Die Pandemie solidarisch europaweit eindämmen

Regierungen schützen die Kapitalinteressen – nicht die Gesundheit der Menschen

Verena Kreilinger – Winfried Wolf – Christian Zeller

4. Januar 2021

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Verena Kreilinger, Medienwissenschaftlerin, ist in Salzburg aktiv in der Klimabewegung und bei Aufbruch –für eine ökosozialistische Alternative; verena.kreilinger@gmail.com

Winfried Wolf, Politologe und Mitbegründer von FaktenCheck: Corona. Chefredakteur von Lunapark 21, Bücher zu Weltwirtschaft, Verkehr und Stuttgart 21, redmole@gmx.net>;

Christian Zeller lehrt Wirtschaftsgeographie und Global Studies an der Universität Salzburg, engagiert sich für eine transnationale ökosozialistische Bewegung von unten, christian.zeller@sbg.ac.at

Inhalt

Die Pandemie solidarisch europaweit eindämmen. Zwölf Thesen – Zusammenfassung 3

1Einleitung 9

2Pandemie ist außer Kontrolle 10

3Rückblende Frühsommer 2020 13

4Ein europaweites Versagen 15

5Der Sommer der verpassten Chancen 16

6Das Rätselraten über Ansteckungsorte und Ansteckungsarten 21

7Tracing erfordert Personal 24

8Wesentlich weniger Corona-Tote in großen Teilen von Asien, Afrika und in Australien 25

9Warum hatte die zweite Welle so lange freien Lauf? 26

10Große dürfen saufen – Kleine lässt man ersaufen 29

11Krise und Pandemie 30

12Dilemma der Lohnabhängigen – Mitverantwortung der Gewerkschaften 31

13Eine radikale Perspektive annehmen 33

14Impfen ist wichtig, besiegt aber die Pandemie nicht kurzfristig 34

15Umrisse einer europäischen solidarischen Perspektive 35

Die Pandemie solidarisch europaweit eindämmen

Zwölf Thesen – Zusammenfassung

Verena Kreilinger – Winfried Wolf – Christian Zeller

1

Außer Kontrolle // Anfang 2021, ein gutes Jahr nach der ersten Identifizierung des Sars-CoV-2 Virus, ist die Epidemie in großen Teilen der Welt, so insbesondere in den USA, in Lateinamerika und in Europa, mit der zweiten Welle weitgehend außer Kontrolle geraten. Obwohl inzwischen Massenimpfungen begonnen haben, steigt die Zahl der Menschen, die mit einer Corona-Virus-Infektion sterben dramatisch an. Die Mutationen des Virus häufen sich. Die Virusvariante B117 weist eine wesentlich höhere Übertragbarkeit auf und vermehrt sich rasend schnell. Im Februar 2021, ein Jahr, nachdem die Epidemie im Westen ankam, wird die Zahl von 2,2 Millionen Corona-Toten erreicht sein.

Eine zentrale Aussage in diesem Papier – wie zuvor in unserem Buch „Corona, Kapital, Krise“ – lautet: Diese Entwicklung war absehbar. Die Verantwortung dafür tragen die Regierenden und die herrschenden Kreise, die diese Regierungen unterstützen.

2

In drei Phasen der Epidemie haben sich die Regierungen für die Inkaufnahme zusätzlicher Zehntausender Toter entschieden // Die europäischen Regierungen und die EU haben während dieser Pandemie sich in drei Perioden in besonderer Weise gegen den Schutz der Gesundheit der Menschen entschieden: Zunächst in den ersten zehn Wochen des Jahres 2020, als alle Verantwortlichen die Epidemie verharmlosten: Das Virus wurde latent rassistisch als eine chinesische Angelegenheit abgetan. Schutzmaßnahmen wurden nicht ergriffen. Der Ausbreitung der Epidemie wurden Tür und Tor geöffnet. Sodann in den Monaten Mai bis August 2020, als es nach einem ersten Lockdown eine gewisse Eindämmung der Epidemie gab: Diese Zeit mit sinkenden oder stagnierenden Infektions-Zahlen wurde nicht genutzt, um die Eindämmung fortzusetzen. Stattdessen gab es einen Wettlauf von Lockerungen – mit den fatalen Folgen, die seit September 2020 festzustellen sind. Im Herbst 2020 taten die Regierungen das Falsche. Obwohl sich die Ansteckungen bereits wieder exponentiell vermehrten, griffen sie bewusst nicht oder ungenügend ein und wogen die Menschen in Sicherheit. Erst ab November agierten sie erneut, zunehmend überhastet und autoritär.

3

Dass eine andere Politik möglich war, zeigen mehr als ein Dutzend Länder // Anfang 2021 entfallen von den 1,8 Millionen Corona-Tote 72 Prozent auf die Regionen USA, Lateinamerika und EU. In diesen Regionen leben jedoch nur 18 Prozent der Weltbevölkerung. Zu überprüfen ist, was die Ursachen für diese ungleiche Verteilung sind. Sicher ist: Es gibt (wie in Tabelle 2 in unserem Text dokumentiert) mehr als ein Dutzend Länder, in denen die Epidemie durch eine Mixtur von wirksamen Lockdowns und einem hohen Einsatz von Personal zur Identifikation und Nachverfolgung der Infektionsketten weitgehend eingedämmt und die Zahl der Corona-Toten bei einem Bruchteil derjenigen, die in den USA und in Europa zu beklagen sind, verblieb. In diesen Ländern wurde weitgehend eine Pandemiepolitik betrieben, wie wir sie in These 12 empfehlen.

4

Das fatale Ausklammern des Bereichs Fabriken und Büros // Es gibt in Europa und insbesondere in Deutschland eine intensive Debatte über die Ansteckungsorte und Ansteckungsformen. Dabei vor allem der private Bereich als wesentlicher Ort der Ansteckung identifiziert. Dabei fällt auf: der Arbeitsplatz (Fabriken, Büros, Logistik-Zentren) taucht in diesen Betrachtungsweisen und Statistiken nicht auf. Das passt in die gesamte Eindämmungsstrategie, bei welcher die Restriktionen primär die Individuen und den Freizeitbereich treffen, wohingegen der Bereich der Arbeit – sprich: der Mehrwertproduktion und Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft – ausgeklammert ist, ja fast zu einer Tabuzone in der Corona-Debatte wurde.

5

Für das Verfolgen der Infektionsketten benötigt man Personal – doch dieses wurde drastisch reduziert // Entscheidend für die Pandemie-Eindämmung sind die Identifizierung der Infektionen und das Verfolgen der Infektionsketten. Die dafür verantwortlichen Einrichtungen – in Deutschland und Österreich die Gesundheitsämter – sind dafür weder personell noch technisch ausreichend ausgestattet. Während diese Ämter im ersten Halbjahr 2020 noch in der Lage waren, gut zwei Drittel der Infektionsketten zu identifizieren, werden sie seit Ende 2020 vom Infektionsgeschehen völlig überrollt. Dieses findet weitgehend außerhalb jeglicher Kontrolle seitens dieser entscheidenden Behörde statt. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass das Personal dieser Ämter in den letzten 30 Jahren massiv reduziert wurde – und dass es seit Beginn der Corona-Epidemie kaum eine Aufstockung desselben gab.

6

Die Interessensverbände der Wirtschaft sind für die Corona-Politik mitverantwortlich // Die Verantwortlichen behaupten, von der Zweiten Welle der Pandemie überrascht worden zu sein. Das stimmt nur zum Teil – und dort, wo dies zutrifft, ist dies ein Beleg für Ignoranz. Denn die Warnungen der Wissenschaft gab es lange vor Corona und seit den ersten Monaten der Pandemie ohne Unterbruch. Tatsächlich gibt es für diese Politik eine andere Erklärung: Die Regierungen in den genannten Regionen stehen unter dem Diktat der kapitalistischen Wirtschaft. Diese drängte von Anfang an darauf, die Restriktionen so gering wie möglich zu halten bzw. solche immer wieder aufs Neue zu lockern. In dieser Situation ist die offizielle Corona-Politik dadurch definiert, dass es dann Teil-Lockdowns gibt, wenn die Situation außer Kontrolle zu geraten droht. Sobald es zu einem gewissen Rückgang der Infektionen kommt, werden wieder die Zügel gelockert – bis die Gesellschaft erneut an den Rand der Katastrophe gerät… Diese Politik verfolgt faktisch heimlich das zynische Prinzip der Herdenimmunität. Sie ist verantwortungslos und primär orientiert an der maximalen Kapitalverwertung.

7

Die Corona-Gelder vergrößern die soziale Ungleichheit // Die Regierungen haben Rekordsummen im Kampf gegen Corona investiert. Doch diese Gelder flossen zum aller größten Teil in die Kassen und auf die Konten der Konzerne und Banken, der Wohlhabenden und Vermögenden. Diejenigen, die am meisten unter der Epidemie leiden (und die oft auch gesundheitlich am stärksten von ihr betroffen sind), sind die Obdachlosen, die Arbeitslosen, die prekär Beschäftigten, Menschen in Kurzarbeit, die Kleingewerbetreibende, Kunstschaffende und die migrantische Bevölkerung. Tatsächlich sind die sozialen Schäden der Pandemie extrem hoch. Doch dies sind nicht, wie die Corona-Leugner sagen, die Folgen der Restriktionen. Diese Schäden sind so groß, weil die Politik mit den Corona-Steuergeldern eben keinen solidarischen Schutzschirm aufgespannt hat, sondern einseitig die Oberklasse begünstigt. Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es eine derart große Zusammenballung von Reichtum in den Händen weniger Tausend; dieser Prozess der Reichtumskonzentration hat sich im Corona-Jahr 2020 enorm beschleunigt.

8

Die Corona-Krise ist tief. Sie wird das Jahr 2021 bestimmen und in Sparorgien münden// Pandemie und Krise verschränken sich 2020/2021. 2020 gab es den größten Rückgang der Weltwirtschaft seit 1930. Auch das Jahr 2021 wird von den Krisenerscheinungen geprägt sein. Die Gefahr Zehntausender Pleiten und eines drastischen Anstiegs der Arbeitslosigkeit besteht weiter. Die massiv angestiegene Verschuldung auf allen Ebenen und das zeitweilige Aussetzen der „Schuldenbremsen“ werden spätestens Ende 2021 dazu führen, dass die Regierenden Sozialabbau und Reduktionen von Realeinkommen verordnen.

9

Gewerkschaften und linke Parteien haben versagt. Sie müssen die Gesundheit der Beschäftigten ins Zentrum rücken // Die Gewerkschaften und so gut wie alle linken Parteien haben keine Konzepte zum Schutz der Arbeitenden und Erwerbslosen entwickelt, kaum konkrete Forderungen aufgestellt, wonach die Reichen und Vermögenden, die Konzerne und Banken, für Epidemie-Kosten aufzukommen haben. Erste Aufgabe von Gewerkschaften ist es, die Lohnabhängigen zu verteidigen. In Zeiten der Epidemie heißt das, deren Gesundheit ins Zentrum zu rücken. Die Gewerkschaften müssen alles unternehmen, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren und die Gesundheit der Beschäftigten und ihrer Angehörigen sicher zu stellen. Das bedeutet auch: Es muss wirksame Schutzmaßnahmen an den Arbeitsplätzen geben.

10

Coronaleugner verfolgen einen Sozialdarwinismus – Wer die Kritik am Abbau demokratischer Rechte vor den Gesundheitsschutz stellt, handelt inhuman // Das Leugnen der Epidemie ist weiter stark verbreitet – trotz massiver Ausweitung der Epidemie, trotz stark steigender Zahl der Corona-Toten. Diese Positionen ähneln denjenigen der Klimaleugner. Gleichzeitig befinden sie sich (auch hier wie beim Klimaleugnertum) objektiv im Gleichklang mit den Interessen der Kapitalvertreter: diese haben, wie in These 6 dargelegt, kein Interesse an einer wirksamen Eindämmung der Epidemie. Insofern ist es kein Zufall, dass der reaktionäre Ex-Präsident der USA Donald Trump und der faschistoide brasilianische Präsident Jair Bolsonaro die Epidemie-Gefahr lange Zeit mit denselben Argumenten leugneten und dass so gut wie alle Interessenverbände des Kapitals in der Epidemie plötzlich für Demokratie eintreten und dies in einen Gegensatz zu wirksamen Maßnahmen gegen die Epidemie stellen. Richtig ist: Demokratische Rechte und das Streikrecht sind in Gefahr, wenn man den Regierenden die Gesundheitspolitik überlässt. Doch diese demokratischen und gewerkschaftlichen Rechte können nur wirksam verteidigt werden, wenn die Linke und die Gewerkschaften selbst eine wirksame Politik gegen die Epidemie unter besonderer Berücksichtigung der unteren Klassen und Schichten entwickeln. Der Abstentionismus jedoch, den die Gewerkschaften bei diesem Thema pflegen, treibt die Menschen eher in Apathie und Entpolitisierung – was wieder der Nährboden für Rechtsextremismus und Faschismus ist. Das Querdenkertum mag sich ursprünglich aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten zusammengesetzt haben. Inzwischen ist diese Bewegung von rechten und faschistoiden Strömungen beherrscht.

11

Das Starren auf den Impfstoff und eine massenhafte Impfkampagne ist problematisch und ergänzt im gewissen Sinn die falsche Corona-Politik // Ein wirksamer Corona-Impfstoff macht nur Sinn als Ergänzung einer Politik, die umfassend auf eine Eliminierung der Epidemie und ihrer Ursachen abzielt. Die Corona-Impfstoffe werden selbst in den reichen Regionen der Welt erst im Herbst 2021 Wirkung zeigen. Weltweit frühestens im ersten Halbjahr 2022. Lässt man aber dem Virus diese Zeitspanne, dann kostet das weiteren Hunderttausenden Menschen das Leben. Vor allem häufen sich mit der weiteren Ausbreitung des Virus die Mutationen. Weisen diese eine höhere Ansteckungsrate auf, droht die Epidemie sich so schnell ausweiten, dass die Impfkampagnen nicht mehr hinterherkommen. Zudem müssen möglicherweise bald – wie bei der weniger gefährlichen Grippe – ständig neue Impfstoffe entwickelt und neue Impfkampagnen gestartet werden. Das mag für Impfstoffhersteller, nicht jedoch für die Menschheit, eine interessante Perspektive sein. Notwendig sind Sofortmaßnahmen zur wirksamen Eindämmung des Virus. Nur damit wird die Gefahr von Mutationen stark minimiert – mit der Chance, sie im Keim immer neu zu ersticken.

12

Eine internationale, linke Kampagne zur Eindämmung der Epidemie ist notwendig – und möglich // Wir schließen uns dem internationalen Aufruf für die konsequente Eindämmung der Covd-19 Pandemie in Europa an. Ziel muss sein, die Infektionen auf ein Minimum zu reduzieren und das Virus wirkungsvoll einzudämmen. Das erfordert strikte Lockdown-Maßnahmen, die auch den Bereich der Arbeitsplätze erfassen, gepaart mit einem massiven Aufstocken der Zahl der Beschäftigten in den Gesundheitsämtern, um ein solches Identifizieren und Nachverfolgen erst zu ermöglichen. Ziel muss sein: Jede einzelne SARS-CoV-2-Ansteckung in Europa muss direkt nachvollziehbar sein. Auf dieser Basis wird es möglich sein, Schritt für Schritt wieder ein normales Alltagsleben zu ermöglichen.

Diese Politik ist zu ergänzen um Forderungen, die die Profitlogik im Gesundheitssektor und in der Pharmaindustrie grundlegend in Frage stellen. Beide Sektoren müssen perspektivisch unter öffentliche Kontrolle gestellt werden. Sofortforderungen dabei sind: das Außerkraftsetzen des Prinzips der Fallpauschalen in den Krankenhäusern, der sofortige Stopp aller Krankenhaus-Schließungen und die Produktion der wirksamen Corona-Impfstoffe in Anlagen unter öffentlicher Kontrolle.

Eine solidarische Perspektive in den Zeiten der Pandemie heißt: Im Zentrum stehen der Mensch, die menschliche Gesundheit, die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft und deren Interessen und die gemeinschaftliche Bekämpfung der Epidemie. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andererseits. Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat. Die Einheit von beidem ist in der gegebenen Situation der entscheidende Schritt zur solidarischen Gesellschaft.

