Mit der Kriegsgeräte-S-Klasse an die Front – kaum geschult in den Tod

Weltweite Rüstungsbranche und Ukraine-Krieg

Im Sommer 2022 war es Emmanuel Macron, der von der Notwendigkeit einer „europäischen Kriegswirtschaft“ sprach. Das konnte man noch als Alleingang des Präsidenten der Grande Nation und als Ausdruck der spezifischen Interessen der in der EU führenden französischen Rüstungsindustrie werten. Am 29. Dezember 2022 hatte dann die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Seite-1-Kommentar überschrieben mit „Der Umbau zur Wehrwirtschaft“.

Der Begriff Wehrwirtschaft wird auch in der heutigen wissenschaftlichen Literatur mit dem NS-Regime in Verbindung gebracht.1 Weitere zwei Wochen später machte die Frankfurter Sonntagszeitung auf der Titelseite auf mit „Europa braucht mehr Rüstungsfabriken“. Prominente Vertreterinnen und Vertreter von CDU/CSU, von den drei Ampel-Parteien und Rüstungsmanager überschlagen sich seither mit immer neuen Forderungen nach einer Hochrüstung. Die Wehrbeauftragte Eva Högel (SPD) verlangt, das Bundeswehr-Sondervermögen von 100 auf 300 Milliarden Euro zu verdreifachen. Sara Nanni, Obfrau der Grünen im Verteidigungsausschuss, will „die (Rüstungs-) Produktion hochfahren.“ Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vergleicht die aktuelle Lage mit dem Zweiten Weltkrieg. Er verweist darauf, dass „Amerika damals mit 2000 Flugzeugen in den Krieg hineingegangen und bis zum Ende 300.000 (Flugzeuge) gebaut hat. So sehen die Veränderungen aus, die wir brauchen. 3 Die Ukraine verschieße nach Einschätzung der NATO bis zu 10.000 Artillerie-Geschosse pro Tag. Die USA produzierten jedoch nur 15.000 Geschosse – im Monat.2

Mit dem geforderten Umbau zur „Kriegswirtschaft“ und zu einer „Wehrwirtschaft“ ist gemeint: Die „Ausrüster“ der europäischen Waffenbranche seien nach dem Ende des Kalten Kriegs bedauerlicherweise „zu Manufakturbetrieben geschrumpft“. Notwendig seien jetzt die „Großserienproduktion“ von Kriegsgerät, eine Massenfertigung von Munition und die Umsetzung von Großprojekten wie dem Kampfjetprogramm FCAS, dem neuen europäischen Panzer (herzustellen vom deutsch-französischen Unternehmen Nexter) und entsprechenden Programmen im Bereich Kriegsschiffe.

Börsenkurse und Krieg

Auslöser der aktuellen Hochrüstung ist zweifellos der Ukraine-Krieg. Dies lässt sich an den Börsenkursen der westlichen Rüstungskonzerne ablesen. Wir haben in Tabelle 1 in der ersten Gruppe die zwölf größten Rüstungskonzerne der Welt aufgeführt – sechs Konzerne mit Sitz in den USA, ein britischer, ein französischer und vier chinesische Konzerne. Die zweite Gruppe bilden fünf große europäische Rüstungskonzerne – soweit nicht in Gruppe 1 enthalten. Es sind drei rein französische Konzerne, ein französisch-deutsches Unternehmen und eine britische Firma mit starken Präsenz in Deutschland. In der dritten Gruppe sind die zehn größten rein deutschen Rüstungskonzerne aufgeführt, die alle aufgrund des geringeren Umsatzes weder in Gruppe 1 noch in Gruppe 2 auftauchen. Die größten russischen Rüstungsunternehmen sind in der getrennten Tabelle 2 zusammengefasst.

Auffallend bei Tabelle 1 ist: So gut wie alle westlichen Rüstungskonzerne weisen seit Beginn des Ukraine-Kriegs enorme Kursanstiege auf (siehe letzte Spalte). „Deutliches Plus“ meint eine Steigerung 35 bis 50 Prozent und „massives Plus“ eine Verdopplung des Aktienkurses. In einigen Fällen handelt es sich dabei um geradezu explosionsartige Sprünge nach oben. Das dokumentiert die Grafik zum konkreten Kursverlauf der Aktien von Rheinmetall und Hensoldt in der Quartalslüge (Seiten 8 und 9).

Bei den meisten Rüstungsunternehmen setzt der Kursanstieg nur wenige Tage nach Kriegsbeginn Ende Februar oder im März 2022 ein. Bei einigen Unternehmen – so bei Thales, Safran, Rolls Royce, MTU und Jenoptik – gibt es den Anstieg erst im Sommer 2022, nachdem deutlich wurde, dass der Krieg kein kurzer sein wird und nachdem sich die Aufträge für neue Waffensysteme niederschlugen.

