Venedig-Impressionen

Oder: Warum die Lagunenstadt auch heute noch Vorbild für eine autofreie Stadt ist

Die 30 Millionen Menschen, die alljährlich Venedig besuchen, dürften auch dann, wenn sie keinen ausgeprägten Kunstsachverstand haben, von der Lagunenstadt begeistert sein. Diese massenhaften „Besuche“ wiederum werden von den meisten der nur noch rund 50.000 Menschen, die in der Lagunenstadt, im „centro storico“, mit festem Wohnsitz leben, überwiegend als Heimsuchung empfunden, auch wenn deren Einkommen überwiegend vom Tourismus abhängt – was in Zeiten der Pandemie besonders schmerzhaft zu spüren war.

Inwiefern die Impressionen, die ich bei meinem sechstägigen Aufenthalt in der Lagunenstadt im Januar hatte, von den durchschnittlichen Touristinnen und Touristen vergleichbar empfunden werden, weiß ich nicht. Zumindest unbewusst dürfte es jedoch bei allen das Gefühl geben, dass diese Stadt etwas Besonderes ist. Dass es hier – trotz Tourismus-Flut, trotz Immobilienspekulation, trotz Privatisierungen und Kunst-Ausverkauf – in Ansätzen etwas gibt, das man als „echte Stadtqualität“ bezeichnen kann. Susanna Böhme-Kuby, die wir im eher ruhigen Viertel Dorsoduro besuchten, spricht zu Recht von der „Einzigartigkeit dieses relativ kleinen urbanen Konglomerats (von etwa 800 Hektar, ohne Laguneninseln)“, bei dem dank der besonderen Lage „mit differenzierten, einander ergänzenden Verkehrsebenen (Kanälen und Gehwegen) die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eben keine Gerade ist.“1

Bei der Ankunft am Bahnhof Santa Lucia regnet es; ziemlich heftig sogar. Im Zug hatten wir noch – Google Maps misstrauend – uns intensiv den Fußweg zum Hotel überlegt, uns Straßennamen und Plätze auf dem Weg notiert und eingeprägt. Eine knappe halbe Stunde, so unser Eindruck, sollte der Weg zu Fuß zurückzulegen sein, trotz des mittelschweren Gepäcks. Der Regen also macht einen Strich durch die Rechnung. Anderswo würde man bei solchen Verhältnissen ein Taxi nehmen. Das gibt es in Venedig so nicht. Oder doch – in der Form eines Wasserboot-Taxis. Doch da liegen die Preise je Fahrt selten unter 80 Euro. Auch wäre unser Hotel mit einem Taxiboot nicht direkt ansteuerbar. Also stehen wir zunächst 10 Minuten vor dem Bahnhof… Bis uns ein auf solche ratlosen Touristen spezialisierter Italiener zu einem erstaunlich niedrigen Preis zwei Einzeltickets (wirklich echte?) für eine Vaporetto-Fahrt verkauft, die Koffer auf eine Karre verpackt und uns  zum Anleger für die Wasserbusse bringt: An der vierten Station sollten wir aussteigen, dann noch 150 Meter Fußweg.

Stadtqualität

Stundenlanges Flanieren. Keine Autos. Kein geparktes Blech. Nicht einmal Kampfradler. Gut, viele Touris – wobei sich das im Januar in gewissen Grenzen hält. Ab April und dann bis Oktober muss es als Folge der drei bis fünf Mal größeren Touristenströme in den engen Gassen und auf den Plätzen ein oft beängstigendes Gedränge geben … Vom Markus-Platz bis zum Hotel in der Calle Larga dei Proverbi (der „breiten Gasse der Sprichworte“) – welch ein romantischer Straßenname! – im Stadtteil Cannaregio sind es rund 30 Minuten Fußweg. In einer „normalen“ Stadt, also einer Autostadt, kann das Zurücklegen einer solchen Wegelänge ausgesprochen anstrengend sein; bedeutet das doch, dass man auf dieser Distanz mehr als ein Dutzend Mal auf ein grünes Ampelmännchen warten und zu jedem Zeitpunkt auf den Autoverkehr achten muss (in Florenz vor allem auf den intensiven Verkehr mit Mopeds und Motorrädern); dass Hunderte Autos, die in den e ngen Straßen und Gassen abgestellt wurden, zu passieren sind – oft Karossen, die den Raum, der für den Fußweg verbleibt, massiv verengen.