1 Einleitung

Die Covid-19-Pandemie ist in weiten Teilen Europas außer Kontrolle geraten. Das verdeutlichen die seit Oktober 2020 enorm beschleunigten Zahlen der Infektionen und der Corona-Toten und die Mutationen des Virus mit erheblich schnellerer Verbreitung und steilerer exponentieller Kurve. Die Ansteckungen explodieren derzeit in England, vor allem in London. Die neue Variante B 117 des Sars-CoV-2 Virus breitet sich enorm schnell aus und macht auch vor Landesgrenzen nicht halt. Der neue Virusstrang wurde bereits in vielen Ländern identifiziert. WissenschaftlerInnen verlangen geradezu verzweifelt wirksame und radikale Maßnahmen in ganz Europa. Das Starren auf den Impfstoff und die Wirkung der Impfkampagnen könnte sich als fatal erweisen – vor Herbst 2021 werden die Vakzine keine flächendeckende Wirkung entfalten können; das Virus wird sich in Europa und Amerika – und noch mehr im globalen Süden mit Rückwirkung auf Europa, Nord- und Südamerika, weiter ausbreiten können. Dringender denn je brauchen wir eine europäische solidarische Antwort.

Diese verheerende Entwicklung kann nicht überraschen. Sie entspricht ziemlich genau jenem Szenario, vor dem WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen im Frühjahr und Sommer gewarnt hatten, wenn die Regierungen nicht angemessen handeln. ForscherInnen mahnten eindringlich zu energischen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Sars-Cov-2-Virus, als dies im Frühjahr und Sommer leicht möglich war. Als im Spätsommer und Herbst die Ansteckungen abermals exponentiell anstiegen, blieben die Warnungen erneut unerhört. Die Regierungen wussten, was sie tun. Sie stellten sich bewusst auf die Seiten der Kapital- und Profitinteressen. Jetzt bezahlen Hunderttausende von Menschen in Europa mit ihrem Leben und viele weitere mit langanhaltenden gesundheitlichen Leiden.

Wir haben bereits zu Beginn der Pandemie am 24. März1 und am 4. April mit einem ausführlichen Diskussionsbeitrag und Anfang September mit unserem Buch Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in Zeiten der Pandemie2 in die Diskussion eingegriffen. Nun schreitet die Pandemie so voran, wie das zahlreiche WissenschafterInnen, auf deren Arbeiten wir uns bereits im Frühjahr bezogen haben, vorhergesagt haben. Doch die Regierungen legen eine noch größere Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Wohl und der Gesundheit der Menschen an den Tag als wir das im Frühjahr und Sommer 2020 erwarteten.

In dieser Situation anerkennen wir die Bedeutung der Initiative aus der Wissenschaftswelt. Am 19. Dezember wandten sich mehrere hundert WissenschaftlerInnen mit der Forderung nach einer konsequenten europäischen Strategie zur umgehenden und nachhaltigen Eindämmung der Pandemie an die Öffentlichkeit. Wir unterstützen diese Initiative, obwohl in ihrem Forderungskatalog noch die ökonomischen und sozialen Maßnahmen zur Linderung der Last für die Lohnabhängigen und die Armen fehlen. Schließlich ist es Aufgabe sozialistischer Parteien, der Gewerkschaften und sozialer Bewegungen, ein sozialökologisches Forderungsprogramm aufzustellen und dieses möglichst weit durchzusetzen. Mit der vorliegenden Analyse und den Vorschlägen gegen Ende dieses Dokuments wollen wir zur Diskussion über eine solidarische Perspektive anregen. Es ist absolut dringend, dass Gewerkschaften, soziale Bewegungen und sozialistische Organisationen sich mit einem eigenständigen Programm in die öffentliche Auseinandersetzung einbringen. Dieses Programm soll sich an der selbständigen Organisierung der Menschen im Betrieb und am Wohnort orientieren und dazu beitragen, die Regierungen zu einem energischen Handeln gegen die Pandemie zwingen.

2 Pandemie ist außer Kontrolle

Die Covid-19-Pandemie hat Europa und die USA fest im Griff. Seit Herbst 2020 schnellten in allen Ländern Europas und in den USA die Ansteckungen, die Erkrankungen und bald danach auch die Todesfälle auf Rekordhöhen. Die meisten Länder verzeichnen Ende 2020 eine hohe und im Falle der Schweiz sogar eine extrem hohe Übersterblichkeit.3 Wobei die nationalen Durchschnittswerte wenig über die Realität in besonders stark von Pandemie betroffenen Regionen aussagen. Die Übersterblichkeit ist in einzelnen Städten und Regionen noch deutlich höher. Setzen wir die Covid-19-Sterbefälle in den am stärksten betroffenen Ländern ins Verhältnis zur Bevölkerungsgröße, so ergibt sich ein ernüchterndes Bild.

Anfang 2021 hat die Zahl der Corona-Toten in Italien 75.000 überschritten, bezogen auf 100.000 Einwohner waren es am 31.12.2020 123. Spanien hat zum selben Zeitpunkt absolut 51.000 Corona-Tote zu beklagen oder 107 auf 100.000 Menschen. In den USA sind es absolut 350.000 und 106 auf 100.000 Menschen. In Frankreich 65.000 oder 97 auf 100.000. Schweden, das sich ein gutes halbes Jahr lang rühmte, mit seinem Sonderweg der Bevölkerung mehr Freiheiten zu bieten und dennoch die Epidemie unter Kontrolle halten zu können, hat zum gleichen Zeitpunkt 8730 Corona-Tote zu beklagen und kommt damit auf den hohen Wert von 85 Corona-Toten auf 100.000 Menschen. Die Schweiz liegt mit absolut 7.650 und 89 Corona-Toten je 100.000 Menschen nahe an den Negativ-Rekorden. Die Zahlen für Österreich (absolut 6.250) und Deutschland (absolut 34.000 Corona-Tote) mit 70 bzw. mit 41 Corona-Toten je 100.000 Menschen sind etwas weniger hoch – jedoch eben nur verglichen mit den zitierten Negativ-Rekorden. Noch vor vier Monaten hatten Bundeskanzler Kurz und Bundeskanzlerin Merkel einen vergleichbaren Anstieg der Corona-Opfer für völlig ausgeschlossen erklärt und die Bevölkerung mit den zunächst jeweils angekündigten Lockerungen an Weihnachten in der Sicherheit gewiegt, „das Schlimmste“ sei überstanden.

Über den Jahresverlauf 1. März 2020 bis 28. Februar 2021 hinweg werden es – grob überschlagen – weltweit gut 2,2 Millionen Corona-Tote sein. Das sind bereits doppelt so viel wie die weltweiten Straßenverkehrstoten in einem Jahr. Wir erinnern daran: Im Frühjahr 2020 haben viele, die die Epidemie relativieren oder gar leugnen, auf eben die Straßenverkehrsopfer verwiesen und erklärt, die Corona-Toten seien damit verglichen doch eine eher zu vernachlässigende Größe.

Dass es bislang nicht zu noch viel höheren Opferzahlen kam, hat einen einzigen Grund: die von Milliarden Menschen – meist freiwillig, oft auch als Resultat staatlichen Zwangs – befolgten Maßnahmen des social distancing retteten Hunderttausenden Menschen das Leben. Das lässt sich konkret an der Entwicklung der Zahl derjenigen, die an einer Corona-Infektion starben, dokumentieren.

Bis Anfang Januar 2021 sind mehr als 1,8 Millionen Menschen aufgrund einer COVID-19-Infektion gestorben. Wir schreiben bewusst nicht „an und mit dem Virus gestorben“. Gemeint ist: Mindestens 1,8 Millionen Menschen starben bislang als direkte Folge einer Corona-Infektion.4 Und wir wählen auch bewusst die Zahl der registrierten Corona-Toten und nicht die Zahl der Infektionen, weil die Angaben für die Epidemie-Toten deutlich belastbarer sind. Allerdings sei darauf verwiesen, dass Millionen Menschen, die nach einer Corona-Erkrankung wieder genesen sind, aufgrund dieser Infektion für den Rest ihres Lebens mit oft erheblichen gesundheitlichen Schäden belastet sind.

Bevor wir in Kapitel 4 nochmals auf die aktuellen Zahlen in Europa Anfang 2021 zurückkommen, wollen wir einen Blick auf die weltweit deutlich ungleiche Entwicklung der Epidemie werfen. Siehe hierzu die Zusammenstellung in Tabelle 1.

Die Corona-Toten-Zahlen sind ausgesprochen aufschlussreich.

Erstens Die Corona-Toten in der Tabelle addieren sich auf 1,573 Millionen oder 86,2 Prozent aller Corona-Toten weltweit. In diesen Ländern beziehungsweise Regionen leben gut drei Milliarden Menschen, was 39,1 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Auf knapp 40 Prozent der Weltbevölkerung entfallen demnach mehr als 85 Prozent aller registrierten Corona-Toten.

Zweitens Nimmt man nur die USA, Lateinamerika und die (um drei Länder ergänzte) EU, so sind die Relationen nochmals extremer: In diesen „westlichen Regionen“ leben 1,4 Milliarden Menschen, was lediglich 18,5 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Dort wurden jedoch 1,3 Millionen Corona-Tote registriert, was 72,0 Prozent aller Corona-Opfer entspricht.

Drittens Die Zahl der weltweit registrierten Corona-Toten an einem einzelnen Tag (letzte Zeile in der Tabelle) hat sich – mit der Ausnahme des Zeitraums Ende Juli bis Ende September 2020 – kontinuierlich erhöht. Die jüngste hier dokumentierte Steigerung (Ende Dezember) ist mit 14.000 Toten täglich die bislang größte. Die Dynamik der Pandemie ist nicht gebrochen; im Gegenteil. Der designierte US-Präsident Joe Biden sagte am 4. Dezember: „Ich will niemandem Angst einjagen, aber […] wir werden zwischen jetzt und Januar wahrscheinlich weitere 250.000 Menschen verlieren“. Das dürfte sich als Übertreibung erweisen; doch 150.000 Menschen verlieren in den USA in diesen beiden Monaten ihr Leben als Resultat der Epidemie.

Tabelle 1: Zahl der Corona-Toten im Zeitraum 31. März bis 31. Dezember 2020 weltweit, in den USA, in der EU (ergänzt um Großbritannien, Norwegen und die Schweiz), in Lateinamerika, Indien, Iran und Russland – absolut und in Prozent der weltweiten Todesopfer


Region 31.3. 2020 31.5. 31.7. 30.9. 30. 11. 31. 12. 2020 Bevölkerung in Mio und Anteil an Weltbevölkerung
1 Welt (absolut) 45.249 386.216 693.960 1.026.096 1.485.991 1.825.030 7.800 Mio. = 100%
2a USA absolut 5.207 109.019 157.216 211.744 273.101 345.826 328 Mio. = 4,2%
2b in % der weltweiten Corona-Toten 11,5% 28,2% 24,7% 20,6% 18,4% 18,9%
3a EU erweitert* absolut 28.440 166.955 179.574 192.280 328.171 452.385 461 Mio. = 5,9%
3b in % der weltweiten Corona-Toten 62,9% 43,3% 25,9% 18,7% 22,8% 24,8%
4a Latein-amerika** absolut 676 59.704 212.004 348.297 446.268 505.693 650 Mio. = 8,3%
4b in % der weltweiten Corona-Toten 1,5% 15,5% 30,6% 33,9% 30,0% 27,7%
5a Indien Absolut 35 4.980 36.551 98.708 138.159 149.018 1.380 Mio. = 17,7%
5b in % der weltweiten Corona-Toten 0,0% 1,3% 5,3% 9,6% 9,3% 8,2%
6a Iran absolut 2.898 7.797 16.766 26.380 48.246 55.223 82 Mio. = 1,1%
6b in % der weltweiten Corona-Toten 6,4% 2,0% 2,4% 2,6% 3,3% 3,0%
7a Russland absolut 9 4.555 14.058 20.722 39.895 57.019 145 Mio. = 1,9%
7b in % der weltweiten Corona-Toten 0,0% 1,2% 2,0% 2,0% 2,7% 3,1%***
8 Corona-Tote am Tag weltweit**** 4.754 5.365 7.073 5.836 12.267 14.320

* EU plus Großbritannien, Norwegen und Schweiz // ** Mexiko, Mittelamerika, Karibik u. Südamerika // *** Angaben für Russland ohne die neuen, korrigierten Zahlen, die bei 186.000 liegen // **** 5-Tages-Durchschnitt

Quellen: John Hopkins University (JHU), USA, https://coronavirus.jhu.edu/map.html und www.worldometer.com

3 Rückblende Frühsommer 2020

Die herrschende Epidemie-Politik in der EU – und durchaus auch in Berlin – hat in zwei Phasen komplett versagt. Zunächst in den ersten zehn Wochen des Jahres 2020, als die Epidemie in unverantwortlicher Weise verharmlost (der deutsche Gesundheitsminister Spahn sagte im Februar 2020, es handle sich um „eine besonders milde Form der Grippe“) und keinerlei Vorbereitungen auf eine erste Welle ergriffen wurden.5 Sodann nach dem ersten Lockdown, den es in unterschiedlicher Form in den meisten westeuropäischen Ländern gab. Die mit diesem Herunterfahren des öffentlichen Lebens verbundenen Restriktionen zeitigten zunächst ja durchaus Erfolge. Die Grafik mit dem Vergleich der Corona-Toten in Europa und den USA (wo es so gut wie keinen allgemeinen Restriktionen gab) verdeutlicht dies: Es gab eine rund zweimonatige Periode mit einem geringen Anstieg der Corona-Toten in Europa, sodass rund 100 Tagen lang die absoluten Zahlen in beiden Regionen auf vergleichbarem Niveau lagen.

Doch auch diese zweite Chance wurde vertan. Es geschah nichts: Keine Aufstockung des Personals in den Altenheimen und Krankenhäusern (in Deutschland haben sich die nicht besetzten Pflegestellen auf den Intensivstationen in den letzten drei Jahren verdreifacht!6). Ebenfalls in Deutschland kam es seit März 2020 und bis Ende 2020 zur Schließung von weiteren zwanzig Krankenhäusern. In allen westeuropäischen Ländern (ausgenommen Frankreich) gab es seit März 2020 keine relevante Verbesserung der Einkommen des Pflegepersonals. Weiterhin befinden sich die Kliniken im Würgegriff von Privatisierungstendenzen und dem fatalen Prinzip der Fallpauschalen. Es kam nicht zu einem ausreichenden Ausbau des Testwesens. Es gab keine wirksamen Maßnahmen gegen die massenhaften Infektionen in den Fleischfabriken und im Logistikgewerbe. In einer großen Zahl von Schulen wurde versäumt, über die Sommerferien hinweg flächendeckend in den vielen Zehntausenden Klassenzimmern, in denen die Fenster erst gar nicht geöffnet werden können, Maßnahmen für eine mögliche Frischluftzirkulation zu ergreifen.

Stattdessen gab es europaweit einen Wettbewerb mit Lockerungsübungen. Als dann Mitte Oktober die Infektionszahlen und bald darauf die Corona-Opfer-Zahlen nach oben schnellten, gaben sich die Regierungen überrascht. Tatsächlich sind sie jedoch Opfer ihrer eigenen Verharmlosung der Pandemie und der umfassenden Herausforderung für die Gesundheit der ganzen Bevölkerung. Diese zweite Welle der Pandemie trifft die Menschen in Europa in Wirklichkeit keineswegs überraschend. Fachleute überall in der Welt und nicht zuletzt die WHO sagten eine zweite heftigere Pandemiewelle ab Herbst voraus. Auch die Erfahrungen aus bisherigen Pandemien legten diesen Schluss nahe.

Nehmen wir das Beispiel Deutschland. Als in diesem Land am 13. Dezember 2020 eine drastische Verschärfung der bisherigen Lockdown-Maßnahmen verkündet wurden, verwiesen die Bundeskanzlerin und einzelne Ministerpräsidenten von Bundesländern, so der NRW-MP Armin Laschet, auf eine neue Stellungnahme der Forschungsgesellschaft Leopoldina und erklärte den neuerlichen Schwenk mit dieser Stellungnahme. Das ist schlicht Augenwischerei. Schließlich verlangten die Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen Deutschlands bereits am 28. April in einer aufsehenerregenden gemeinsamen Stellungnahme „Adaptive Strategien zur Eindämmung der Covid-19-Epidemie“. Sie warnten davor, die einschränkenden Maßnahmen nach dem ersten lock down zu früh aufzuheben.7 Das contact tracing müsse unbedingt systematisch betrieben werden, was bei einer zu hohen Anzahl von Ansteckungen nicht mehr möglich sei. Es brauche ein Ensemble ineinandergreifender Maßnahmen, um die Pandemie so stark zu reduzieren, dass jede einzelne Ansteckung erkennbar und nachvollziehbar wird.

