Pflege, Krieg, „Euthanasie“-Morde

Vom fatalen Frauenbild zur Vernichtung von „lebensunwertem Leben“

1907 wurde im Unterrichtsbuch für die weibliche Krankenpflege festgehalten: „Im Kriege werden sie [die Berufskrankenpflegerinnen] in erster Linie in den Heilanstalten auf dem Kriegsschauplatze gebraucht werden […] Es handelt sich in der Kriegstätigkeit ausschließlich um die Pflege von kranken Männern.“ Die zweite Auflage dieses Standardwerks, erschienen 1913, enthielt ergänzende Anweisungen über den Einsatz, die Pflichten und die Aufgaben der „weiblichen freiwilligen und der Berufskrankenpflege im Kriege“. Ein Jahr vor Beginn des Ersten Weltkriegs wusste man bereits, dass der Krieg – vorbereitet von denen, die sich für die Elite in Deutschland hielten – kommen würde. Und wie wichtig dann Krankenschwestern sein würden. Schließlich sei die Frau – auch diese Erkenntnis findet sich in dem Lehrbuch – „durch Charakter mehr für das Werk der Barmherzigkeit geeignet als der Mann.“1

Männer führen Krieg und töten Männer, Frauen und Kinder. Frauen pflegen die verwundeten Männer. Diese gesellschaftliche Aufgabenteilung zieht sich wie ein „Rotes-Kreuz-Band“ durch die Geschichte der Krankenpflege der letzten 170 Jahre.

Bereits das Krankenpflege-Vorbild Florence Nightingale fand ihre erste öffentlichkeitswirksame Betätigung im Krim-Krieg 1853-1856. Damals starben laut britischer Times „mehr Soldaten vor Kälte, an Thyphus, Cholera und Ruhr als durch feindliche Angriffe 
auf dem Schlachtfeld“.2

Nightingale handelte zweifelsohne ehrlich, Menschlichkeit praktizierend. Doch diese Art effizienter Krankenpflege diente primär dazu, menschliches Kanonenfutter zu recyceln und den Krieg effizienter zu führen. Die aus dem Einsatz von Nightingale hervorgegangenen Krankenpflegeschulen – eine erste mit Namen Nightingale Training School of Nurses at St. Thomas Hospital wurde 1860 in London gegründet – fanden auch in den vom britischen Empire besetzten Kolonialländern, so in Indien, Verbreitung – im Dienste des Kolonialismus.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat ebenfalls den Krieg als Referenzpunkt: die Schlacht von Solferino 1859, als Tausende verwundete österreichische, französische und italienische Soldaten ohne Hilfe auf dem Schlachtfeld zurückblieben. Dies veranlasste den in Genf geborenen Henry Dunant zur Gründung der IKRK-Vorgängerorganisation, dem „Internationalen Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege“. Die Hunderttausende Frauen und Männer, die sich in den letzten 175 Jahren für Rotkreuz-Arbeit aufopferten, taten dies zweifellos in ihrer Mehrheit, um Menschlichkeit zu praktizieren. Das IKRK als Institution – mit Sitz in der Schweiz – hat jedoch während der NS-Diktatur menschliches Leben und menschliche Würde oft nicht verteidigt. Kenntnisse des Internationalen Roten Kreuzes über die Existenz der NS-Vernichtungslager und die Deportation der jüdischen Bevölkerung wurden nicht öffentlich gemacht. Das IKRK sta nd vor allem im Zeitraum 1935 bis 1945 unter dem Einfluss der Schweizer Regierung, deren primäres Ziel die Einhaltung ihrer Neutralität war – was die finanzielle Zusammenarbeit mit dem NS-Regime, einschließlich des Einschmelzens von Zahngold der KZ-Opfer, und die Auslieferung Tausender in die Schweiz Geflüchteter an das NS-Regime einschloss.3

Kriege waren Katalysatoren hinsichtlich der Zahl der Krankenschwestern. Im Ersten Weltkrieg waren in Europa mehr als eine Million Frauen als Pflegerinnen in den Kriegslazaretten im Einsatz. Allein in Deutschland verdreifachte sich das Pflegepersonal im Zeitraum 1910 bis 1918; am Kriegsende waren mehr als 220.000 Menschen – weit überwiegend Krankenschwestern – in der Pflege beschäftigt. Eine ähnliche Entwicklung gab es im Zweiten Weltkrieg. Die Zahl der Lernschwestern des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) stieg bereits in den Friedensjahren 1933 bis 1939 um 50 Prozent; während des Zweiten Weltkriegs wuchs sie nochmals an. Bereits vor Kriegsbeginn führte das DRK Sanitätskurse für den Kriegseinsatz durch.