All das gibt es in Venedig nicht.

Und es gibt kaum Lärm. Jedenfalls keinen, der lästig oder gar als schmerzhaft empfunden wird. Die Gondole gleiten. Die Taxi-Boote tuckern. Die gewerblichen Kähne – die Post- und DHL-Lieferservice-Boote und die Müllboote – röhren dann etwas lauter. Die auf dem Canal Grande alle paar Minuten vorbeifahrenden Vaporetti hört man allerdings bereits ab einer Entfernung von drei Metern, also an den jeweiligen Ufern, so gut wie nicht mehr. Es sei denn, man befindet sich direkt an einer Wasserbus-Haltestelle, wo der Vaporetto-Kapitän beim Herannahen auf den letzten Metern den Rückwärtsgang einschaltet, um abzubremsen, dann gekonnt beizudrehen und anzulegen.

Das mittelalterliche Venedig dürfte nicht viel anders funktioniert – und sich damit bereits damals von anderen, vergleichbaren Städten unterschieden – haben. Der Philosoph Arthur Schopenhauer beschwerte sich Anfang des 19. Jahrhunderts über den „unverantwortlichsten und schändlichsten Lärm, das wahrhaft infernalische Peitschenknallen in den hallenden Gassen der Städte“, wodurch die „höheren Bestrebungen des Menschengeschlechtes“ behindert würden2: Vergleichbares gab es im Venedig der Serenissima nicht.

Einmal ist es während unseres Aufenthalts dann doch anders: Mitten auf dem Canal Grande ertönt ein „Tatü-tata“: ein Sanitätsboot rast mit rotierendem Blaulicht und mit mindestens 40 km/h, eine imposante Bugwelle vor sich herschiebend, den Kanal entlang – die Vaporetti und andere Boote bilden die erforderliche Rettungs-Wasser-Weg-Gasse. Nehmen wir an, dass es dafür einen ernsten Anlass gab und dass es dem Sanitäter-Kapitän am Steuer nicht pure Freude bereitete, diese Jagdfahrt zu unternehmen. 

Stadtkrise

Natürlich wäre es falsch, das Bild einer Stadtidylle zu zeichnen. Das Gegenteil ist der Fall. Die vielfach wiederholte Formulierung, Venedig sei eine „sterbende Stadt“, trifft heute mehr denn je zu. Die Einwohnerzahl der Lagunenstadt lag auf ihrem Höhepunkt bei 250.000. Hinzu kamen einige Zehntausend Menschen, die auf den umliegenden Inseln lebten – in Torcello beispielsweise bis zu 20.000 (heute sind es dort nur noch rund 50). In den 1970er Jahren zählte die Bevölkerung des Centro Storico noch gut 100.000 Menschen. Ende der 1980er Jahre waren es immerhin 85.000. Heute sind es noch rund 50.000. Parallel dazu wuchsen die Touristenströme deutlich an. Damit entstand ein extrem ungesundes Verhältnis zwischen Touristinnen und Touristen einerseits und Wohnbevölkerung andererseits. Es gibt einen täglichen Pendlerstrom vom Festland (vor allem Mestre) auf die Insel von mehr als 20.000 Menschen, die ebenfalls deutlich überwiegend in der Tourismusbranche i hr Einkommen verdienen. Fataler Weise wurden in den letzten Jahrzehnten auch große Teile der Verwaltung aufs Festland verlegt. Entsprechend sind inzwischen die nicht-touristischen Bereiche wie Universitäten, Gewerbe und Einzelhandel zurückgedrängt. Es gibt vor allem drei Ursachen für die Stadtflucht: erstens die hohen und in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegenen Mieten (bzw. das deutlich niedrigere Mietniveau auf dem Festland), zweitens die regelmäßigen Überflutungen großer Teile der Stadt (aqua alta) – was, wie hier nicht weiter ausgeführt werden kann, vor allem eine Folge von Umweltzerstörung, Tourismus (Kreuzfahrschiffe) und Klimaerwärmung ist. Und drittens die immensen Touristenströme während rund zehn Monaten. In der Folge stehen Hunderte Häuser und Tausende Wohnungen leer, was einerseits den Verfall derselben und andererseits die Schaffung von immer mehr  Airbnb-Objekten begünstigt. Zweitwohnungen machen bereits rund 30  Prozent des Wohnraums aus. Große Unternehmen funktionieren historische Gebäude – auch Brücken – zu gigantischen PR-Projekten um. Herausragend dabei der Kauf des Fondaco dei Tedeschi, des ehemaligen deutschen Handelsdomizils, direkt neben der Rialto-Brücke, durch Benetton, dessen Auskernung und Umwandlung in ein gigantisches Shopping Center für Luxus-Waren. Petra Reski schrieb: „Venedig befindet sich im permanenten Ausnahmezustand, apokalyptisch überflutet, verschandelt zum Erlebnispark, zertrampelt von 33 Millionen Touristen jährlich. Diese Stadt, die zur Geldmaschine erklärt wurde, wird seit Jahrzehnten von den Predigern eines touristischen Fundamentalismus regiert, deren Glaubensbekenntnis sich in den Worten ´Venezianer raus, Touristen rein´ zusammenfassen lässt. An die Wände der Gassen gepresst versuchen die verbliebenen 52.000 Venezianer, sich permesso, permesso (pardon, pardon) murmelnd durch die Reisegruppen einen Weg zum letzten G emüsehändler zu bahnen.“3 Oder auch, auf den Punkt gebracht: „Der Tauschwert hat über den Gebrauchswert der Stadt gesiegt“, so Susanna Böhme-Kuby, den italienischen Kunsthistoriker Salvatore Settis zitierend.4