Bei keinem der vier in der Spitzengruppe vertretenen chinesischen Rüstungskonzernen gab es einen Kursanstieg, bei dreien ist der Aktienkurs rückläufig. Das spricht dafür, dass es bislang keine relevanten chinesischen Waffenlieferungen an Russland gibt.

Russische Rüstungsindustrie

Für die russischen Unternehmen gilt natürlich auch, dass der Krieg deren Umsätze massiv steigert – wahrscheinlich nochmals stärker als bei vielen westlichen Unternehmen. Aktuelle Umsatzzahlen liegen dafür nicht vor. Auch lässt sich dies nicht an Aktienkursen messen, da diese Unternehmen nicht an Börsen gelistet sind. Präsident Wladimir Putin äußerte allerdings Ende 2022, „dass es „keine finanziellen Beschränkungen“ bei der Rüstung geben würde. Im Übrigen sollen die Streitkräfte um knapp 350.000 Soldaten auf eine Stärke von 1,5 Millionen Mann ausgebaut werden.

Drei Dinge sind hier festzuhalten: Erstens: Die aufgeführten größten russischen Rüstungsunternehmen zählen weltweit nicht zur Spitzengruppe. Selbst unter den europäischen Konzernen liegt der größte – Almas Antei – mit umgerechnet 6 Milliarden Euro Umsatz auf der Höhe von Safran und vor Rolls Royce. Zweitens: Es gab in den drei Jahren vor dem Ukrainekrieg einen deutlichen Rückgang bei den russischen Rüstungsausgaben. Laut SIPRI „sanken die Rüstungsverkäufe von Almaz-Antey und United Shipbuilding Corporation im Jahr 2020 um 31 bzw. 11 Prozent.“ Lediglich United Aircraft Corporation verzeichnete ein Plus von 16 Prozent.4 Drittens , so SIPRI im Jahr 2020, „implementieren russische [Rüstungs-) Firmen zurzeit eine vom Staat angegebene Richtlinie, die besagt, dass zivile Güter bis zum Jahre 2025 30 Prozent und bis 2030 50 Prozent der Umsätze der russischen Rüstungshersteller ausmachen müssen“.5

Das spricht entweder dafür, dass die Kreml-Führung den Überfall auf die Ukraine nicht langfristig plante. Oder dass sie davon ausging, dass im Fall einer solchen Invasion die bestehenden und teilweise rückläufigen Kapazitäten für einen schnellen Sieg ausreichen würden. Was durch den konkreten Verlauf der Invasion in den Monaten Februar bis Mai 2022 unterstrichen wurde: Der Marsch auf Kiew scheiterte kläglich.

Waffen für den ukrainischen Sieg oder Waffentests und Lagerräumung?

Ende Januar konnte man im Spiegel lesen: „Mit der S-Klasse in den Krieg“. In dem Artikel heißt es, Experten hätten erwartet, dass die deutsche Regierung eher ältere Leopard-2-Panzer an die Ukraine liefern würde – doch nun werde Kiew eine der modernsten Versionen zur Verfügung gestellt. Ausdrücklich heißt es, dass dieses System besonders „komplex“ sei: „Wenn der Leopard 2A4 der VW Golf 1 ist, bei dem ein begabter Schrauber noch selbst Hand anlegen kann, gleicht der 2A6 der erstmals mit Elektronik vollgestopften S-Klasse W 140 von Mercedes. Die Ausbildung an dem elf Meter langen Gerät ist deutlich schwieriger.“6

Bei der Bundeswehr werden für die Ausbildung an diesem Panzer drei Monate oder zwölf Wochen und länger veranschlagt. Seit Februar werden in Munster 80 ukrainische Soldaten für den Einsatz an diesem modernen Leo-2 ausgebildet – in sechs Wochen, mit einer 6-Tage-Woche und 12-Stunden-Schichten, wobei es sich um Soldaten handelt, von denen „nur ein Drittel über Vorkenntnisse bei Panzern und Kampferfahrung (verfügt). Zwei Drittel hingegen sind Reservisten und Zivilisten, die Zivilisten sind also absolute Novizen.“7 Es verbietet sich, im Zusammenhang mit der Ausbildung an Tötungsmaschinen ein Wort wie  „unverantwortlich“ zu benutzen. Versetzt man sich in die Denke eines ukrainischen Militärs, dann ist diese Art der Auswahl von Kriegsgerät und der Ausbildung an demselben jedoch in jedem Fall unprofessionell. Die Panzerbesatzungen werden auf diese Weise – ähnlich wie die jungen, kaum ausgebildeten und neu ausgehobenen russischen Soldaten, die s eit Herbst 2022 an die Front geschickt werden – als Kanonenfutter eingesetzt. Aus Sicht des Panzerbauers Rheinmetall dürfte es allerdings das Motiv eines Tests unter realistischen Bedingungen geben.