Abbildung 1: Addierte Zahl der Corona-Toten in Europa im Vergleich zu den USA (Corona-Opfer seit dem 100. Toten)

Senkrechte Achse: Zahl der Toten. // Waagrechte Achse: Tage seit dem 100. registrierten Corona-Toten],

Quelle Lunapark21, Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie, H 52, Winter 2020, S. 33

Die Leiter derselben Forschungsinstitutionen wandten sich am 24. September erneut mit einer zweiten klaren Stellungnahme an die Öffentlichkeit und die politisch Verantwortlichen.8 Sie warnten eindringlich davor, dass bereits zwei Kipppunkte – eine Reproduktionszahl >1 und eine große Zahl von Ansteckungen – erreicht worden seien, und die Ausbreitung deshalb rasch unkontrollierbar werden könne. Die Autorinnen und Autoren sprachen sich in diesem Statement unmissverständlich gegen die irrwitzige Strategie der Herdenimmunisierung aus und warnten auch vor der Illusion, die sogenannten Risikogruppen schützen zu können. Die mit stärkeren Risiken behafteten Menschen umfassen nahezu ein Viertel der Gesellschaft. Sie sind viel zu heterogen, als dass es möglich wäre, diese spezifisch zu schützen oder gar abzusondern. Doch auch diese Warnung wurde nicht beachtet; es gab nur einen Lockdown light – mit der Folge, dass nach zwei bis drei Wochen mit Beruhigungstendenzen die Fallzahlen erneut steil nach oben gingen. Und dass dann am 13. Dezember die Notbremse gezogen und wesentlich striktere Maßnahmen beschlossen werden mussten.

In Österreich gab es vor Weihnachten und über die Feiertage hinweg einen vergleichbaren Zickzack-Kurs. Nach einem zweiten Lockdown aufgrund stark steigender Infektionszahlen von Mitte November bis Anfang Dezember, gab es im Anschluss zeitweilig Lockerungen zur Sicherung des Weihnachtsgeschäfts. Kurz darauf musste erneut ein harter Lockdown verkündet werde. Dieser soll vom 26. Dezember bis zum 24. Januar 2021 gelten. Besonders absurd: Während Schulen geschlossen bleiben, dürfen Skilifte öffnen.

4 Ein europaweites Versagen

Deutschland und Österreich, die ja im ersten Halbjahr 2020 die Corona-Krise anscheinend passabel gemeistert haben und nun den Preis für ihren unverantwortlichen Zickzackkurs bezahlen, sind dabei nur zwei Beispiele für viele in Europa. Insgesamt erleidet die Europäische Union mit ihrem Nicht-Umgang mit der Pandemie einen kompletten Schiffbruch. Es ist klar, dass sich die Ansteckungsdynamik nur mit großräumig und international koordinierten Maßnahmen rasch brechen lässt. Die Regierungen handeln allesamt bloß auf der nationalen und regionalen Ebene, zumeist unkoordiniert, widersprüchlich und bisweilen sogar gegeneinander. Reisewarnungen und Grenzschließungen erfolgen teilweise sogar in gegenseitiger Abgrenzung. Die Pandemie hat sich aber derart in allen Ländern ausgebreitet, dass sie nur durch ein gemeinsames europäisches Handeln eingedämmt werden kann.

Ende Oktober und Anfang November ergriffen die meisten Länder in Europa abermals einschränkende Maßnahmen, die allerdings nicht so weit gehen, wie jene, die sie Mitte März beschlossen hatten und bis weit in den April andauerten. Allerdings gibt es auch Unterschiede. Ähnlich wie Deutschland sah sich die Regierung in Österreich bereits Mitte November gezwungen, ihre kurz zuvor beschlossenen Maßnahmen zu verschärfen und ab dem 17. November abermals die Schulen zu schließen.

Der Schweizer Bundesrat hingegen nahm mit einer lockeren Strategie bewusst eine rasche Ausbreitung der Pandemie und die damit einhergehende Überlastung der Spitäler in Kauf. Hier argumentieren die Vertreter der Kapitalinteressen ganz offen, dass ihnen ein lock down zu teuer käme und die Gesellschaft gewisse Opfer erbringen müsse. Am 17. November stellte dann die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin fest, dass praktisch alle von ihr zertifizierten 876 Intensivbetten belegt sind. Sie empfahl allen Personen „sich im Rahmen einer Patientenverfügung Gedanken dazu zu machen, ob sie im Falle einer schweren Erkrankung lebensverlängernde Maßnahmen erhalten möchten oder nicht.“ (SGI 2020).9 Nach Angaben des Bundesrates wurden weitere 240 Intensivbetten geschaffen. Möglicherweise können noch weitere Reserven mobilisiert werden. Damit verläuft in der Schweiz die zweite Pandemiewelle wesentlich tödlicher als die erste. In der dritten Novemberwoche gehörte die Schweiz weltweit zu jenen Ländern mit der höchsten Sterberate im Verhältnis zur Bevölkerung. In dieser Zeit starben täglich 80 Menschen an Covid-19. Während der Hochphase der ersten Welle waren es 63 im Wochenschnitt. Inzwischen weisen die Schweiz, Österreich und Deutschland in den Monaten November und Dezember eine klare Übersterblichkeit auf. Die Gesundheitskrise in der Schweiz verschärfte sich in der Folge derart, dass am 17. Dezember sogar economiesuisse, der zentrale Verband des Kapitals, einen Lock down in der ruhigen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr befürwortete. Das sei jetzt günstiger als weitermachen wie bisher und erlaube dann im Januar den Wirtschaftsmotor wiederanzuwerfen. Das Schweizer Kapital zieht mit gütiger Unterstützung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften eine besonders zynische Variante der Pandemiepolitik durch.

Charakteristisch in Europa für das Spannungsverhältnis zwischen epidemiologischen Anforderungen und wirtschaftlichen Interessen ist die Situation hinsichtlich der Skisaison 2020/2021. Die in diesem Bereich tonangebenden Länder konnten sich bis Mitte Dezember auf kein einheitliches Vorgehen einigen. In den skandinavischen Ländern waren die Pisten bereits in den Monaten Oktober bis Dezember teilweise geöffnet; die Skilifte waren mit Auflagen in Betrieb. Die Zentralregierung in Italien untersagte jeglichen Skitourismus – was allerdings seitens der autonomen Provinz Südtirol teilweise in Frage gestellt wurde. Hier mussten bereits geöffneteGletscher-Skigebietewie Sulden bzw. Breuil-Cervinia im Aostatal Anfang November wieder schließen. Allerdings gibt es Ausnahmen für „Profisportler“, die kaum eingeschränkt „trainieren“ dürfen.

Die Schweiz zeigte sich in dieser Hinsicht erneut als besonders „liberal“, sprich wirtschaftsfreundlich. Kein Alpenland lässt Ski- und Snowboard-Tourismus bislang mit so wenigen Einschränkungen zu wie die Eidgenossenschaft. Es existieren lediglich milde Corona-Maßnahmen. So herrschte seit Anfang Dezember Maskenpflicht beim Anstehen, auf Liften, in Gondeln. Geschlossene Bahnen dürfen zu zwei Dritteln gefüllt werden. Restaurants müssen bereits um 19 Uhr schließen – ausgenommen „Gastro-Betriebe in Kantonen mit günstiger epidemiologischer Entwicklung“.10 Als dann kurz vor Weihnachten bis zu 10 000 britische Urlauber in Schweizer Skiorten eintrafen und es gleichzeitig die ersten Meldungen von gefährlichen Mutationen des Corona-Virus in Großbritannien und in Südafrika gab, verhängte der schweizerische Bundesrat eine rückwirkende Quarantäne für Personen aus Großbritannien und aus Südafrika. Das Resultat: Hunderte Briten traten die ungeordnete Flucht aus den Schweizer Skiorten nach Frankreich an. Die Schweizer Behörden wirkten völlig hilflos, zumal eine wirksame Kontrolle angesichts von vielen Airbnb-Buchungen und Hunderten Zweitwohnungen britischer Bürger vor Ort sich als kaum machbar erweis.11

5 Der Sommer der verpassten Chancen

Seit fast einem Jahr wird inzwischen das Corona-Virus als von außen kommend, als bestenfalls eindämmbar und als letztlich nur mit einem Impfstoff bekämpfbar dargestellt. In den Worten von Bundeskanzlerin Angela Merkel, geäußert in der ARD-Tagesschau am 2. November 2020: „Das Corona-Virus ist so etwas wie eine Naturkatastrophe,“ wie es eine solche „wohl nur einmal pro Jahrhundert“ geben würde. Und: „Wir müssen mit dem Virus leben. Es ist da.“

Tatsächlich war die Pandemie angekündigt und vom Robert-Koch-Institut bereits 2013 in einer umfassenden, dem Bundestag vorgelegten Analyse als reale Gefahr dargestellt worden.12 Tatsächlich hat COVID-19 viel zu tun mit Zoonose und Massentierhaltung.13 Tatsächlich gab es seit dem ersten COVID-19-Bericht der chinesischen Regierung gegenüber der WHO Ende Dezember 2019 in Westeuropa mehr als zehn Wochen Zeit für eine Vorbereitung auf die Epidemie. Vor allem aber forderte das Virus im Verlauf des Jahres 2020 weltweit 1,5 Millionen Tote, davon allein in Europa mehr als 275.000, weil in den meisten Ländern auf eine effiziente Politik zu dessen Eindämmung mit Rücksicht auf die Kapitalinteressen verzichtet wurde.

Wir haben in Tabelle 2 die offiziellen Zahlen der Corona-Toten für 35 Länder im Zeitraum März bis Dezember 2020 – und hier jeweils mit den Zahlen am Monatsende – zusammengestellt. Wir bildeten dabei sechs Ländergruppen, um tiefere Einsichten und Vergleiche möglich zu machen.

Tabelle 2: Corona-Tote in Ländern nach Ländergruppen Zeitraum 31. 3. bis 31. 12. 2020


31.3. 30.4. 31.5. 30.6. 31.7. 31.8. 30.9. 31.10. 30.11. 31.12. C-Tote je 100.000 am
31.10. 31.12.

Weltmacht I und Weltmacht II im Vergleich
USA 5.207 65.201 109.019 130.019 157.216 187.847 211.744 236.525 273.101 345.826 72,1 105,4
China 3.312 4.633 4.634 4.634 4.634 4.634 4.634 4.634 4.634 4.782* 0,3 0,3



Wo die Epidemie-Bekämpfung (weitgehend) funktionierte
Taiwan 5 6 7 7 7 7 7 7 7 7 0,03 0,03
Vietnam 0 0 0 0 2 32 35 35 35 35 0,04 0,04
Ruanda 1 1 1 2 5 16 29 35 48 92 0,3 0,8
Neuseeland 1 19 22 22 22 22 25 25 25 25 0,6 0,6
Südkorea 162 247 270 282 301 324 413 464 526 917 O,9 1,8
Japan 57 430 891 972 1.006 1.279 1.564 1.755 2.106 3.292 1,4 2,6
Australien 20 92 102 104 197 652 886 907 908 909 3,5 3,5



Die extreme Spannweite in Südamerika – mit zwei (relativ) vorbildlichen Ländern
Kuba 6 61 83 86 87 94 122 128 134 146 1,1 1,3
Uruguay 1 17 22 27 35 44 48 58 76 181 1,6 5,2
Chile 8 255 1.192 6.436 9.457 11.289 12.741 14.158 15.356 16.608 73,7 86,5
Brasilien 242 5.901 29.314 59.656 92.568 121.515 143.962 159.902 172.848 194.949 75,0 91,5
Argentinien 72 572 1.413 3.429 8.506 15.558 20.282 30.792 38.473 43.245 67,8 95,3



Große und größere europäische Ländern – inzwischen alle mit schlechten Resultaten
Germany 775 6.623 8.605 9.052 9.224 9.327 9.571 10.583 16.560 33.791 12,7 40,6
Niederlande 1.039 4.795 5.956 6.113 6.147 6.224 6.409 7.395 9.349 11.525 42,8 66,6
Polen 33 644 1.064 1.463 1.761 2.039 2.513 5.631 17.150 28.554 14,7 74,4
Rumänien 82 717 1.266 1.651 2.343 3.621 4.825 6.968 11.331 15.767 36,5 82,5
Frankreich 3.522 24.352 28.746 29.818 30.265 30.635 31.956 36.788 52.325 64.759 54,9 96,7
Spanien 8.464 24.543 28.030 28.335 28.445 29.094 31.791 37.311 44.668 50.831 79,2 107,9
Großbrit. 2.425 26.661 37.435 40.391 41.189 41.501 42.143 46.555 58.245 73.622 70,1 110,9
Italien 12.466 28.036 33.508 34.921 35.286 35.483 35.894 38.618 54.904 74.159 64,0 123,0
Russland 17 1.073 4.693 9.320 13.963 17.176 20.722 27.990 39.895 186.000** 19,2 127,5



Die skandinavischen Staaten in Vergleich – mit zwei relativ vorbildlichen Ländern
Norwegen 39 210 236 250 255 264 274 282 328 436 5,2 8,1
Finnland 17 211 318 328 329 336 344 358 393 561 6,5 10,2
Dänemark 90 452 574 605 615 624 650 721 829 1.298 12,4 22,4
Schweden 352 2.876 4.634 5.496 5.753 5.830 5.883 5.975 6.681 8.727 58,0 84,7



Kleinere europäische Länder im Vergleich – alle mit schlechten Resultaten
Slowakei 0 23 28 28 29 33 48 212 839 2.250 3,9 40,9
Griechenland 49 140 175 192 203 266 391 626 2.321 4.838 5,8 44,8
Österreich 128 584 668 705 718 733 799 1.109 3.184 6.222 12,5 69,9
Irland 71 1.221 1.640 1.727 1.758 1.772 1.801 1.913 2.052 2.237 39,0 45,7
Portugal 160 980 1.396 1.576 1.735 1.819 1.971 2.507 4.427 6.906 24,3 67,0
Ungarn 16 312 526 585 596 615 765 1.750 4.823 9.667 18,9 99,7
Schweiz 488 1.687 1.831 1.844 1.861 1.883 1.949 2.298 4.705 7.645 26,7 88,9
Bulgarien 8 66 140 230 383 629 825 1.254 3.814 7.576 18,2 109,8
Tschechien 35 241 317 346 381 426 673 3.432 8.138 11.711 32,4 111,5
Belgien 1.119 7.779 9.358 9.636 9.715 9.894 10.001 11.452 16.547 19.528 100,5 171.3

Grüne Markierung: bei europäischen Ländern mit geringer Steigerung der Corona-Toten-Zahlen; (vertane) Chancen zur Virus-Eindämmung.

Gelbe Markierung: weitgehende Eindämmung über einen langen Zeitraum hinweg // * Veränderung geg. 30.11. durch Wahl einer anderen statistischen Quelle (JHU) //

** Veränderung geg. Vormonaten = Korrektur durch russ. Behörden mit Verdreifachung der tatsächlichen Zahl der Corona-Toten

Sechs Aspekte sind bei einer näheren Betrachtung der Zahlen in Tabelle 2 hervorzuheben.

Erstens Der Unterschied bei den Folgen von COVID-19 könnte zwischen den beiden größten Industrienationen der Welt kaum größer sein. Bezogen auf die gleiche Einheit gibt es (mit Stand 31. Dezember 2020) in den USA 351 Mal mehr Corona-Tote als in der VR China (105,4 Corona-Tote je 100.000 Menschen in den USA gegenüber 0,3 Corona-Tote in der VR China).

Zweitens Es gibt unter den hier aufgeführten 37 Staaten zehn Staaten, in denen es maximal fünf Corona-Tote je 100.000 Einwohner gibt (das entspricht einem Achtel der Corona-Toten in Deutschland, einem Vierzehntel der Corona-Toten in Österreich oder einem Achtzehntel der Epidemieopfer in der Schweiz). Dies sind die folgenden, höchst unterschiedlichen Länder (aufgeführt entsprechend der Performance): Taiwan, Vietnam, China, Ruanda, Neuseeland, Südkorea, Kuba, Japan, Australien und Uruguay.

