner.

[12] Film Gaby Weber siehe: https://www.youtube.com/watch?v=88TYp_gC3FM

[13] Sascha Stanicic – Zero Covid – Eine solidarische Kritik, siehe: https://www.info-faktencheck.de/wordpress/2021/01/17/zerocovid-eine-solidarische-kritik/

[14] Felix Hütten, Corona Politik – Die Null als Ziel, in: Süddeutsche Zeitung vom 16./17. Januar 2021.

[15] Sascha Stanicic, a.a.O. – siehe oben.

[16] Siehe die ganz ausgezeichnete Studie Oliver Nachtwey, Robert Schäfer, Nadine Frei, Politische Soziologie der Corona-Proteste, Universität Basel, 17. Dezember2020. https://idw-online.de/de/attachmentdata85376

Die Website unserer Kampagne findet ihr hier:
https://zero-covid.org/unterschreibe-den-aufruf/

Wer unterzeichnen will, bitte hier:
https://weact.campact.de/petitions/zerocovid-fur-einen-solidarischen-europaischen-shutdown