Burano und Murano

Die Wasserbus-Linie 12 führt von der Station Fondamente Nove über Murano nach Burano. Die letztgenannte Insel wird als eine Art Gegenentwurf zur Lagunenstadt gepriesen. Anstelle der dezenten, auf einander abgestimmten Farben, die in der Lagunenstadt dominieren, stehen dort bunte Häuser entlang der wenigen Kanäle. Die Farben dürften, wie in den Cinque-Terre-Städtchen Manerola, Vernazza und Riomaggiore, in früheren Zeiten ebenfalls aufeinander abgestimmt gewesen sein. Inzwischen sind mehrere in irritierend grellen Farbtönen getüncht.5 Auch dürfte es kaum mehr zutreffen, wenn Burano, wie es in Reiseführern erfolgt, als „Fischerinsel“ bezeichnet wird. Auch dieses sympathische Eiland ist weitgehend auf den Tourismus ausgerichtet. Während in Venedig – jedenfalls im Januar – viele Restaurants erst am Abend öffnen, ist in Burano das halbe Dutzend Restaurants  abends geschlossen und – der Tagestouristen wegen – vor allem tagsüber off en, bis 15 Uhr Mittagessen anbietend. Von dort aus – und während der Hin- und Rückfahrt mit dem Vaporetto – bietet sich bei Blick nach Norden eine beeindruckende Silhouette mit schneebedeckten Bergen: die Dolomiten. Diese klare Sicht gibt es, jedenfalls laut Reiseführer, nur im Winter – der in dieser Jahreszeit besseren Luftqualität wegen.

In Murano haben wir nur eine kurze Pause, um auf einen anderen Wasserbus umzusteigen. Unser  Hotel bot uns – dann nicht genutzte – Gutscheine für einen Murano-Besuch an, um Einblicke in die dortige Glasindustrie zu erhalten (und natürlich, um zum Schopping zu verführen). Die Berichte über den Niedergang von Murano stimmen wehmütig. Der Ukraine-Krieg, die westliche Politik der gegen Russland gerichteten Sanktionen und der daraus resultierende gewaltige Anstieg der Energiekosten, insbesondere des Gaspreises, bedrohen große Teile der traditionellen venezianischen Glasindustrie; mehrere Unternehmen mussten bereits 2022 aufgeben. Wenn in dieser Branche  einmal „der Ofen aus“ ist, ist es ohne enormen Geldeinsatz nicht mehr möglich, die Produktion neu hochzufahren. Glasperlen aus Murano wurden jüngst in Alaska gefunden; sie gelangten vor hunderten Jahren dorthin als Begleiterscheinung des  venezianischen Kolonialismus. Der moderne Kolonialismus lässt

 ’96 als Ergebnis der zerstörerischen Globalisierung – Glas aus China weltweit zirkulieren. Ein größerer Teil des Glas-Schmucks, der in Venedig in sehr vielen Geschäften angeboten wird, stammt längst aus China.