Drittens Selbstverständlich gibt es spezifische Faktoren (wie Insellage, Einbindung in die Globalisierung, Durchschnittsalter der Bevölkerung), die den Erfolg der Pandemieeindämmung positiv oder negativ beeinflussen. Doch diese Faktoren erklären die Unterschiede nur zum Teil. Südkorea und Italien oder Uruguay und Chile oder Neuseeland und Irland sind jeweils in mancher Hinsicht vergleichbare Länder. Die Betroffenheit durch COVID-19 ist jedoch, wie in der Tabelle ersichtlich, extrem unterschiedlich: 1,8 zu 123 beim Vergleich Südkorea/Italien, 5,2 zu 86,5 im Fall Uruguay/Chile und 0,6 zu 45,7 im Fall Neuseeland zu Irland.

Viertens Deutschland stand bis Oktober 2020 im europäischen Vergleich noch relativ gut da. Das hat sich teilweise in den Monaten November und Dezember geändert. Wenn es weiterhin einen erheblichen Unterschied zu anderen europäischen Staaten gibt, dann nur deshalb, weil es dort in den letzten zwei Monaten des Jahres 2020 ebenfalls eine massive zweite Welle gab. Warum es im Industriestaat Japan nur 2,6 Corona-Tote je 100.000 Menschen gibt, es in Deutschland jedoch (mit 40,6) sechszehn Mal mehr sind, bedarf der Erklärung. Es gab in Japan keineswegs härtere Lockdown-Maßnahmen als in Deutschland.

Fünftens Sehr deutlich sind die Unterschiede auch bei den aufgeführten skandinavischen Ländern. Alle vier sind vergleichbar in die globalisierte kapitalistische Wirtschaft integriert. Alle haben lange Küsten. Alle haben eine vergleichbare Sozialstruktur. Doch in Schweden mit einer bis Oktober 2020 betont liberalen Corona-Politik sind es gut zehn Mal mehr Corona-Tote wie in Norwegen oder gut acht Mal mehr wie in Finnland.

Sechstens Die meisten Länder in Europa hatten es nicht nur im Zeitraum Anfang Januar bis Mitte März versäumt, sich auf die Epidemie vorzubereiten. Die meisten von ihnen hatten nach der ersten Epidemie-Welle in den Monaten, die grün unterlegt sind (zumeist sind das die Monate Mai bis Juni), auch ein Vierteljahr Zeit, sich auf die zweite Welle vorzubereiten. Es gab in diesem Zeitraum eine relative Stagnation bei den Zahlen der Corona-Toten. Diese Chance wurde jedoch fast überall vertan: das Personal in den Gesundheitsämtern, in den Krankenhäusern wurde nicht oder völlig unzureichend aufgestockt; die Restriktionen wurden zu schnell und zu früh gelockert; die Maßnahmen waren und sind widersprüchlich und nicht primär gesundheitspolitisch begründet. Auf der anderen Seite gibt es in unserer Tabelle ein halbes Dutzend Länder, in denen es bis Anfang 22021 gelang, die Eindämmung des Virus weitgehend aufrecht zu erhalten (in der Tabelle gelb unterlegt),

Die Bilanz lautet: Es gab die Möglichkeit, zur Eindämmung der Corona-Epidemie. Das wurde auch in Europa deutlich, wenn auch in geringerem Maß als in einigen asiatischen Ländern. Insgesamt jedoch erweisen sich ausgerechnet die europäischen Staaten als ein Schwerpunkt der Epidemie – das heißt, diese Länder und die EU als Institution erwiesen sich in besonderen Maß als unfähig, gegenüber der Pandemie eine angemessene Politik zu entwickeln.

Mit einer klaren und solidarischen Bekämpfung der Pandemie würden die EU und die europäischen Länder auch ihrer weltweiten Verantwortung gegenüber den Menschen in den abhängigen Ländern gerecht. Denn die wohlhabenden Länder haben mit ihrer Gesundheitsinfrastruktur wesentlich bessere Voraussetzungen, die Pandemie zurückzudrängen als die Menschen in den armen und abhängigen Ländern. Doch Europa übernimmt diese Verantwortung nicht, ganz im Gegenteil.

Wir haben in unseren früheren Text im März und April als auch im Buch Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie14 bereits ausführlich das Scheitern der EU in der Pandemiebekämpfung beschrieben und eine solidarische gemeinsame Antwort eingefordert. Eine europäische Pandemiestrategie hat es nie gegeben. Das wurde erneut deutlich, als, wie bereits beschrieben, Ende Dezember in Großbritannien die besonders ansteckende Mutation des Corona-Virus entdeckt wurde und es daraufhin zu rein bilateralen Reaktionen kam. Die Pandemie offenbart einmal mehr in aller Brutalität, dass die EU kein Zusammenschluss für europäische Solidarität ist, sondern eine Institution, die die Konkurrenz alle gegen alle zusätzlich anfeuert. Der Fiskalpakt der EU von 2012 übte einen Druck auf die Mitgliedstaaten aus, die Gesundheitsausgaben zu deckeln. Seither wurden sowohl in Deutschland als auch in Österreich mehrere Tausend Akutbetten abgebaut. Die österreichische Regierung will den Bundesbeitrag an die Spitäler im kommenden Jahr 2021 um 130 Mio. Euro reduzieren.15 Die Pandemie zeigt erneut, dass eine solidarische Gesundheitspolitik und überhaupt ein solidarisches Europa nicht nur den Widerstand gegen die nationalen Regierungen, sondern auch die Infragestellung der EU erfordert. Auch in Zukunft sind von der EU keine solidarischen Impulse zu erwarten. Doch eine solidarische europäische Strategie ist dringend erforderlich, um die Pandemie zu beenden (siehe Abschnitt 14)

6 Das Rätselraten über Ansteckungsorte und Ansteckungsarten

Als im und vor allem nach dem Sommer die Infektionszahlen wieder stiegen, wurde der Eindruck erweckt, junge Menschen, die verantwortungslos Party feiern, seien die Schuldigen für diesen Anstieg. Wenig später wurde dieses Bild noch ergänzt um “ausufernde” Familienfeiern (dies besonders gern angereichert mit rassistischen Nuancen, Stichwort: “türkische Hochzeit”) und “maßlose” private Treffen (hier gern mit sozialer Abwertung: Garagenpartys) als hauptsächliche Treiber der pandemischen Dynamik. Beinah sämtliche politischen Äußerungen, die mediale Berichterstattung, aber selbst medizinische/wissenschaftliche Analysen und Statements scheinen – mehr oder weniger bewusst – an einem Bild zu arbeiten, welches den Teufel der Pandemie im Privatleben der Menschen ausmacht. Das soziale Wesen des Menschen wurde ruchbar und folglich dessen Austreibung zur einzig relevanten Maßnahme der Pandemie: Alkoholverbot, Schließung von Nachtlokalen, Sperrstunden, Einschränkungen von Familienfeiern, später dann diverse “Lockdowns (light)”, welche fast ausschließlich und noch viel deutlicher als im Frühjahr das soziale und freudvolle Leben der Menschen einschränken, sie jedoch weiterhin in ihrer Rolle als Produzentinnen und zumeist auch Konsumentinnen für das Kapital ins pandemische Fegefeuer zwang.

Dass trotz aller Einschränkungen im Privaten das Infektionsgeschehen nicht ausreichend abgebremst werden konnte, wurde folglich dem uneinsichtigen und verantwortungslosen Individuum zugeschrieben, das sich nicht ausreichend mäßigen will.

Doch wo stecken wir Menschen uns tatsächlich mit dem Corona-Virus an? Ist die Strategie, die Verbreitung und folglich die Eindämmung vorrangig im “Privathaushalt” zu suchen, womöglich völlig falsch? Gemäß Daten des RKI finden in Deutschland seit Frühsommer die meisten Ansteckungen tatsächlich im privaten Haushalt statt – gefolgt vom Arbeitsplatz. Einzig in wenigen Sommer – und damit Urlaubswochen wurden teils mehr Ansteckungen in der Freizeit als am Arbeitsplatz registriert.

Ab Mitte Oktober nehmen auch Ansteckungen in Pflegeheimen wieder deutlich zu. In Österreich zeigen die Daten, dass Ansteckungen am Arbeitsplatz nach denen im privaten Haushalt und in der Freizeit an dritter Stelle stehen.

Der Privathaushalt als Ansteckungsort ist methodisch ein sehr fragwürdiges Konstrukt. In Österreich werden rund 60 Prozent der identifizierten Cluster den Haushalten zugerechnet, doch: „Wie das Virus in die Haushalte kommt, wissen wir nicht“, sagt die Chef-Epidemiologin Daniela Schmid von der AGES (Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit – übernimmt im Kontext von Corona in Österreich vergleichbare Aufgaben wie das RKI). Infiziert sich in einer mehrköpfigen Familie eine Person, haben die weiteren Mitglieder dieser Familie ein hohes Risiko ebenfalls zu erkranken. Sie werden im Falle eines unklaren Ansteckungsortes des “Erstinfizierten” alle als Infektionen im “Privathaushalt” kategorisiert. Ist der Ansteckungsort des “Erstinfizierten” bekannt, so müssten alle weiteren Familienmitglieder ebenfalls diesem Cluster zugeordnet werden – es deutet jedoch vieles daraufhin, dass dies nicht oder nur inkonsistent gemacht wird. Entsprechend ist es kaum überraschend, dass der Privathaushalt in den Statistiken beinahe überall an erster Stelle steht. Er ist eine verzerrte Restgröße mit ausgesprochen kleiner Clustergröße, aber hoher Clusteranzahl, die sehr wenig über die Verbreitung der Corona-Pandemie aussagt. Das Setting “privater Haushalt” lässt sich als Ablenkungsgröße missbrauchen, welche hohe Ansteckungszahlen im Privaten ausweisen und andere Ansteckungsorte, allen voran wohl den Arbeitsplatz, als weniger relevant erscheinen lässt. Ein gewolltes Artefakt?

Krankenhäuser, Pflegeheime, aber auch Schulen, Restaurants, Geschäfte usw. sind zugleich immer Arbeitsorte. Es bleibt höchst fraglich, ob die Infektion des Pflegepersonals als Ansteckung am Arbeitsplatz in der Statistik erfasst wird. Viel deutet daraufhin, dass diese dem Setting Krankenhaus & Co zugerechnet werden. Dabei sind Ende 2020 die Berichte über die Zustände in den Altenheimen erschreckend. In vielen herrschen erneut katastrophale Zustände. Aus einem Heim in Bayern wird berichtet, dass man angesichts der Personalknappheit „angedacht hat, positiv getestete Pflegekräfte, die symptomfrei sind, arbeiten zu lassen. Aber nur infizierte Bewohner dürfen von ihnen betreut werden.“16 Insgesamt ist es in den letzten Monaten des Jahres 2020 erneut so, dass gut die Hälfte der Corona-Toten, die in Deutschland registriert werden, Menschen sind, die in Altenheimen lebten. Das aber ist ein deutliches Indiz dafür, dass der Schutz für die Menschen, die dort leben, und für das dort aktive Pflegepersonal, der im Frühsommer nach den desaströsen Corona-Opfern der ersten Welle, versprochen wurde, nicht geleistet wurde.

Ganz offensichtlich bleibt die Aussagekraft der Statistiken stark eingeschränkt: Die Werte beziehen sich stets nur auf diejenigen Fälle, deren Ansteckungsort einem Setting zugeordnet werden konnte. Je nachdem wie effektiv das Contact Tracing erfolgt, ist das nur ein sehr geringer Anteil der gesamten Infektionen eines Landes. So kann in den meisten Ländern Westeuropas ein großer Teil der Fälle nicht mehr einem Cluster zugeordnet werden. Das heißt auch, es wurden Maßnahmen mit Zahlen begründet, die absolut unzureichend sind. In Österreich konnten Mitte Oktober noch rund 65 Prozent der Fälle einem Cluster zugeordnet werden, im aktuellen Höhepunkt der Pandemie waren es ein Monat später, Mitte November, nur mehr 19 Prozent. Dies bedeutet im Umkehrschluss also, dass für 75-80 Prozent der Fälle überhaupt keine Daten vorliegen, wo es zur Ansteckung kam.

Diese völlig unvollständigen Zahlen weisen zudem ein weiteres Problem auf. In der Praxis des Contact Tracing befragen die Mitarbeitenden der Gesundheitsämter die Positiv-Getesteten nach ihren Aufenthaltsorten und Kontakten der letzten Tage. Den Menschen fällt es vielfach leichter, private Zusammenkünfte zu nennen, als beispielsweise Aufenthalte in öffentlichen Verkehrsmitteln, wo sie keinerlei Anhaltspunkte zu weiteren (möglicherweise erkrankten) Fahrgästen nennen können. Entsprechend erwähnt auch das RKI eine mögliche “Untererfassung” von Ansteckungen im öffentlichen Verkehr in seinen Publikationen. Die tägliche Fahrt zum Arbeitsplatz in überfüllten Bahnen und Bussen bleibt ein Risikofaktor unbekannter Größe. Auch werden Menschen durch den ständigen medialen Fokus auf private Zusammenkünfte in ihrer Einschätzung beeinflusst. Auf die Frage, wo sie meinen, sich angesteckt zu haben, werden die Menschen dann eher an ein Treffen mit Freunden als den Arbeitsort denken.

Zudem bleibt völlig intransparent, wer mit welcher Art von Kontakt eingestuft und im Folgenden getestet wird. Auch das hat maßgeblichen Einfluss auf Statistiken zu Ansteckungsorten. In Österreich ist bekannt, dass an Schulen im Infektionsfall Mitschülerinnen und Lehrkräfte als sogenannte Kontakte 2. Klasse gewertet und folglich erst gar nicht getestet werden. In der Schweiz werden enge Kontakte (Kontakte 1. Klasse) vielfach nicht getestet, sondern nur in Quarantäne geschickt. In den Infektionszahlen tauchen sie entsprechend nicht auf (ein probates Vorgehen um Infektionszahlen zu senken).

Es gibt keinerlei stichhaltige Informationen über die Test- und Tracing-Strategien in Unternehmen und Betrieben. Es ist durchaus denkbar, dass ähnlich zurückhaltend erfasst und getestet wird, um die Zahlen künstlich gering zu halten. Die Test- und Tracing-Strategie wäre ein wichtiges Mittel im Kampf gegen die Pandemie. Dazu muss sie jedoch transparent und nachvollziehbar gestaltet sein. Dort wo dann eher ausnahmsweise getestet wird, kommt es oft zu erschreckenden Ergebnissen. So wurde im November 2020 auf eine Großbaustelle in Singen, Baden, festgestellt, dass mehr als 100 der 350 Bauarbeiter Corona-positiv waren (die Baustelle wurde dann nur für eine Woche geschlossen). Auch gab es erneut bei Schlachtereien und Fleischfabriken eine größere Zahl von krassen Ergebnissen. Bei einer Auswertung lediglich der bekannt gewordenen Ausbrüche in solchen Betrieben gab es die folgenden Ergebnisse für den Zeitraum 15. März bis 24. Oktober: Der Anteil der Infizierten bei 42 registrierten Vorfällen in den Stammbelegschaften lag mit 2,2 Prozent drei Mal höher als in der Gesamtbevölkerung (0,6%), bei der Werk- und Zeitarbeitskräften lag er mit 4,9 Prozent sogar sieben Mal höher.17

Ein Mensch im aktiven Lebensalter und mit einem klassischen Beschäftigungsverhältnis von acht Stunden am Tag (oder auch mit zwei Teilzeitjobs, bei denen es erneut um die acht Stunden Arbeit täglich sein dürften) verbringt den größten Teil seiner aktiven Zeit im Rahmen dieser Tätigkeit. Eine größere Minderheit von diesen haben Jobs, die im Freien ausgeübt werden (Baugewerbe, Forst- und Gartenwirtschaft; größere Teile des Handwerks) und eine weitere größere Minderheit kann die Arbeit im Homeoffice ausüben. Doch die große Mehrheit dieser Beschäftigten (abhängig Beschäftigte, Freiberufler, Scheinselbständige) befindet sich während dieser Arbeitszeit in einem Raum – in Fabrikhallen, in Großraumbüros, in Ateliers unterschiedlicher Art. Und der größte Teil von ihnen wiederum befindet sich dabei in einem mehr oder weniger direkten Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen. Dass dies mit Infektionsrisiken verbunden ist, liegt eigentlich auf der Hand. Das ist jedoch inzwischen kein Thema mehr. Dabei war es im ersten Halbjahr 2020 durchaus ein Thema. Dazu heißt es in einem umfangreichen Beitrag in der Tageszeitung „ND“: „Die Bedeutung des Arbeitslebens für die Pandemie war vor allem in der Anfangsphase ein Thema. Da wurde breit darüber berichtet, wie es beim Automobilzulieferer Webasto zur Übertragung kam. […] Und jeder Beitrag über den späten Durchbruch des Homeoffice beinhaltete mindestens implizit die Anerkennung einer Ansteckungsgefahr am Arbeitsplatz. Inzwischen erscheinen Tönnies und Amazon jedoch eher wie skandalöse Einzelfälle. […] Während über offene Schulen und schlecht gelüftete Klassenzimmer sorgenvoll gestritten wird, kommt das Ansteckungsrisiko am Arbeitsplatz quasi nicht mehr vor.“ Was, möchte man hinzufügen, im Interesse derjenigen sein muss, die ihr arbeitsfreies Einkommen der Mehrwertproduktion in Fabriken und Büros verdanken.18

Festzuhalten bleibt: Das öffentliche Bewusstsein wird auf die Problematik unseres gesellschaftlichen Lebens abseits des Arbeitsplatzes gelenkt. Es braucht emanzipatorische Akteurinnen und Akteure, die diese Erzählweise der Herrschenden kritisch hinterfragen.