In der Zeit des NS-Regimes blieb das Deutsche Rote Kreuz formal unabhängig, um den Kriterien des IKRK zu genügen. Die DRK-Führung war jedoch durchsetzt mit NSDAP-Mitgliedern. Als Ziel der Krankenpflege durch DRK-Schwestern wurde formuliert, „die Kranken, die Verwundeten wirklich zu heilen, sie wieder zu Kämpfern zu machen, die mit unerschütterlicher Seele wieder in Reih und Glied treten.“4 Das DRK hatte im Zweiten Weltkrieg faktisch das Monopol für die Kriegskrankenpflege. Die Wiener Pflegepädagogin Irene Messner stellt hierzu fest: „Ohne diese Unterstützung [durch das DRK] wäre die deutsche Wehrmacht nicht in der Lage gewesen, die medizinische Versorgung an der Front sicherzustellen. […] Die Kriegskrankenschwester stellte ein ideologisches Modell dar […] Sie stand dem deutschen Soldaten als Kameradin und Helferin zur Seite.“5

Die Generaloberin des Deutschen Roten Kreuzes war ab 1935 und in der gesamten Zeit der NSDAP-Herrschaft Luise von Oertzen. Sie war NSDAP-Mitglied. Ab 1949 war Luise von Oertzen wieder im DRK präsent. Zunächst als Vizepräsidentin, und von 1952 bis 1961 erneut als Präsidentin. 1959 wurde ihr die Florence-Nightingale-Medaille verliehen.6

Mit dem Krieg begann im NS-Reich auch die massenhafte Tötung von „lebensunwertem Leben“, verharmlosend als Euthanasie bezeichnet. Mehr als 200.000 Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen wurden in den Krankenhäusern und zum Teil in speziell dafür eingerichteten Tötungsanstalten umgebracht. „Die Auswahl der zu tötenden Patientinnen und Patienten wurde dezentral, das heißt, in der Anstalt, vorgenommen, meist während der Visite. Die Namen der Patientinnen wurden von der Oberschwester oder dem Oberpfleger notiert. Diese Patientinnen wurden dann in ein speziell dafür vorgesehenes Zimmer verlegt und [meist] mit Medikamenten umgebracht.“7 In erster Linie waren für diese Massenmorde die NSDAP-Führer und die Ärzte, die die Auswahl vornahmen, verantwortlich. Tatsache ist jedoch auch, dass das Pflegepersonal in den Anstalten und Krankenhäusern in den allermeisten Fällen die erteilten Anordnungen umsetzte und damit Beihilfe zum Massenmord leistete. Die hierarchische Struktur der Pflege, das ständische Bewusstsein und die fatale Orientierung an einer „Volksgesundheit“ begünstigten den Massenmord.

Als es in der aktuellen Epidemie seitens der Corona-Leugner immer wieder die fatalen Hinweise auf „Vorerkrankungen“ und das „Durchschnittsalter“ der Corona-Toten gab, schrieb der Schweizer Arzt Robert Vogt: „Es ist das Resultat der Medizin, dass man nach drei Nebendiagnosen bei guter Lebensqualität ein hohes Alter erreichen kann. Diese positiven Errungenschaften sind nun plötzlich nur noch eine Last. […] Gewisse Kommentare haben den üblen Geruch der Eugenik.“8

Anmerkungen:

1 Unterrichtsbuch für die weibliche Krankenpflege im Auftrag des Zentralkomitees des Preußischen Landesvereins vom Roten Kreuz, bearbeitet von Dr. Körting, Berlin 1913, wiedergegeben in: Birgit Panke-Kochinke, Die Geschichte der Krankenpflege (1679-2000). Ein Quellenbuch, Frankfurt 2020, S. 179f.

2 Zitiert in: Hellmuth Vensky, Das Vermächtnis der Florence Nightingale, in: Die Zeit, 16.8.2010.

3 Eine Bindeglied war dabei Philipp Etter, in der Schweiz Bundespräsident in den Jahren 1939, 1942, 1947 und 1953, zugleich Mitglied im IKRK.

4 Zitiert bei: Daniela Duesterberg, Pflege im Zweiten Weltkrieg, in: Hilde Steppe (Hrsg.), Krankenpflege im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1991, hier 11. Auflage 2020. S. 132.

5 Irene Messner, Geschichte der Pflege, Wien 2017, S. 111.

6 Siehe Hilde Steppe, a.a.O., S. 222. In dem Band „100 Jahre Verband der Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz, 1882-1982 (erschienen 1982) findet sich ein Foto von Luise von Oertzen, das durch Beschnitt die Abzeichen mit Hakenkreuz unsichtbar macht (Originalfoto mit Hakenkreuz im Spiegel 26. 6.1957).

7 Siehe Hilde Steppe, a.a.O., S.161.

8 In: Mittelländische Zeitung vom 7. 4.2020; auch bei: Kreilinger/Wolf/Zeller, Corona, Kapital, Krise, Köln 2020, S.185.

Dieser Beitrag erschien in Lunapark21, Heft 52