Mehr als 90 Prozentgehen zu Fuß odernutzen den ÖPNV

Seit drei Jahrzehnten frage ich in meinen Vorträgen zum Thema Verkehr das Publikum: „Wo in Europa gibt es eine Großstadt ohne Autos?“ Meist blicke ich dann in fragende Gesichter. Wenn ich meine rhetorische Frage selbst mit „in Venedig!“ beantworte, ernte ich in der Regel irritiertes Lachen. Tatsächlich hat eine 200 Seiten umfangreiche Studie den Titel „Venedig  – Vorbild für eine autofreie Stadt“. Sie wurde von dem mit mir befreundeten, inzwischen verstorbenen Verkehrsplaner Dr. Egon Grund 1993 verfasst.6 Der Autor war im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit in mehreren Städten in leitenden Funktionen im Planungs- und Bauwesen. Das Standardargument gegen die zitierte Aussage, wonach Autoverkehr in einer Stadt, deren Straßen vor allem Wasserstraßen sind, ja nicht vorstellbar sei, kontert Egon Grund wie folgt: „Grundsätzlich wäre es denkbar, dass in einer Stadt mit Wasserstraßen genauso viele Einzelfahrzeuge [in Form von Motorbooten i n individuellem Besitz; W.W.] existieren, also der [motorisierte; W.W.] Individualverkehr ebenso stark ist wie in ´Normalstädten´. Dass dies in Venedig nicht der Fall ist, hat in erster Linie städtebauliche Gründe: Bebauungsdichte, und Merkmale des Verkehrsnetzes erlauben dies nicht. Vor allem wären entsprechende Abstellmöglichkeiten kaum zu schaffen.“7 An anderer Stelle konkretisiert er: „Im Bereich der gesamten Lagune von Venedig sind 12.000 Boote zugelassen zum Transport von Privatpersonen oder Sachen für nicht-gewerbliche Zwecke […] Nicht alle zugelassenen Boote werden genutzt. Es verkehren rund 80 Prozent; das sind 9680. Die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Kommune Venedig (329.803 Einwohner) geringe Zahl der Bootsbesitzer (3,67%) verteilt sich auf den lagunaren Bereich, sodass die Belastung des Centro Storico verschwindend ist. […] Wesentlich für den Besitz eines Privatbootes ist, dass die Liegeplätze konzessioniert sind.  Um ein individuelles Fahrzeug halten zu können, bedarf es einer kommunalen ´Abstellerlaubnis´(concessioni comunali di spazi acquei).“8

Das Ergebnis ist eine – eingangs bereits skizzierte – Fußgängerstadt. Fahrradverkehr existiert nicht (Radeln verboten!). Sie wird ergänzt um den öffentlichen Verkehr, mit dem Rückgrat der ACTV-Wasserbusse („ACTV“ steht für Azienda del Consorzio Trasporti Veneziano, auf deutsch etwa Unternehmen des venezianischen Transportkonsortiums“)9. Mehr als 70 Prozent aller Wege in der Lagunenstadt werden zu Fuß, fast alle übrigen mit den Wasserbussen zurückgelegt. Die Pendler vom Festland in das Centro Storico benutzen zu drei Viertel die öffentlichen Verkehrsmittel: Eisenbahn, Busse und größere Schiffe (motonavi), obgleich es eine Straßenbrücke vom Festland zur Lagunenstadt und ein relativ großes Angebot an (allerdings mit hohen Parkgebühren verbundenen) Pkw-Stellplätzen in Parkhäusern am Rande der Laguneninsel, nahe des Bahnhofs Santa Lucia und des ZOB, gibt.