7 Tracing erfordert Personal

Es ist zweifelhaft, dass die gegenwärtig ergriffenen Maßnahmen ausreichen werden, die Pandemie so stark zurückzudrängen, dass ein detailliertes und wirksames contact tracing wieder möglich wird. Die Testtätigkeit ist ungenügend. Vor allem aber wurden hier – wie im Fall der Kliniken – nicht die entsprechenden personellen Kapazitäten aufgebaut. Darum handeln die Regierungen auf Sicht und beschränken sich darauf, eine große Katastrophe zu verhindern.

Für ein Verfolgen der Infektionsketten benötigt man ausreichend Personal. Und das fehlt konkret vor allem in den Gesundheitsämtern. Mehr noch: In Deutschland wurde die Beschäftigtenzahl in diesen Ämtern in den letzten 30 Jahren halbiert. Seit Beginn der Epidemie wurde dieses strategisch entscheidende Personal auch nicht in größerem Umfang neu aufgebaut.

Der Einsatz von ungeschulten Soldaten ist da hilflos und oft wenig effektiv. Beispiel Gesundheitsamt Stuttgart. Dort waren 1990 insgesamt 293 Menschen weitgehend in Vollzeit beschäftigt. Im März 2020 waren es noch 158,7 Stellen, wobei ein Teil der Beschäftigten in Teilzeit arbeitet. Seither gab es Gemeinderatsbeschlüsse zur Personalaufstockung – um einmal zusätzliche 25 und einmal um weitere 20 – jedoch befristete! – Stellen. Doch selbst diese Aufstockung konnte bis Ende 2020 nicht komplett umgesetzt werden. Der wesentliche Grund dafür ist: Die Bezahlung ist unzureichend; beim medizinischen Personal liegt der Monatsverdienst massiv unterhalb einer vergleichbaren Beschäftigung in einem Krankenhaus. So verdienen beispielsweise AmtsärztInnen um die 1000 Euro weniger als ihre KollegInnen in den Kliniken. Noch größer ist der Unterschied zu den niedergelassenen ÄrztInnen. Der Forderung der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi nach einer Ballungsraumzulage, um auf diese Weise wenigstens teilweise dem Problem gerecht zu werden, wurde nicht entsprochen. Der Leiter des Stuttgarter Gesundheitsamtes gestand daher bereits im November: „Das Infektionsgeschehen spielt sich mittlerweile teilweise außerhalb unseres Radar ab. […] Aktuell wissen wir bei 58 Prozent der Fälle nicht, bei wem die Menschen sich angesteckt haben. Im August lag dieser Wert bei 16 Prozent.“19 Inzwischen gibt es Aussagen aus anderen Städten, wonach sich dort „das Infektionsgeschehen“ in mehr als 80 Prozent der Fälle „außerhalb des Radars“ des zuständigen Gesundheitsamtes abspielt.

8 Weniger Corona-Tote in großen Teilen von Asien, Afrika und in Australien

In weiten Teilen von Afrika, in Australien und Neuseeland und in einer Reihe asiatischer Länder konnte die Epidemie – wie im Zusammenhang mit Tabelle 1 ausgeführt – weitgehend unter Kontrolle gehalten werden. Um es zu wiederholen: In den Regionen USA, Lateinamerika und EU plus Schweiz, Norwegen und Großbritannien konzentrieren sich 72 Prozent aller weltweit registrierten Corona-Toten. Doch dort leben nur 18 Prozent der Menschen. Auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass die Angaben zu den Corona-Toten, z.B. in den zentral-asiatischen Staaten, deutlich zu niedrig angegeben sind, so bleibt es doch bei einer erheblich ungleichen – und erklärungsbedürftigen – Verteilung beim Auftreten der Epidemie.

Für elf Länder wurde in Tabelle 2 dokumentiert, dass es die Möglichkeit einer relativ erfolgreichen Eindämmungspolitik gibt. Damit wird das Argument „Das, was in China gemacht wurde, ist autoritär und mit einer offenen Gesellschaft nicht vereinbar“, durch die Vielzahl von anderen – höchst unterschiedlichen – Ländern, die vergleichbar erfolgreich waren, relativiert. Wobei man sicher auch von der Art, wie in China die Epidemie erfolgreich eingedämmt wurde, Erkenntnisse gewinnen kann. Das angesehene Medizin-Fachblatt The Lancet brachte dazu einen analytischen Beitrag, in dem eine überwiegend positive Bilanz gezogen wird.20 Auch zeigen die Beispiele Indien (Ende 2020 150.000 Corona-Tote) und Lateinamerika (500.000 Corona-Tote), dass die COVID-19-Epidemie im globalen Süden keineswegs generell eingedämmt ist.

Hier ist nicht ausreichend Raum, um die erfolgreiche Politik zur Bekämpfung der Epidemie, die in einzelnen Ländern betrieben wurde, im Detail zu analysieren. Typisch erscheint das Beispiel Vietnam zu sein. Dazu berichtete die Süddeutsche Zeitung in der Ausgabe vom 18. November 2020 wie folgt: „Was Hanoi gegen den Virus-Feind in Stellung brachte […] war schlicht die Anwendung altmodischer Epidemiologie, klassische Eindämmung, die sich auch ohne Apps […] als wirksam erwies.“ Die Grenzen wurden bereits Anfang Januar 2020 geschlossen; bei den ersten Fällen von Infektionen wurden zeitweilig 200.000 Menschen in Quarantäne gesteckt. Dann wurde so lange getestet, bin man jede einzelne Infektion erkannte hatte, die Menschen isolierte, die Betroffenen sofort behandelte. Eine beeindruckende Erfolgsstory für ein großes Land mit 98 Millionen Einwohnern, mit einem eher unterentwickelten Gesundheitssektor. Die Pandemie soll hier gemäß offiziellen Angaben bislang bloß 35 Corona-Todesopfer gefordert haben.21

So unterschiedlich die Gründe im Einzelnen für den relativen Erfolg der Corona-Politik in einigen Ländern sein dürften, so dürften doch drei Aspekte in den meisten dieser Fälle eine wichtige Rolle zu spielen:

Erstens gab es in den asiatischen Ländern, die hier aufgeführt sind, 2002/2003 die SARS-Erfahrung. Diese hatte in wirtschaftlicher und touristischer Hinsicht auch erhebliche Auswirkung auf Australien und Neuseeland. Die SARS-Erfahrung sensibilisierte die Bevölkerung und die Regierungen in diesen Regionen für die Epidemie-Gefahren. In allen von SARS betroffenen Ländern wurden Vorkehrungen für die Wiederkehr einer vergleichbaren Epidemie getroffen. Auch in vielen afrikanischen Staaten wurden aus der Erfahrung mit der Ebola-Epidemie ab 2012 entsprechende Vorkehrungen, Maßnahmen und Strukturen geschaffen.

Zweitens ist das Durchschnittsalter in den meisten der angeführten Länder wesentlich niedriger als in den USA und in Europa. Das gilt insbesondere für den afrikanischen Kontinent. Damit ist zumindest die Gefahr, wegen einer Corona-Infektion zu sterben, deutlich geringer.

Drittens sind einige der aufgeführten Länder und Regionen deutlich weniger in die globalisierte, kapitalistische Welt integriert. Wenn sie zugleich nicht Teil des Welttourismus-Business sind, dürfte sich diese relative Desintegration bei der Epidemie als Vorteil erweisen.

Viertens gab es in diesen Ländern durchaus auch weitreichende Maßnahmen der „Sozialdistanz“. Dabei wurde oft mit einem großen Einsatz von Menschen erreicht, dass das Infektionsgeschehen unter Kontrolle gehalten werden konnte. Der Virologe und Direktor der Afrikanischen Seuchenschutzbehörde, John Nkengasong, führte dazu aus: „Die community health workers

kennen die Orte und die Menschen dort. Wir haben sehr früh dazu aufgerufen, eine Million von ihnen [Afrika-weit; W.W.] gegen die Pandemie einzusetzen. Wir haben sie geschult. […] Sie gehen nun von Haus zu Haus, um Informationen über vorliegende Ansteckungen zu bekommen, Kontakte aufzuspüren. […] Das ist echte ´Schuhleder-Epidemiologie´“22

Fünftens gibt es in diesen Ländern meist eine weitreichende, gesellschaftliche Solidarität, die dazu beiträgt, dass die notwendigen Maßnahmen auf freiwilliger Basis und als Resultat individueller Einsicht umgesetzt werden. Die investigative Journalistin Gaby Weber machte im November einen aufschlussreichen Film zur Epidemie-Situation in Uruguay, einem Land, in dem es, in völligem Kontrast zu den Nachbarländern, bislang außerordentlich wenige Corona-Tote gab (bis Anfang Dezember waren es rund 80). In diesem Film gibt es mehrere Passagen, in denen interviewte Uruguayer darauf verweisen, dass die 15 Jahre mit einer linken Regierung, der Frente Amplio (sie wurde allerdings im März 2020 von einer konservativen Regierung abgelöst), und der in dieser Zeit erfolgte Aufbau eines flächendeckenden Netzes von dezentralen Gesundheitsstationen zu einem intensiven gesellschaftlichen Zusammenhalt beitrugen. Auch hätten sich die Menschen – ohne dass es in den ersten sechs Monaten der Epidemie Zwang und entsprechende Gesetze gab – strikt an „social distancing“ gehalten; es habe „faktisch einen Lockdown“ gegeben.23

9 Warum hatte die zweite Welle so lange freien Lauf?

Ende 2020 herrscht in den Kreisen der offiziellen Politik Verwunderung ob der neuen Negativ-Rekorde. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann bekannte Anfang November, mit dem neuen Anstieg der Infektionen „haben wir nicht gerechnet, das muss man schon ehrlicherweise sagen“. Zu Recht kommentierte dies Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), mit: „Ich habe den Eindruck, die Politik ist davon überrascht, dass der Winter kommt.“24 Die Frage steht wie der sprichwörtliche Elefant im Raum: Warum verfolgen die deutsche Kanzlerin und die vorherrschende Politik in Deutschland – und durchaus ähnlich diejenige fast aller europäischen Regierungen – diesen fortgesetzten, ermüdenden Zickzackkurs: Anfang des Jahres und bis Anfang März galt das Motto „Ich-weiß-von-nichts-und-Corona-ist-ein-mexikanisches-Malzgebräu“. Dann, im Frühjahr, der erste, relativ harte Lockdown. Im Frühsommer und Sommer folgte der Wettbewerb mit den Lockerungsübungen. Dann, Anfang November, ein halber Lockdown, der Anfang Dezember zunächst bis Mitte Januar verlängert wurde, wobei es jedoch an Weihnachten wieder sehr weitreichende Lockerungen – sogar mit umfassenden Hotel-Öffnungen in einigen Bundesländern – geben sollte. Am 13. Dezember jedoch, als die Zahl der täglichen Corona-Toten auf 400 und mehr hochschnellte, erneut der Beschluss zu einer deutlichen Verschärfung, vor allem mit einem Lockdown für große Teile des Einzelhandels und der Verordnung eines weitreichenden Distanzunterrichts für die Schulen. Wobei selbst diese Maßnahme Anfang Januar, als die Zahl der Corona-Toten an einem Tag sogar die Marke von Tausend übersteigt, nochmals verschärft und verlängert werden muss.

Warum wurden erneut die vielen und oben zitierten Warnungen ignoriert? Warum gibt es diese Dutzende sich widersprechende Regelungen, wo Theater und Kabaretts geschlossen, aber Kreuzfahrtschiffstouren erlaubt sind, wo Veranstaltungen trotz aller bestehenden Sicherheitskonzepte verboten, aber Gottesdienste weitgehend ohne Auflagen erlaubt sind, wo es im privaten Bereich erhebliche Einschränkungen gibt, in der Produktion und bei den Dienstleistungen jedoch selbst dann weiter gewirtschaftet wird, wenn ein größerer Teil der Belegschaft – beispielsweise bei Amazon in Graben bei Augsburg – mit dem Corona-Virus infiziert ist.25

Warum gibt es keine Best practice-Politik mit Anleihen dort, wo die Epidemie erfolgreich in Schach gehalten wird und wo als Resultat dieser Politik die Menschen längst wieder weit größere Freiheiten genießen als hierzulande?

Die Antwort lautet: Die Politik orientiert sich in der gesamten Zeit in erster Linie an den Vorgaben der Wirtschaft. Wenige Tage vor den Beschlüssen über den zweiten „halben Lockdown“ veröffentlichte der mächtige Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine Erklärung, die die Corona-Leugner erfreut haben dürfte und in der es heißt: „Trotz der sprunghaft gestiegenen Corona-Virus-Infektionszahlen appelliert der BDI […], von einem erneuten generellen Herunterfahren der deutschen Wirtschaft abzusehen.“ Der BDI-Präsident Dieter Kempf „mahnte“ in diesem Zusammenhang „die Bürger zu Eigenverantwortung: Sie könnten mit diszipliniertem Verhalten vermeiden, […] wirtschaftliche Aktivität zu gefährden. Auf diese Weise könnten die Bürger auch für den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes sorgen.“26

Damit gab der Industriellenverband die Marschroute vor: Einschränkungen im Produktionsprozess und beim Konsum – letzteres betrifft vor allem den Konsum, der in den großen Einkaufszentren und bei denjenigen Firmen, die auch übers Internet liefern, stattfindet – soll es möglichst wenige geben. Faktisch hangelt sich die Politik immer entlang eines Infektionsgeschehens, das gerade noch so unter Kontrolle gehalten werden kann – oder auch mal nicht mehr.

Unausgesprochen verfolgen die deutsche Regierung und die meisten anderen europäischen Regierungen die Konzeption einer abgebremsten Herdenimmunisierung. Schließlich mussten sie von Anfang an mit einer starken Zunahme der Infektionen rechnen. Doch sie haben das Geschehen bis zu dem beschriebenen Grad hingenommen. Es geht ihnen einzig darum, eine umfassende Gesundheitskrise und die damit einhergehenden chaotischen und unberechenbaren Zustände zu vermeiden. Denn sollte das eintreten, könnte das mit einem massiven Glaubwürdigkeitsverlust gegenüber den gegenwärtigen Regierungen oder gar dem kapitalistischen System einhergehen.

Das heißt, sie akzeptieren einen Anstieg der Ansteckungen um, wenn die Ansteckungszahlen zu hoch sind, sie wieder etwas einzudämmen.

Das ist aber weit von den Empfehlungen der bereits zitierten vier außeruniversitären Forschungsinstitutionen (Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft Max-Planck-Gesellschaft) entfernt. Die Politik der Regierungen in Europa bedeutet, dass Menschen sterben, die keineswegs sterben müssten; dass Menschen langzeitliche gesundheitliche Schäden und Leiden erleben, die vermeidbar wären. Trotz der zahlreichen Unterschiede bei den unmittelbaren Maßnahmen verfolgen letztlich alle Regierungen in Europa eine Strategie des Zusteuerns auf eine durch einzelne restriktive Maßnahmen abgebremste Herdenimmunisierung. Das legen die Verantwortlichen nicht offen und darüber gibt es keine öffentliche Diskussion. Die einen Länder sind etwas besser aufgestellt, weil sie über eine bessere Gesundheitsinfrastruktur verfügen. Deshalb akzeptieren sie eine höhere Ansteckungshäufigkeit, nehmen teilweise allerdings auch mehr Tote in Kauf, als andere Länder. Mit dieser Politik setzen die Regierungen ganz bewusst und zynisch das Leben von vielen Tausend Menschen in Europa aufs Spiel, weil sie die kurzfristigen Interessen einiger Wirtschaftssektoren für wichtiger erachten.