Ein Blick auf die weltweit verstreuten Bestände an Leo-2-Panzern verweist im Übrigen auf zwei Dinge. Erstens, dass ein großer Teil der vorausgegangenen Panzerlieferungen aufgeschwatzt oder mit Bestechungsgeldern verbunden war: Warum gibt es in der gebirgigen Schweiz bis heute eine Flotte von 134 Leo 2-Panzern? Warum gibt es in Spanien (327) und Griechenland (353) mehr Leo-2-Panzer als in Deutschland (321)?8

Zweitens. Zumindest ein Teil der Rüstungsexporte in die Ukraine dient dem Ziel der Lagerräumung. So lieferte Griechenland an die Ukraine bis März keine Leo-2-Panzer, sondern Schützenpanzer sowjetischer (!) Bauart. Bei den Lieferungen von vier Leo-2-Panzern aus Kanada handelt es sich um die veraltete Version 2A4. Polen lieferte an die Ukraine bis Anfang März vier Leo-2-Panzer und will weitere liefern. Dabei muss man wissen, dass die Regierung in Warschau aus dem Leopard-Panzer-Programm ganz aussteigen und in den USA unter anderem Abrams-Panzer kaufen will.

Generell stammt  ein sehr großer Teil der Waffenlieferungen an die Ukraine aus veraltetem Kriegsgerät sowjetischer Bauart. Vor allem in Polen, Tschechien, in den baltischen Staaten und in Tschechien werden die Lager geleert. Was die Basis dafür ist, dass es vor allem bei den europäischen Nato-Mitgliedsländern zu einem Boom bei der Bestellung neuer Waffen, neuer Munition und Panzer neuester Bauart kommt.

Anmerkungen:

1 Siehe z.B. Michael von Prollius, Die nationalsozialistische Wehrwirtschaft. Eine kollektivistische Organisation von Herrschaft und Gesellschaft, Forum Freie Gesellschaft, Februar 2016, file:///C:/Users/Winfried%20Wolf/Downloads/FFG_160203_NS-WiS_MvP.pdf

2 Alle vorausgegangenen Zitate nach: FAS vom 15. Januar 2923.

3 Redaktionsnetzwerk Deutschland vom 23. Dezember 2022; https://www.rnd.de/politik/russland-putin-klettert-auf-panzer-und-fordert-mehr-ruestungsanstrengungen-3LS4JS4HSV6HY7JVXOHKSGKWLY.html

4 SIPRI vom 6. Dezember 2021; https://sipri.org/sites/default/files/2021-12/sipri_top_100_pr_ger.pdf

5 Wie [4].

6 Spiegel 5/2023 vom 28. Januar 2023.

7 „Sie üben bis zum Umkippen“, Focus Online vom 3. März 2023 https://www.focus.de/politik/deutschland/heiss-auf-jedes-detail-so-bildet-heer-selenskyjs-soldaten-am-leo-2-im-kampf-gegen-putin-aus_id_187236966.html

8 Quelle IISS, Stand: Mitte Januar 2023; hier nach: Der Spiegel vom 28.1.2023. Dass der gewaltige Leo-2-Bestand in Griechenland auf Basis massiver Bestechung zustande kam, ist im Detail belegt. Der für die entsprechende Kasse bei Siemens, damals am Rüstungskonzern Krauss Maffei, der wiederum zusammen mit Rheinmetall die Leo-Panzer baute, beteiligt, verantwortliche Finanzer, Reinhard Siekaczek, hatte alle entsprechenden Schwarzgeld-Zahlungen registriert, sich Kopien zugelegt und diese bei einem Bekannten versteckt („Das war meine Lebensversicherung“). Alle Bestechungsvorgänge  legte er später vor Gericht offen. Ausführlich in: Nikos Chilas / Winfried Wolf, Die griechische Tragödie, Wien 2018 108. Im Spiegel wurde jüngst (9/2023) unter der Überschrift „Schwarze Kassen, gelbe Zettel“ an den spektakulären Fall Siekaczek erinnert – der Verweis auf Siemens taucht jedoch nur einmal am Rande auf, Rheinmetall, Krauss Maffei und Waffenkäufe werden e rst gar nicht erwähnt.