Vier Besonderheiten führen dazu, dass in Venedig selbst die Wasserbusse eine extrem hohe Erschließungsfunktion haben: Erstens sind die Vaporetti extrem effizient; sie bieten Raum für gut 200 Personen, was drei bis vier Bussen oder zwei Straßenbahnen entspricht. Zweitens hat der Canal Grande die gewundene Form eines umgekehrten „S“.10 Drittens gibt es auf dieser Hauptwasser-Verkehrsstraße für die Vaporetti kein „Spurenfahren“ und schon gar keine Fahrt als kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten: die Fahrtrichtungen kreuzen sich häufig und die Boote pendeln von einem Ufer zum anderen. Dieser für einen „guten deutschen Verkehrsplaner“ chaotisch erscheinende ÖPNV ist nur möglich, weil – viertens – die maximale Geschwindigkeit für die ACTV-Wasserbusse auf 11 Stundenkilometer und diejenige für Motorboote in öffentlichen und privaten Diensten auf 8 km/h festgelegt ist. Die Gondolieri dürften ihre Boote mit einem Stundenk ilometer und weniger bewegen. Trotz der dichten Vertaktung des Vaporetti-Linienverkehrs und des beschriebenen überdurchschnittlich hohen ÖPNV-Anteils am „modal split“, an der Verteilung aller Wege und Verkehre auf Füße und ÖPNV, und obgleich es viel Lieferverkehr, eher zu viele Wassertaxen und nicht zuletzt die Gondeln gibt, ist der gesamte Verkehr auf dem Canal Grande und erst recht derjenige in den Seitenkanälen ein weit geringerer als auf vergleichbaren Straßen in Autostädten. „Eine gereizte Eile gibt es nicht“, schreibt Grund.11 Mehr als 90 Prozent der Menschen, die in der Lagunenstadt leben beziehungsweise sich dort aufhalten, haben maximal sieben Minuten Fußweg bis zur nächsten ACTV-Haltestelle. Während des Tages und abends bis deutlich nach 22 Uhr besteht eine dichte Vertaktung des Vaporetti-Verkehrs; die Orientierung an einem Fahrplan erübrigt sich – man wartet eben auf den nächsten Wasserbus. Von 23.30 Uhr bis 4.30 Uhr v erkehren die Nacht-Vaporetti der Linie N.

Die Tickets für die Touristen sind relativ teuer. Das Einzelticket (one way) kostet 9,50 Euro. Für ein Drei-Tages-Ticket bezahlen Touristinnen und Touristen 45 Euro. Menschen mit Wohnsitz in Venedig zahlen, wenn sie im Besitz entsprechender Berechtigungskarten sind, je Einzelfahrt 1,50 Euro; im Zehnerblock 1,40.12

Der Stadtplaner Egon Grund verband seine Venedig-Studie mit ausführlichen Überlegungen, welche Lehre sich dabei für unsere heutigen Autostädte ergeben. Er konkretisierte dies für die Autostadt Göttingen im Detail. Er schreibt im Anschluss und zusammenfassend: „Das Ziel der Übertragung struktureller Prinzipien auf andere Städte ist es, einen vom Individualverkehr weitgehend befreiten Bereich zu schaffen, der etwa die Größe der Hauptsiedlungsfläche des Centro Storico hätte. Das System der Verkehrserschließung ist dabei entscheidend. Beim ÖPNV müssen die Bedienungshäufigkeit und die Beförderungsgeschwindigkeit erhöht werden. Die Hindernisse, die dem Verstärken des ÖPNV entgegenstehen, ergeben sich aus den Ansprüchen des Individualverkehrs. Das innerstädtische Parkraumangebot muss einschneidend reduziert werden […] Es werden innerstädtische Zonen vorgeschlagen, die für den Individualverkehr nicht allgemein zugänglich sind. Sie müssen wesentlich größer sein als die heutigen Fußgängerzonen. […] Am Beispiel Göttingens wird das mit dem entsprechenden Straßen- und Buslinien-Netz dargestellt.[…] Es erscheint unausweichlich, dass die Industrienationen innerhalb der Städte wirksame Maßnahmen gegen das beherrschende Element des Individualverkehrs einleiten. Bei den Entwicklungsländern wäre eine Abkehr vom Vorbild der Industrienationen erforderlich.“13 

Das wurde geschrieben, bevor die Klimaerwärmung zum Thema und vor allem zu einer offenen Krise wurde.