Ein harter Lockdown, gar eine Schließung von Betrieben, lehnen vor allem diejenigen ab, die hinter diesen Regierungen stehen: die Unternehmer und ihre Verbände. Auf einen Lockdown in der Wirtschaft selbst reagieren sie teilweise mit offenem Hass. Als Ende April in Kalifornien nach einer enormen Steigerung der Zahl der Corona-Toten Ausgangsbeschränkungen und Produktionseinschränkungen in Kraft traten, wetterte der Tesla-Cef Elon Musk: „Das ist Faschismus“.27

Im Übrigen kann man eine kühle Rechnung wie folgt aufmachen: Der Corona-Tod von rund zwei Millionen Menschen, von denen sich eine Mehrheit im Rentenalter befindet, entlastet die verschiedenen privaten und öffentlichen Kassen für Altersversorgung weltweit mit weit mehr als 100 Milliarden Euro.28 Selbstverständlich ist dies kein konkretes Ziel der Corona-Politik, jedoch ein interessanter Mitnahmeeffekt.

Die Regierungen verfolgen mit ihren bisherigen Maßnahmen zu allererst das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit und damit die Profitabilität der Unternehmen in den von ihnen als wichtig erachteten Wirtschaftssektoren zu verteidigen. Mit ihrer Strategie einer abgebremsten Herdenimmunisierung nehmen die Regierungen bewusst den Tod mehrerer hunderttausend Menschen in Europa in Kauf. Die wirtschaftlichen Interessen gehen vor. Einige liberale VertreterInnen der Kapitalinteressen sprechen diese „Güterabwägung“ ganz offen aus. Die Regierungen ließen und lassen die Ausbreitung der Ansteckungen solange zu, bis das Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps steht. Dabei planen sie willentlich die physische und psychische Erschöpfung der GesundheitsarbeiterInnen ein. Sie setzen darauf, dass eine massive Impfkampagne die Pandemie beenden werde. Doch das wird dauern und viele Menschen zeigen sich gegenüber der überhastet wirkenden Impfkampagne skeptisch. Zudem wurden die gegenwärtig in Zulassung befindlichen Impfstoffe vorerst nur darauf geprüft, ob sie die Erkrankung verhindern. Es ist bislang nicht bekannt, wie stark sie auch Ansteckungen verhindern.

Zur Begründung ihrer zynischen Strategie greifen die Verantwortlichen auf eine scheindemokratische und latent rassistische Argumentation zurück. Argumentiert wird, dass bei der in Europa (und in den USA und in weiten Teilen Lateinamerikas) praktizierten Corona-Politik die demokratischen Werte verteidigt würden und diese von einer Verhältnismäßigkeit der Mittel gekennzeichnet sei. Auf der anderen Seite gebe es eine Corona-Politik, die typisch für die „asiatische Kultur“ sei, was jedoch in Widerspruch zu „westlichen Werten“ stünde. Typisch ist hierfür der Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am letzten Tag des Jahres 2020:

„Seit Beginn des Corona-Schocks gibt es unterschwellig nur zwei Möglichkeiten, mit dem Virus umzugehen: entweder die Null-Toleranz-Strategie oder eine Toleranz-Strategie. Die meisten europäischen Länder entschieden sich für den ´Mittelweg´, was auf eine Toleranzstrategie hinausläuft. Das Leben wurde eingeschränkt – aber stets unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit [….] Die Null-Toleranz-Strategie hingegen hatte fast durchweg den erwünschten Erfolg. Mit Ausnahme Japan machen es die asiatischen Länder vor, ob Diktaturen oder Demokratien. Auch Neuseeland und Australien gehören in diese Gruppe. Strenge Regeln werden dort streng überwacht […] Dieser Weg ist in Europa (und Amerika) nie ernsthaft erwogen worden […] Das wird zu Recht auf Kultur und historische Erfahrungen zurückgeführt, die darauf hinauslaufen, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt. In der Abwägung heißt das aber, dass eine Ausrottung des Virus nur durch Impfung für möglich gehalten wird und bis dahin mehr Schwerkranke und Tote in Kauf genommen werden, als unter strengem Regime nötig wären. Es ist ein konsequent antitotalitärer Weg, ein Weg, dem man schon deshalb Sympathien entgegenbringen kann, der aber immer am Rande des Zynismus wandelt. […] Wer ehrlich ist, muss zugeben, dass freiheitliche Gesellschaften europäischer Art dem Virus, solange nicht geimpft  werden kann, nicht gewachsen sind.“29

Diese Argumentation läuft auf das Folgende hinaus: Gibt es keinen wirksamen Impfstoff (z.B. als Resultat von ständigen Virus-Mutationen), dann sterben in Europa eben in jedem Jahr rund 500.000 bis 750.000 Menschen im Zusammenhang mit der Epidemie. Das ist dann eben Ausdruck einer „europäischen Kultur“ bzw. des in Europa vorherrschende Begriff von „Verhältnismäßigkeit“. Die wirksame Politik der Eindämmung des Virus wird als „Null-Toleranz-Strategie“ stigmatisiert und als Bestandteil einer asiatischen Kultur ausgegeben, die „in den freiheitlichen Gesellschaften Europas“ nicht hinnehmbar sei.

Einmal abgesehen davon, dass Neuseeland und Australien dem westlichen Kulturkreis mit einem vergleichbarem „Werte-Kanon“ zuzuschlagen sind, muss darauf verwiesen werden, dass der „Zwang“ und die „strengen Regeln“ im Rahmen der jeweiligen Corona-Politik in vielen asiatischen Ländern grundsätzlich nicht härter ausfallen als in einigen europäischen Ländern (mit nächtlichen Ausgangssperren, Reiseverbot; hohen Geldstrafen bei Verstößen).

So gesehen bleibt es immer wieder bei einer fast mittelalterlich anmutenden Haltung: Das Virus kam von außen – oder eben „aus dem asiatischen Raum“ – wie eine Naturkatastrophe die Menschheit. Und es wird irgendwann Dank eines großen urbi-et-orbi-Segens – so Big Pharma es will – wieder weichen, was bereits Anfang 2021, auf dem Höhepunkt der Epidemie-Opfer-Zahlen, Anlass gibt, erneut die „Lockerungen“ in Aussicht zu stellen bzw. solche im Interesse „der Wirtschaft“ und des freiheitlichen Konsums einzufordern. Oder in den Worten des FAZ-Wirtschafts-Kommentars: „2021 kann nur besser werden. Stand jetzt spricht alles dafür, dass die neuen Vakzime den Anfang vom Ende des Corona-Spuks und das Frühjahr Lockerungen der Eindämmungsmaßnahmen versprechen.“30

10 Große dürfen saufen – Kleine lässt man ersaufen

Die Corona-Epidemie trifft vor allem prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Obdachlose, Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen und wenig Möglichkeiten für Home Office und Erholung im Grünen. Nicht zufällig gelangt eine neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu dem Ergebnis, dass sich diese besonders Betroffenen „im Durchschnitt empfänglicher für Verschwörungsmythen zur Pandemie zeigen.“31

Die konkrete Corona-Politik ist deutlich auf die Interessen der großen Unternehmen ausgerichtet; Kleingewerbe, die Bereiche Kunst und Kultur, Bildung, Ausbildung und Schulen, Gastronomie, inländischer Tourismus und kleine Einzelhändler sind von den Krisenfolgen existenziell betroffen; eine Welle von Hunderttausenden Insolvenzen droht. Dabei ist dies keineswegs objektiv bedingt – Geld ist genug da. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Beispiel 1. Die Bundesregierung hat in mehreren Tranchen an die Lufthansa und an den Touristik-Konzern TUI rund 16 Milliarden Euro an Unterstützungsgelder bezahlt. Lufthansa und TUI waren bis Anfang 2020 hochprofitabel. Faktisch konserviert die Politik auf diese Weise Strukturen, die klimapolitisch hochproblematisch sind und die perspektivisch auch aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht massiv reduziert werden müssen. Nun sind bei Lufthansa und TUI heute nur noch 180.000 Menschen beschäftigt. Das gesamte Gastgewerbe in Deutschland mit rund 200.000 Unternehmen beschäftigt jedoch zehn Mal mehr Menschen. Mit den Lufthansa-TUI-Subventionen könnte man den gesamten Gastgewerbe-Sektor mit seinen zwei Millionen Beschäftigten mehr als ein Vierteljahr lang durchfinanzieren.

Beispiel 2. In Deutschland gibt es inzwischen 2,1 Millionen Menschen, die über ein privates Vermögen von mindestens einer Million US-Dollar verfügen. Im neuesten Global Wealth Report wird konstatiert, dass sich dieses Vermögen sogar im Corona-Krisenjahr erhöht hat.32 Das addierte Vermögen dieser Dollar-Millionäre beläuft sich nach diesem Report auf 14,8 Billionen US-Dollar; umgerechnet sind dies gut 12 Billionen Euro. Würde man lediglich verlangen, dass auf drei Jahre eine durchschnittliche Mindestrendite von vier Prozent, der mit diesem Vermögen im Minimum erzielt wird, durch eine Vermögenssteuer abgeschöpft wird, dann ergäbe dies drei Mal 592 Milliarden oder 1,78 Billionen Euro Sondereinnahmen der öffentlichen Hand. Das ist ein Vielfaches aller bisherigen Kosten, die die Corona-Krise bislang verursacht hat.

Eine solche Forderung mag angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse unrealistisch erscheinen. Sie ist jedoch nach drei Jahrzehnten Umverteilung von unten nach oben absolut notwendig. Sie müsste von einem breiten linken und gewerkschaftlichen Bündnis in einer Kampagne propagiert werden. Stattdessen erleben wir Diskussionen darüber, wie nach der Bundestagswahl 2021 die Corona-Schulden durch Steuererhöhungen, höhere Beiträge und Rentensenkungen finanziert werden sollen.

11 Krise und Pandemie

Die Pandemie verschärft die Wirtschaftskrise, die bereits im Herbst 2019 einsetzte, massiv. Das Jahr 2020 endete mit dem größten Einbruch der Weltwirtschaft seit 1930. Um gut fünf Prozent ging das Welt-Bruttoinlandsprodukt für das Jahr 2020 zurück. Einzelne wichtige Länder wie Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien erlebten einen BIP-Rückgang von 10 und mehr Prozent. Das ist in den zuletzt genannten Ländern mit einem massiven Anstieg der Erwerbslosen-Zahlen verbunden.

Die Chancen auf eine wirtschaftliche Erholung sind ungewiss. Der Prognosen der internationalen Organisationen sind zurückhaltend. Die Krise könnte sich noch über das gesamte kommende Jahr erstrecken, zumal die jüngsten verschärften Lockdown-Maßnahmen in den Studien zum Jahreswechsel noch unzureichend eingepreist sind. Die Mutationen des SARS-CoV-2 Virus erschweren die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Die erneuten Lockdowns und Reisebeschränkungen im Dezember und Januar tragen dazu bei, dass sich die Krise verlängert und vertieft.

Die Konzernspitzen wichtiger Branchen werden bald umfassende und radikale Kürzungen und Restrukturierungen mit großen Entlassungswellen durchsetzen wollen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen und die Profitraten wieder zu steigern. Die Regierungen und die EU reagieren äußerst einseitig. Ihr zentrales Anliegen ist es, die von ihnen als wichtig erachteten Konzerne in ihrem internationalen Wettbewerb zu unterstützen. So griff wie oben angeführt der deutsche Staat der Lufthansa mit über 9 Mrd. Euro unter die Arme. Derselbe Konzern erhielt zugleich von Österreich, der Schweiz und Belgien insgesamt weitere 2 Mrd. Euro und zwar bedingungslos, ohne die geringste soziale und ökologische Verpflichtung. Da die Krise andauert, ist bereits klar, dass das Geld nicht reichen wird. Die Unterstützungszahlungen für das kleine Gewerbe fallen ungleich bescheidener aus. Der konzernnahe Think Tank Avenir Suisse spricht sich ganz offen für eine Strukturbereinigung in der Krise aus. Weniger produktive Unternehmen sollen verschwinden. Die von Arbeitsplatzlust betroffenen Lohnabhängigen und Kleinstselbständigen gehen vergleichsweise leer aus. Die Verlängerungen der Kurzarbeit-Regelungen, zu der es in einigen Ländern kam – in Deutschland sogar bis Ende 2021 – dürften eine zurückgestaute Arbeitslosigkeit darstellen.

Doch vorerst dominieren strukturerhaltende Maßnahmen. Die österreichische Regierung stellt den Unternehmen seit der Corona-Krise beispielsweise ein Fixkostenzuschuss von insgesamt 8 Mrd. Euro zur Verfügung. Davon profitieren in erster Linie die großen Immobilieneigentümer, die nun staatlich unterstützte Mietzahlungen anderer Unternehmen kassieren dürfen. Nicht selten sind Empfänger der Mietzahlungen, die über einen anderen Unternehmenszweig sogar direkt staatliche Zuschüsse erhalten. Dieses Instrument führt also dazu, dass die Rentiers ohne weitere Leistung Steuermittel hinterhergeschoben erhalten.33

Anstatt einen wirklichen ökologischen industriellen Umbau zu unterstützen, finanziert die deutsche Regierung der Autoindustrie teilweise ihre Umstrukturierungen zur Herstellung von Elektroautos, um der bestehenden unsozialen und ökologisch enorm ressourcenfressenden Verkehrsorganisation ein neues Kleid zu verpassen. Sinnvoll wäre es hingegen, ein umweltverträgliches und sozial gerechtes öffentliches Verkehrswesen aufzubauen. Bereits äußern VertreterInnnen der Wirtschaft den Wunsch, auf weitere Maßnahmen zur Senkung der Treibhausgasemissionen vorerst zu verzichten.

Die massive Aufblähung der öffentlichen Verschuldung wird unweigerlich dazu führen, dass die Regierungen schon bald nach dem Abklingen der Pandemie mit einer harten Austeritätspolitik und massiven Kürzungen im Sozialbereich die Schuldenlast auf die Lohnabhängigen abwälzen werden. Umso wichtiger ist es, eine umfassende Strategie zur Verteidigung der Lohnabhängigen, für eine umfassende Gesundheitspolitik und für einen ökologischen industriellen Umbau zu entwickeln und durchzusetzen.

12 Dilemma der Lohnabhängigen – Mitverantwortung der Gewerkschaften

Die Gewerkschaften unterschätzen die Brisanz der Pandemie für die Gesundheit der Bevölkerung und ihrer eigenen Mitglieder. Nicht wenige GewerkschaftsexponentInnen tendieren selbst dazu, die Pandemie zu verharmlosen und die Ansteckungsgefahr an den Arbeitsplätzen herunterzuspielen. Sie fürchten, strengere einschränkende Maßnahmen würden Arbeitsplätze gefährden und die Krise verschärfen. Auch viele Lohnabhängige haben zwar Angst vor einer Ansteckung, wollen aber dennoch möglichst einen härteren Lock down vermeiden. Die Furcht vor Arbeitsplatz- und Lohnverlust wiegt schwer.

Diese Unterschätzung der Pandemie ist auch Ausdruck der eigenen Schwäche. Die Gewerkschaften gehen davon aus, dass sie nicht in der Lage sind, die Lohnabhängigen wirklich zu verteidigen. Dafür sind sie allerdings auch selbst verantwortlich. Weil sich die bürokratischen Gewerkschaftsführungen seit Jahrzehnten komplett den Unternehmerinteressen und dem Dogma der Wettbewerbsfähigkeit unterordnen, sind sie nicht mehr in der Lage, eine eigenständige an den unmittelbaren Interessen der Lohnabhängigen orientierte Strategie zu entwickeln.