Miserable Bahnver-bindungen aus Deutschland, der NS-Verbrechen wegen

Sieht man von Ökologie und Klima ab, so sprechen die Ökonomie von Zeit und Geld für Flüge von und nach Venedig. Man spart rund einen Tag und rund 150 Euro pro Person. Die Variante Nachtzug könnte dann eher interessant sein; allerdings ist der verbliebene Nachtzug, den die Österreichischen Bundesbahnen auf der Verbindung München – Venedig anbieten, in der Regel Monate im Voraus ausgebucht. Wir entscheiden uns … für die Schiene. Bei der Anfahrt hatten wir noch eine Direktverbindung mit dem Eurocity ab München. In Potsdam ab 4.30 Uhr bei Ankunft in Venezia Santa Lucia um 18.35 Uhr – bei nur zwei Mal umsteigen (in Berlin und München): das schien akzeptabel. Bei der Rückfahrt gibt es dann nur eine Verbindung mit einem Regionalzug von Venedig Santa Lucia bis Verona; gut eineinhalb Stunden Fahrt. In Verona dann reichlich Zeit für Umstieg und Warten. Ab Verona und bis München dann erneut ein EuroCity.

Dabei handelt es sich bei München – Venedig um eine Eisenbahnverbindung, die geradezu danach schreit, mit optimalem Zugmaterial ausgestattet und systematisch beworben zu werden. Rund acht Stunden Fahrtzeit. Über die Alpen mit dem Brenner-Pass, oft mit freiem Blick auf die Dolomiten-Gipfel, später durch die norditalienische Ebene, um schließlich auf dem Damm in die Lagunen-Stadt zu gleiten. In Venedigs Hauptbahnhof Santa Lucia stehen auch ein halbes Dutzend windschnittige Hochgeschwindigkeitszüge der beiden Fernverkehrsbahngesellschaften, der staatlichen Trenitalia (mit den „Frecce-Zügen“) und der privaten Gesellschaft NTV mit den „Italo“-Zügen in einer Parade Spalier. Demgegenüber handelt es sich bei den zum Einsatz kommenden Eurocity-Zügen aus Deutschland um rollendes Material, das sich in einem bemerkenswert schlechten Zustand befindet. Ein Restaurantwagen fehlt komplett. Bei der Hinfahrt fehlte ein Erste-Klasse-Wagen. Mehrere Toiletten und  zwei Türen waren bei der Hinfahrt gesperrt. Der Zug wird von einem deutsch-österreichischen Joint-Venture betrieben. Bis 2007 war dies noch deutlich anders: bessere Verbindungen, besseres Wagenmaterial. Der naive Fahrgast vermutet, dass das eben Ausdruck des allgemeinen Niedergangs der Bahn sei.