Die Gewerkschaften sind bislang nicht fähig, eine eigene Anti-Pandemie-Strategie auszuarbeiten, die sich an den grundlegenden Klasseninteressen der arbeitenden Bevölkerung orientiert. Der ÖGB beispielsweise beschränkt sich auf Forderungen wie Maskenpausen und einen Corona-Tausender für jene Menschen, die sich bei ihrer Arbeit einem erhöhten Gesundheitsrisiko aussetzen.34 Auch ExponentInnen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes haben die Pandemie verharmlost und wiederholt vor weitergehenden und wirksameren Maßnahmen gewarnt.35 Das große Problem besteht darin, dass große Teile der Gewerkschaften die Gesundheit der Menschen und intakte Ökosysteme nicht als allererste Anliegen der Lohnabhängigen erkennen. 36

Die Lohnabhängigen wirklich verteidigen hieße in dieser Zeit, ihre Gesundheit ins Zentrum zu rücken. Die Gewerkschaften sollten alles unternehmen, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren und die Gesundheit der Beschäftigten und ihrer Angehörigen in einem umfassenden Verständnis sicher zu stellen. Der Schutz vor Ansteckung und das Wohlbefinden am Arbeitsplatz, auf dem Arbeitsweg im öffentlichen Verkehr, im Haushalt, in der freien Zeit sind unmittelbare Anliegen der Menschen, für die sich jede Gewerkschaft kompromisslos einsetzen müsste. Unternehmen, die nicht in der Lage sind, ihre Beschäftigten zu schützen, müssten vorübergehend eine Pause einlegen. Das Angebot im öffentlichen Verkehr sollte erweitert werden, um zu dichte Menschenansammlungen in Bahnen und Bussen zu vermeiden. Die Beschäftigten im Gesundheitswesen müssen materiell massiv bessergestellt werden und die Jobs in diesen Bereichen wesentlich attraktiver gestaltet werden. Das ist nötig, um das erforderliche Personal zu rekrutieren.

Das Versagen der Gewerkschaften und der sozialistischen Parteien ist schwerwiegend. Sie haben eine solidarische europäische Pandemiestrategie nie auch nur ansatzweise vorgeschlagen. Schlimmer noch, weder die LINKE in Deutschland noch eine andere Linkspartei in Europa von Gewicht waren in der Lage, ein klares Ziel zur Bekämpfung der Pandemie zu formulieren. Warum konnte sich die Partei DIE LINKE nie dazu durchringen, klar und einfach zu fordern, dass die Ansteckungen sofort auf ein Maß zu reduzieren sind, damit jede einzelne Ansteckung wieder zurück verfolgbar ist? Das ist aber erforderlich, um die Gesundheit der Bevölkerung sicherzustellen. Warum ist die Arbeiter:innenbewegung nicht in der Lage, sich bedingungslos für die Gesundheit der Lohnabhängigen einzusetzen? Liegt das daran, dass sie sich den wirtschaftlichen Interessen der großen Unternehmen oder gewisser Teile der Wirtschaft unterordnen und befürchten, sie könnten die Lohnabhängigen nicht wirksam gegen Erpressungen durch die Unternehmen und gegen Entlassungen verteidigen?

Wichtig ist die Selbstorganisation der Arbeitenden, obwohl die Bedingungen der Pandemie ebendiese erschweren. Die Lohnabhängigen sind mit ihrem Wissen über Arbeitsabläufe und Produktionsprozesse beizuziehen, um Schutzkonzepte zu entwickeln und darüber zu entscheiden, welche Arbeitsschritte zeitweise pausieren müssen. Hier müssten die Gewerkschaften sinnvollerweise ansetzen und dazu beitragen, dass sich die Menschen eigenständig und kollektiv in Betrieben organisieren und damit lernen ihre Vereinzelung und individualisierte Betroffenheit zu überwinden.

13 Eine radikale Perspektive annehmen

Auch linke Zeitschriften und Webseiten publizieren wiederholt Artikel, die die Corona-Pandemie mit an den Haaren herbeigezogenen Vergleiche mit Grippeerkrankungen, „Hitzetoten“ und Unfalltoten verharmlosen. Noch immer betrachten einzelne Linke die Pandemie und die Politik der Lockdowns ausschließlich unter dem Gesichtspunkt autoritären Regierungshandelns. Das zeugt von einem kompletten Unverständnis der Tragweite der Herausforderung und der umfassenden gesellschaftlichen Dimension der Pandemie und zwar im globalen Maßstab. Diese Personen argumentieren ähnlich wie Liberale gegen die scheinbar fundamentalen Einschränkungen individueller Freiheiten. Einige stützen sich unkritisch und unreflektiert auf offen reaktionäre und ausgesprochen konzernfreundliche Quellen (wie beispielsweise die sogenannte Great Barrington Declaration, die vom konservativen American Institute for Economic Research unterstützt wird).

Auch wir stellen uns diesen autoritären Tendenzen entgegen. Doch die gesellschaftliche Herausforderung der umfassenden Gesundheitskrise, die vor allem die Armen und Unterklassen am stärksten leiden lässt, ist ernst zu nehmen. Der katastrophalen Ausbreitung des Sars CoV-2 Virus, der massenhaften Erkrankung und dem Massensterben ist entschlossen mit gesellschaftlich akzeptierten und wirksamen Maßnahmen entgegenzutreten. Jede Relativierung ist unverantwortlich und verheerend.

Mehrere und ganz unterschiedliche Länder in Asien haben bewiesen, dass es möglich ist, die Virusausbreitung zu stoppen und schließlich im Keim zu ersticken. Auch Neuseeland und Australien verfolgen diesen Weg mit Erfolg (vergleiche Tabelle Nr. 2). Die neuseeländische Regierung hat dieses Ziel offen kommuniziert und die Bevölkerung von diesem Weg überzeugt. Möglicherweise ist diese Strategie sogar für Unternehmen mittlerweile vorteilhafter.

Diese Ausmerzungsstrategie wäre im Frühjahr auch in Europa möglich gewesen. Doch weder die wichtigen Kapitalfraktionen noch die Regierungen waren bereit, diesen Weg zu beschreiten. Seit Beginn der ersten Welle navigieren sie auf Sicht und ohne erklärten Plan. Vier WissenschafterInnen der vier großen außeruniversitären Forschungseinrichtungen Deutschlands hoben am 28. April 2020 die Strategie der kompletten Ausrottung des Virus als im Prinzip weiterhin mögliche Strategie hervor, die allerdings der internationalen Koordination und großer Anstrengung bedürfe. Nicht aus sachlichen, sondern bloß aus politischen Erwägungen schlossen die AutorInnen diese Strategie als nicht gangbare Option aus.37 Die Erfahrungen aus Asien und Neuseeland sowie diese Studie aus Deutschland zeigen, dass bei einem entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Willen die Pandemie zu besiegen gewesen wäre. Interessanterweise wird diese Perspektive erneut auch in der sozialistischen Linken in Irland diskutiert.38 So wird die Regierungsstrategie „living with Covid“ als zunehmend gefährlich erachtet. Auch mit der erwarteten Zulassung mehrerer Impfstoffe Anfang 2021 wird die Ansteckungsdynamik noch eine ganze Weile weitergehen, weil die massenhafte Produktion und Verteilung des Impfstoffs eine logistische Herausforderung darstellt und viel Zeit in Anspruch nehmen wird.

Es ist dafür zu sorgen, dass möglichst wenig Menschen erkranken und sterben. Es ist mit dem Tabu der Ansteckungen an Arbeitsplätzen zu brechen. Die Gewerkschaften haben hierbei eine große Verantwortung, einen wirksamen Schutz der Arbeitenden in den Betrieben durchzusetzen. Betriebe, die ihre Beschäftigten nicht vor Infektionen schützen können, sind zeitweise zu schließen. Auf jeden Fall sind die Ansteckungen wieder so stark zu reduzieren, dass sie mit einem systematischen contact tracing individuell nachvollziehbar sind, damit die entsprechenden spezifischen Maßnahmen auch wirksam sind.

14 Impfen ist wichtig, besiegt aber die Pandemie nicht kurzfristig

Die Pandemie offenbart, dass eine profitorientierte Pharmaindustrie nicht in der Lage ist, Medikamente und Impfstoffe entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen herzustellen. Jahrelang haben die Pharmakonzerne das Impfstoffgeschäft vernachlässigt. Nun liefern sich einige Konzerne ein Rennen bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen Covid-19. In großer Eile und Rekordzeit wurden die ersten Impfstoffe im Dezember 2020 in den USA und in der EU zugelassen. Da die Entwicklungsschritte extrem verkürzt und parallel durchgeführt wurden, fehlen Studien und Erfahrungen über mögliche Langzeit- und Nebenwirkungen der Impfstoffe. Die beiden in Zulassung befindlichen neuartigen mRNA-Impfstoffe von BioNtech / Pfizer und von Moderna garantieren allerdings keinen Schutz vor Ansteckungen, sondern schützen vor dem Ausbrechen der Erkrankung.

Zudem stellen die massenhafte Produktion, die epidemiologisch und medizinisch sinnvolle sowie gesellschaftlich gerechte Zuteilung der Impfstoffe eine riesige gesellschaftliche Herausforderung dar. Es gibt kaum eine öffentliche Diskussion darüber, wie das geschehen soll. Gerade arme und periphere Regionen und Länder stehen vor einer logistischen und finanziellen Herausforderung. Der Impfstoff von BioNtech / Pfizer erfordert eine Kühlung auf ein Niveau von minus 70°C. Bei jenem von Moderna soll Kühlschranktemperatur reichen. Die Regierungen agieren bei ihrer Beschaffung von Impfstoffen teilweise gegeneinander. Die Hersteller nutzen das und können dementsprechend auch die Preise der Impfstoffe hochhalten. BioNTech / Pfizer verlangen für eine zu verabreichende Doppeldosis um die 16,50 EUR in den USA und etwas weniger in der EU. Moderna veranschlagt jedoch einen Preis von 25 bis 37 USD für den US-Markt.39

Kurzfristig ist zu prüfen, wie einzelne Staaten oder besser die EU mit ihrer erheblichen Marktmacht die Patentrechte an wirksamen Impfstoffen erwerben können, um dann eine Produktion in großem Umfang und zu deutlich reduzierten Preisen unter öffentlicher Kontrolle vorzunehmen. Dies wurde Ende des Jahres auch in bürgerlichen Kreisen vorgeschlagen. So geht ein aktueller Beitrag im Magazin „Der Spiegel“ zunächst auf die hohen Kosten im Fall des Wartens auf den Impfstoff mit den Worten ein: „Die Kosten des langen Wartens sind enorm. Jeder Monat im Lockdown kostet uns mehr als 10 Milliarden Euro […] Und mit jedem Tag, der vergeht, steigt auch das Risiko, dass das Virus mutiert, wie jetzt in Großbritannien. Und ganz vorbei ist der Spuk nur, wenn auch die Bevölkerung im Rest der Welt geimpft ist.“ Um dann zu schlussfolgern: „Angesichts der enormen Kosten wäre die beste Wirtschaftspolitik, alle Ressourcen zu mobilisieren, um ausreichend Dosen zu produzieren. Wir sollten gerade mit Hochdruck Kapazitäten ausweiten, andere Unternehmen mit Lizenzproduktion beauftragen oder sogar neue Fabriken aus dem Boden stampfen. Auch über die Feiertage. Aber es passiert wenig.“40 Doch angesichts der raschen Ausbreitung der um rund 50% ansteckenderen Virusvarianten läuft die Zeit davon. Es werden Monate verstreichen mit zusätzliche Produktionsstätten eingerichtet, validiert und zugelassen worden sind. Impfkampagnen sind wichtig, sie können aber nur einer von vielen Ansatzpunkten sein, um die Pandemie so stark einzudämmen, dass einzelne Ansteckungen nachvollziehbar sind.

Die gesamte Entwicklung, Produktion und Zuteilung von Impfstoffen ist unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Der Zugang zu den Impfstoffen muss allen Menschen ungeachtet ihrer Kaufkraft ermöglichen werden. Die Preise dürfen nicht der Profiterzielung der Unternehmen beziehungsweise den Finanzerträgen ihrer Aktionäre dienen. Letztlich ist aber die gesamte Pharmaindustrie neu aufzustellen. Die Medikamentenherstellung darf nicht weiter ein Feld zur Erzielung gigantischer Aktiengewinne für das konzentrierte Anlagekapital sein. Darum sprechen wir uns für die demokratische gesellschaftliche Aneignung der Pharmaindustrie aus.

15 Umrisse einer europäischen solidarischen Perspektive

Die Regierungen sind mitverantwortlich für den Tod von Hunderttausenden Menschen und für schwere gesundheitliche Schäden, die Millionen Personen erlitten haben. Sie setzen auch 2021 ihren Kurs im Dienste der großen Konzerne fort. Sie unterwerfen sich beim Erwerb der Impfstoffe den Gewinnerwartungen der Pharmakonzerne. Gesunde Gewinnmargen haben Vorrang vor der menschlichen Gesundheit. Profit geht vor Mensch.

Unsere bereits im gemeinsamen Buch vorgeschlagene solidarische Perspektive für den massiven Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens, eines zentralen Bestandteils einer gesellschaftlichen Infrastruktur, erhält durch die rasante Ausdehnung der zweiten Welle der Pandemie eine zusätzliche Dringlichkeit. Schließlich betonen wir, dass die Bekämpfung der Pandemie sowohl eine unmittelbar gesundheitliche als auch umfassende demokratische und gesellschaftliche Aufgabe ist.

Wir schließen uns dem internationalen Aufruf für die konsequente Eindämmung der Covd-19 Pandemie in Europa an.41 Dieser wurde am 19. Dezember 2020 vorwiegend von WissenschaftlerInnen aus den Natur- und medizinischen Wissenschaften lanciert.

Um die Pandemie wirksam zu bekämpfen ist sofort eine gemeinsame europäische Strategie nötig. Nur wenn alle Länder gleichzeitig die Infektionen zurückdrängen, können die Grenzen zwischen den europäischen Ländern offengehalten werden. Denn die Impfstoffe werden erst stark zeitverzögert wirklich helfen, das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen. Damit ist vor Ende 2021 nicht zu rechnen. Die AutorInnen formulieren ein klares unmittelbares gesellschaftliches Ziel: jede einzelne SARS-CoV-2-Ansteckung in Europa muss direkt nachvollziehbar sein. Um dieses Ziel zu erreichen, verlangen die AutorInnen die Umsetzung einer dreistufige Strategie.

  • Erstens sind die Ansteckungen auf maximal 10 Covid-19-Fälle pro Million Menschen pro Tag zu reduzieren. Hierzu braucht es entschlossenes Handeln und tiefgreifende Interventionen. Um einen Ping-Pong-Effekt zwischen den Ländern und Regionen zu vermeiden, müssen die Maßnahmen zur Reduktion der Fallzahlen in allen europäischen Ländern möglichst schnell und synchronisiert durchgesetzt werden.
  • Ist dieser erste Schritt erreicht, können zweitens die Beschränkungen sorgfältig gelockert werden. Die niedrigen Fallzahlen sind mit einer Kontrollstrategie – mindestens 300 Tests pro Million EinwohnerInnen pro Tag – langfristig zu stabilisieren. Lokale Ausbrüche sind sofort energisch, nötigenfalls mit regionalen Absperrungen, einzudämmen.
  • Drittens ist eine gemeinsame langfristige Vision zu formulieren. Auf der Basis von europäischen Zielen sind kontextabhängige regionale und nationale Aktionspläne zu entwickeln. Diese beinhalten Screening- und Impfstrategien, Schutz von Risikogruppen und Unterstützung der Menschen, die besonders stark von der Pandemie betroffen sind.