In Wirklichkeit geht es um große Politik – darum, dass sich die Bundesrepublik Deutschland weigert, Entschädigungen für die Verbrechen des NS-Regimes in Italien zu zahlen. Vor zwölf Jahren fasste das die bereits zitierte Autorin Susanna Böhme-Kuby wie folgt zusammen: „Jahrzehntelang, bis Dezember 2009, verkehrten Tageszüge von Venedig nach München und nach Wien, mit denen ich oft bequem hin- und hergereist bin. Direktverbindungen. Mit dem Winterfahrplan [2009/2010; W.W.] wurden sie eingestellt. […] Tagesreisen aus dem Süden über die Alpen erfordern nun ein zeitraubendes Umsteigen in Verona, wo die Anschlusszüge nicht koordiniert sind. Die Reisedauer von Venedig nach München verlängert sich dadurch um gut eine Stunde. […] Ich sah diesen Rückfall in die Kleinstaaterei einfach als Negativfolge wahnhafter Liberalisierung der Streckennetze an – bis mir am 28. Mai [2010; W.W.] die römische Tageszeitung il manifesto die Augen öffne te.“ Den Hintergrund dafür bilde das „tief beschämende Kapitel deutscher Nachkriegsverantwortung in Europa“, wo „bis heute finanzielle Entschädigungsansprüche erfolgreich abgewehrt“ werden würden. Die berechtigte Frage, was das wiederum mit der Deutschen Bahn zu tun hat, beantwortete Susanne Böhme-Kuby wie folgt: „Als sich die Bundesrepublik Deutschland nach mehreren rechtskräftigen Urteilen in Griechenland und in Italien zugunsten der Opfer von Massakern [begangenen durch Wahrmacht und SS; W.W.] weigerte, ihrer Entschädigungspflicht nachzukommen, erwirkte der Anwalt der italienischen Opfer, Joachim Lau, eine Vollstreckung in deutsche Vermögenswerte in Italien. So wurde schon vor einigen Jahren das idyllische deutsche Kulturinstitut Villa Vigoni am Comer See mit einer Hypothek als Garantie für die Opfer belegt. Als auch das Guthaben der Deutschen Bahn AG bei der italienischen Eisenbahn (rund 50 Millionen Euro)  zur Pfändung anstand,  unterbrach die Bahn, um die Gefahr einer weiteren Vollstreckung abzuwenden, die bisherige finanzielle Kooperation mit der italienischen Eisenbahn. Gleichzeitig erhoben die Deutschen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und forderten ‚Staatsimmunität‘ ein. Denn man möchte keine Präzedenzfälle schaffen. Allein in Italien stehen noch etwa 200 weitere Schadenersatzklagen an: Immerhin deportierten die Deutschen nach dem 8. September 1943 [damit nach der Kapitulation Italiens; W.W.] circa 600.000 Italiener [es handelte sich um Militärangehörige, denen damals wie heute nicht der Status von Kriegsgefangenen zugebilligt wurde; W.W.] als Zwangsarbeiter ins Reich, von denen nur noch eine Minderheit lebt; deren Forderungen blieben jahrzehntelang ungehört.“14

                   ***

Wie wäre es, wenn wir bei unserem nächsten Besuch in Venedig um 19.11 Uhr in Hamburg Altona den Zug bestiegen (oder rund zweieinhalb Stunden später in Hannover in denselben zusteigen würden), ein ausgiebiges Abendessen im Restaurantwagen zu uns nähmen, uns danach in das Schlagwagenabteil begeben und uns dann – über viele Zehntausend Bahnschwellen hinweg gleitend – in den Schlaf wiegen lassen würden? Das Frühstück wird nach der Querung der Alpen zwischen Bozen und Trento gegen neun Uhr in der Nähe von Bozen eingenommen. Gut drei Stunden später haben alle Fahrgäste die Nasen dicht am Fenster (Profis wissen, dass man links sitzen sollte, gegebenenfalls, im Schlafwagen, auf den Gang hinaustreten muss!), dann, wenn der Zug über den Damm der Lagunenstadt entgegengleitet und um 12.44 Uhr im Bahnhof Venezia Santa Lucia den Zielpunkt erreicht. Inzwischen wissen wir ja auch, wie man ein Wasserboot-Ticket ersteht und wie viele Vaporetti-Stationen es  bis zum Hotel sind. 

Was mit dem Urlaubsexpress (UEX) in den 1990er Jahren und mit dem D1199 noch im Sommer 2002 möglich war, sollte doch mit der modernen Eisenbahn erst recht machbar sein.15 Überhaupt: Selbst vor 100 Jahren und bis Ende der 1990er Jahre gab es durchgehende Eisenbahnwagen (Kurswagen) von Berlin bis Venedig. Die Herren Volker Wissing (Bundesverkehrsminister) und Richard Lutz (Bahnchef) schwadronieren von der „digitale Schiene“. In der Praxis sind sie verantwortlich dafür, dass der Schienenverkehr von Fahrplan zu Fahrplan immer mehr stranguliert wird.

Anmerkungen:

1 Susanna Böhme-Kuby, Venedig im Ausverkauf. Von der Serenissima zur Bennettown, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2013. Hier zitiert nach: Susanna Böhme-Kuby, Aus Italien. Texte zu Politik und Kultur, Lesmo (Monza-Biranza), Januar 2022, Seite 244 und 247.

2 Arthur Schopenhauer, Ueber Lerm und Geräusch, in: Parerga und Paralipomena, 2. Buch, Kapitel 30, S. 518; siehe: https://de.wikisource.org/wiki/Ueber_Lerm_und_Ger%C3%A4usch

3 Petra Reski, Eine Stadt, kein Disneyland, in: Tageszeitung/taz vom 19. November 2019.

4 In: Blätter 2/2019, hier zitiert nach Böhme-Kuby, Aus Italien, a.a.O., S.401.

5 Dazu heiß es beschönigend im Reiseführer: „Da die strengen Farbvorschriften für venezianische Häuser auf Burano nicht gelten, machen sich die Insulaner gegenseitig Konkurrenz mit knalligen Farben. Das Resultat ist eine Farbexplosion an den Kanälen – zum Entzücken der Fotografen.“ Venedig und Veneto, DK vis-à-vis, o.J. (2021), Seite 180.

6 Egon Grund, Venedig – Vorbild für eine autofreie Stadt, Dortmunder Vertrieb für Bau- und Planungsliteratur, Dortmund 1993.

7 A.a.O., Seite 25.

8 Dort Seite 73.

9 ACTV betreibt außer den Vaporetti auch Autobuslinien und die Straßenbahn auf dem Festland.

10 Was eine verkürzte Darstellung ist. Egon Grund: „Die Linie des umgekehrten S beschreibt keinen kontinuierlichen Bogen. Die Achse besteht aus unregelmäßig aneinandergereihten Geraden und Böden. So müsste, selbst wenn eine höhere Geschwindigkeit als 11 km/h zugelassen wäre, jeweils abgebremst werden. Ein stetiges, sehr schnelles Fahren, wie es bei innerstädtischen Hauptverkehrsachsen angestrebt und 

durch entsprechende Trassierungselemente wie Klothoiden ermöglicht wird, scheidet von vornherein aus.“ (S.44).

11 Seite 53.

12 Auch hier wäre es falsch, die ACTV ausschließlich im positiven Licht darzustellen. Vor Ort gibt es einige Kritik am Unternehmen; längst gibt es gefährliche Privatisierungstendenzen. So wurde das Unternehmen Alilaguna, das Wasserboot-Linien vom Flugplatz ins Centro Storico und nach Burano anbietet, ausgegliedert.

13 A.a.O., Seite 170.

14 Susanna Böhme-Kuby, Schikane auf Schienen, erstmals veröffentlicht in: Ossietzky 12/2010. Hier zitiert nach:  Aus Italien, a.a.O., Seite 164f. Die Verschleppung der 600.000 italienischen Militärangehörigen stellt nur einen Teil der Verbrechen des NS-Regimes, die in Italien begangen wurden, dar. Darüber hinaus verübten die deutschen Truppen im Zeitraum 8. September 1943 bis zum 25. April 1945 in den Dörfern und Städten Italiens mehr als 400 Massaker, bei denen 15.000 Zivilpersonen ermordet wurden.

15 Fahrplanangaben:  Dank an Andreas Kleber (Schorndorf) und Joachim Holstein (Hamburg). Selbst bei der Verbindung  Hamburg – Venedig, die in der Luftlinie rund 950 Kilometer und per Straße oder Bahn rund 1300 Kilometer lang ist, ist die Schiene dem Flugzeug überlegen: Wir sparen eine Übernachtung und verlieren, im Vergleich mit dem Flug, keine Zeit. Im Gegenteil: Der Weg zum Flughafen in Hamburg, so es denn einen Direktflug gibt, die extra Zeiten fürs Check-in usw. und die knapp 45-minütige Fahrt  vom Airport Marco Polo in Venedig übers Wasser ins Centro Storico, müssen eingerechnet werden, sodass wir auch bei einem frühen Flug ab Hamburg bestenfalls gegen Mittag  in Venedig sein können. Jetzt mal von der Reisekultur und von Rücksicht auf Klima und Umwelt abgesehen.

Erschienen im Frühjahrsheft 61 von Lunapark21