Warum ist eine derart massive Eindämmung der Pandemie auf nur noch ganz wenige Ansteckungen sinnvoll? Fünf Argumente:

  • Mit der zunehmenden Verbreitung eines Virus nimmt auch die Häufigkeit seiner Mutation zu. Die neue Mutation B117 breitet sich in England extrem schnell aus und wurde bereits auch in vielen Ländern Europas identifiziert. Wir brauchen eine rasch wirksame Antwort. Nur mit einer möglichst geringen Anzahl von Ansteckungen sind Mutationen des Virus so niedrig zu halten, dass auch deren überraschende Konsequenzen gesellschaftlich angemessen kontrolliert werden können.
  • Die wiederholt propagierte Herdenimmunisierung ist menschenfeindlich und reaktionär. Die wissenschaftlichen Evidenzen sind erdrückend, dass eine solche Strategie bei SARS-CoV-2 in eine gesellschaftliche Katastrophe führen würde. Die Impfkampagnen werden erst mit starker Zeitverzögerung gegen Ende 2021 ihre Wirkung erzielen. Zudem werden die Impfungen geographisch und sozial sehr ungleich stattfinden und eine gigantische Gerechtigkeitslücke im Weltmaßstab aufreißen.
  • Der vielbeschworene Schutz der Risikogruppen ist eine Illusion. In den europäischen Ländern zählt rund ein Viertel bis ein Drittel der Menschen zu einer Risikogruppe oder steht in engem Kontakt mit risikobehafteten Menschen (hoher Anteil von Menschen mit als 65 Jahren, Beschäftigte im Gesundheitswesen und Pflegeheimen, Familienangehörige, FreundInnen etc.). Eine derart große Anzahl Menschen lässt sich nicht besonders schützen oder gar abschirmen. Der Verlauf der Pandemie und die Hilflosigkeit der Behörden offenbaren das sehr brutal. Zudem wäre es weder solidarisch noch sozial angemessen, sondern ausgesprochen selektierend, Kranke und Alte einfach monate- oder gar jahrelang zu isolieren und vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen.
  • Nur eine massive Eindämmung der Pandemie auf ganz wenige Fälle verhindert, dass die Lasten und Folgekosten der Pandemie weitgehend auf die Lohnabhängigen, Unterklassen und Armen und hierbei besonders auf die Frauen abgewälzt werden. Die radikale Eindämmung der Pandemie muss ein zentrales Anliegen der Organisationen der ArbeiterInnenbewegungen, Frauenbewegung und antirassistischen Bewegung sein. Die Pandemie lässt die Klassenverhältnisse, Geschlechterverhältnisse und den Rassismus noch offener zu Tage treten.
  • Die Gesellschaften in den imperialistischen reichen Ländern sind in der Lage, mit technischen und gesellschaftlichen Mitteln, mit Lockdowns, Shutdowns und gezielten Einschränkungen die Virusausbreitung einzudämmen. Dazu braucht es primär den gesellschaftlichen und politischen Willen. In den riesigen urbanen Großräumen der armen und aufstrebenden Ländern ist eine solche radikale Eindämmungsstrategie aufgrund der Armut, der konkreten Lebensbedingungen und der fehlenden Infrastruktur mit enormen gesellschaftlichen Kollateralschäden verbunden, sofern die Pandemie nicht frühzeitig unter Kontrolle gebracht werden kann. Darum haben die Gesellschaften in den reichen imperialistischen Ländern auch eine globale Verantwortung.

Es ist offensichtlich, dass die Kräfteverhältnisse nicht ausreichen, um diese Orientierung auf eine weitreichende Ausmerzung der Virusausbreitung durchzusetzen. Dennoch ist sie in die gesellschaftliche Debatte zu bringen. Eine ökosozialistische Orientierung besteht ja gerade darin, die scheinbaren wirtschaftlichen Sachzwänge argumentativ zu durchbrechen und das gesellschaftlich scheinbar Unrealistische denkbar zu machen. Ist es nicht so, dass vieles, was Anfang 2020 undenkbar erschien, im Verlauf des abgelaufenen Jahres Realität wurde?

Große Teile der Linken prangern zu Recht die autoritären Tendenzen der Pandemiepolitik der Regierungen an. Doch diese demokratische Argumentation macht nur dann Sinn, wenn man die fundamentale Herausforderung der Pandemie für die Gesundheit der Menschen anerkennt und zugleich das klare Ziel der radikalen Eindämmung des SARS-Cov-2 Virus formuliert und mitträgt.

Mit dem oben erwähnten Aufruf mischen sich zahlreiche NaturwissenschaftlerInnen aktiv in eine zentrale gesellschaftliche Debatte ein. Sie handeln damit unmittelbar politischer als Gewerkschaften und linke Parteien, die es nach fast einem Jahr Covid-19 Pandemie bis heute nicht geschafft haben, ein klares Ziel der Pandemiepolitik in Bezug auf die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus zu definieren.

Für die Entwicklung gemeinsamer gesundheitspolitischer Initiativen ist es sinnvoll, den Dialog mit diesen ForscherInnen aufzunehmen. Einige von ihnen meldeten sich bereits im April und September mit den bereits oben erwähnten wertvollen Stellungnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu Wort.

Allerdings fehlen in diesem Aufruf zentrale gesellschaftliche und ökonomische Anliegen, die zu berücksichtigen sind, um diese Strategie zu einer solidarischen Strategie zu machen und um die Menschen von den erforderlichen Maßnahmen zu überzeugen. Die Regierungen bauen ihren repressiven Apparat aus, zwingen die Menschen dazu, sich in ihrem Sozialleben einzuschränken und tun gleichzeitig alles, um den Interessen des Kapitals Genüge zu tun. Die Pandemie betrifft die Menschen äußerst ungleich, weltweit und in jeder Gesellschaft. Die einschränkenden Maßnahmen der Regierungen verschärfen die soziale Ungleichheit und die soziale Diskriminierung. Die Pandemie offenbart das soziale Elend unserer Gesellschaften.

Das riesige Gesundheitsdesaster bringt in England, Wales und Schottland nun eine wachsende Anzahl Menschen dazu, eine radikale Perspektive in die gesellschaftliche Diskussion zu tragen. GewerkschafterInnen, AktivistInnen für ein soziales Gesundheitswesen und aus verschiedenen Bewegungen sowie ÖkosozialistInnen haben im November unter dem Motto Zero Covid eine Kampagne zur weitgehenden Ausmerzung der Virusverbreitung initiiert. Auch SozialistInnen in Irland vertreten diese Position.42 Ob sich daraus eine Massenkampagne entwickelt, wird sich zeigen. Auf jeden Fall ist es sinnvoll, dass die sozialistischen Organisationen in andern Ländern diese Erfahrungen aufgreifen. Der pan-europäische Aufruf der WissenschaftlerInnen bietet nun die Chance, diese Diskussion breit zu führen.

Die Gewerkschaften, emanzipatorischen Bewegungen und sozialistischen Organisationen müssen sich vorbehaltlos hinter die hier vorgestellte internationale Initiative aus der Wissenschaft stellen. und dabei selbstverständlich ein sozialökologisches Forderungsprogramm aufstellen. Dazu zählen:

Die Ausbreitung des Sars-CoV2-Virus muss umgehend soweit eingedämmt werden, dass die einzelnen Ansteckungen mit einem flächendeckenden Contact Tracing wieder nachvollziehbar sind. Auf dieser Grundlage kann dann kombiniert mit einer Impfkampagne die Pandemie auf nahezu Null gebracht werden.

Lockdowns, Shutdowns und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie müssen in einer solidarischen Weise alle Bereiche der Gesellschaft einbeziehen – Produktion, Transport, Konsum und Freizeit. Diese Maßnahmen müssen für eine kurze Zeit die Zirkulation und alle nicht unbedingt erforderlichen Kontakte der Menschen in ganz Europa weitgehend aussetzen. Nicht unmittelbar gesellschaftlich notwendige Bereiche der Wirtschaft sind temporär nötigenfalls einzuschränken oder herunterzufahren, sofern die Einschränkungen dazu beitragen, die Virusausbreitung rasch einzudämmen. Das gilt ganz besonders für Fleischfabriken, große Lager und alle Betriebe, in denen die Beschäftigten dicht nebeneinander arbeiten müssen.

Die Lohnabhängigen und Kleinunternehmen müssen durch ein umfassendes Unterstützngsprogramm mit Lohnfortzahlung und weitere gezielte Begleitmaßnahmen abgesichert werden.

Der gesamte Gesundheits- und Pflegebereich ist sofort und nachhaltig auszubauen und mit einer Ausweitung des Personalbestandes zu stärken. Die Löhne sind spürbar anzuheben.

Eine besondere Aufmerksamkeit ist den Gesundheitsämtern und den mit Gesundheitsanliegen befassten Behörden geschuldet. Das Personal in diesen Einrichtungen muss mindestens verdoppelt werden, um ausreichende Kapazitäten für das Verfolgen der Infektionsketten und die Durchbrechung derselben zur Verfügung zu haben. Die Arbeitsbedingungen und Entlohnung in diesem Bereich müssen so gestaltet sein, dass die Arbeitsplätze wieder attraktiv sind.

Alle Privatisierungen im Gesundheits- und Pflegebereich sind sofort zu stoppen.

Die skandalösen, im gesamten Corona-Jahr 2020 in Deutschland fortgesetzten Schließungen von mehr als 25 Krankenhäusern ist sofort zu beenden.

Die Krankenhausfinanzierung über Fallpauschalen ist durch ein solidarisches und bedarfsgerechtes System zu ersetzen.

Es darf keine Rettungspakete für Unternehmen geben, die dazu beitragen gesellschaftlich und ökologisch unsinnige Bereiche aufrechtzuerhalten (bspw. in der Luftfahrt- und Automobilindustrie). Vielmehr ist ein sozial-ökologischer Umbaufonds einzurichten, um den industriellen Um- und Rückbau zu mitzufinanzieren.

Die Beschäftigten sind vor Kündigung zu schützen, die Arbeitslosenunterstützung ist auszubauen und das Kurzarbeitsgeld ist auf 90 Prozent anzuheben. Kulturschaffende und Kleinstunternehmen sind direkt zu unterstützen.

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Virusausbreitung treffen die ohnehin bereits benachteiligten Menschen am stärksten. Dieser Diskriminierung ist mit geeigneten Maßnahmen entgegenzutreten (Kleingruppen in Kindergärten, kleine Schulklassen, Öffnung leerstehender Hotels für Familien in kleinen Wohnungen und Flüchtlinge, etc., siehe auch Kreilinger, Wolf, Zeller 2020: S. 174ff und Kapitel 13).

Die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung sind gesellschaftlich solidarisch mit einer Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Einkommen und Unternehmensgewinne zu finanzieren. Wir unterstützen die Forderung nach einer europaweiten Corona-Sondersteuer auf Reichtum.

Impfstoffe müssen ein globales öffentliches Gut für die gesamte Menschheit sein. Darum ist perspektivisch der Patentschutz in diesem Bereich aufzuheben. Die Menschen in den armen Ländern müssen das gleiche Recht auf Impfung haben wie die Menschen in den reichen Zentrumsländern. Im Sinne einer unmittelbar wirksamen Maßnahme könnten jedoch Staaten bzw. die EU die Patentrechte erwerben, um die Eigentumsrechte unter öffentliche Kontrolle zu stellen.

Die Gewerkschaften sollten umgehend in allen Betrieben unter Einhaltung der Pandemievorsorgemaßnahmen einen offenen Diskussionsprozess mit allen Beschäftigten initiieren, um gemeinsame Schritte „von unten“ gegen die Pandemie in den Betrieben, im öffentlichen Verkehr und am Wohnort zu konzipieren und durchzusetzen. Im Dialog mit den Initiativen aus der feministischen Bewegung, der Flüchtlingssolidarität, MieterInnenbewegung und der Klimabewegung sowie den Initiativen aus der Wissenschaft lässt sich ein wirksames und solidarisches Programm zur Pandemiebekämpfung formulieren und verwirklichen. Die Regierungen schützen die Bevölkerung nicht, die Menschen müssen sich gemeinsam selber schützen, gegen die Pandemie und gegen die ungerechten Maßnahmen der Regierungen.

Anmerkungen:

1 Verena Kreilinger und Christian Zeller: Corona-Pandemie – eine historische Wende. Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen, Produktion kurzzeitig und geplant runterfahren!. 24. März 2020. http://www.oekosoz.org/wp-content/uploads/2020/03/VK_CZ_20200320_Corona_Gesundheit.pdf. Verena Kreilinger, Winfried Wolf und Christian Zeller: Corona. Kapital. Krise. Für eine solidarische und ökologische Alternative www.oekosoz.org/wp-content/uploads/2020/04/Corona-Kapital-Krise.pdf

2 Kreilinger, Verena; Wolf, Winfried und Zeller, Christian (2020): Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in Zeiten der Pandemie. Köln: Papyrossa, 277 S.

3 Euromomo: Graphs and maps. Week 53, gesichet 1. Januar 2020 https://www.euromomo.eu/graphs-and-maps/

4 Inzwischen hat sich die Formulierung eingebürgert, Menschen seien „an und mit dem COVID-19-Virus gestorben“. Damit wird unterstellt, in den Epidemie-Statistiken würde die Zahl der Corona-Toten übertrieben. Das Gegenteil ist der Fall. Das ergab eine Studie in Italien. Dort haben Wissenschaftler am Nationalen Statistikinstitut Italiens (Istat) die Todesfallstatistik mit den Covid-19-Sterbezahlen verglichen und die Ergebnisse im Fachblatt JAMA Internal Medicine publiziert. Sie werteten dabei die Sterbezahlen von 1689 italienischen Gemeinden aus, was einem Fünftel aller Gemeinden des Landes entspricht. In diesen Gemeinden waren zwischen dem 1. März und dem 4. April 2020 pro Woche bis zu 10.000 Menschen mehr gestorben als in den Vorjahren. Die Zahl der offiziellen Covid-19-Toten lag weit unter diesen zusätzlichen Sterbefällen. Sie stieg bis zum 4. April von Null auf gut 5000 pro Woche an. Die Bilanz der Autoren Manfredi Rizzo und Nicola Montano: „Die offizielle Zahl der Covid-19-Toten in Italien unterschätzt, wie in anderen Ländern auch, substantiell den tatsächlichen Anstieg der Mortalität während der Pandemie.“ Comparison of Reported Deaths From COVID-19 and Increase in Total Mortality in Italy, JAMA Internal Medicine, 1. September 2020; Süddeutsche Zeitung vom 22.7.2020).

5 Siehe ausführlich Verena Kreilinger / Winfried Wolf / Christian Zeller, Corona, Kapital, Krise, Köln 2020, Seite 163ff.

6 2011 gab es „nur“ 1200 „nicht besetzte Pflegestellen auf Intensivstationen“ in Deutschland; 2020 waren es 4700. Quellen: Divi-Intensivregister; Der Spiegel 46/ 7.11.2020.

7 Kleiner, Matthias; Neugebauer, Reimund; Stratmann, Martin und Wiestler, Otmar D., Strategien zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie. Eine Stellungnahme der Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen, 28. April 2020, Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V., Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V., Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V.

8 Stellungnahme der Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen zur COVID-19-Epidemie vom 24. September 2020; Autoren und Institutionen wie oben in Fußnote [7].

9 SGI (2020): COVID-19: Vollständige Auslastung zertifizierter und anerkannter Intensivbettenkapazitäten (2), 17. November 2020, Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin.

10 Nach: ADAC vom 8. Dezember 2020. https://www.adac.de/reise-freizeit/skifahren-corona/

11 Neue Zürcher Zeitung vom 22. Dezember 2020. https://www.nzz.ch/schweiz/are-you-joking-britische-skitouristen-zur-quarantaenepflicht-ld.1593331

12 ] RKI-Risikostudie „Pandemie durch Virus Modi-SARS“; veröffentlicht am 13. Januar 2013 als Bundestagsdrucksache 17/12051. Siehe ausführlich in Kreilinger/Wolf/Zeller, Corona, Kapital, Krise, a.a.O., S.56ff.

13 Zoonosen sind Infektionskrankheiten, die auf natürliche Weise zwischen Mensch und anderen Wirbeltieren übertragen werden können. Die Gefahr solcher Krankheiten wächst u.a. in dem Maß, wie die Wildtierwelt von der menschlichen Zivilisation eingeengt wird. Dabei spielt die Massentierhaltung zusätzlich eine problematische, diese Gefahren verstärkende Rolle. Siehe auch Kurznachrichten 22. Siehe Kreilinger/Wolf/Zeller, a.a.O., S.28ff.

14 Kreilinger, Verena; Wolf, Winfried und Zeller, Christian (2020): Corona, Krise, Kapital. Plädoyer für eine solidarische Alternative in Zeiten der Pandemie. Köln: Papyrossa, 277 S.

15 Solidarwerkstatt Österreich: Wir brauchen Gesundheits-, Sozial- und Demokratieschutz! https://www.solidarwerkstatt.at/demokratie-politik/wir-brauchen-gesundheits-sozial-und-demokratieschutz

16 Das Virus ist zurück in den Heimen, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. November 2020.

17 Nach: Fleischindustrie – Virenschleuder Schlachthof, in: Der Spiegel 46/2020. Angaben zuvor zu Singen: Schwäbische Zeitung vom 4. November 2020. Es handelt sich um die ECE-Baustelle, auch CANO-Center genannt.

18 Ines Wallrodt, Der hustende Mitarbeiter, in: Neues Deutschland vom 12. Dezember 2020.

19 Interview mit Stefan Ehehalt, Leiter des Stuttgarter Gesundheitsamtes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. November 2020.

20 Talha Burki, China´s succesful control of Covid-19, in: The Lancet vom 8. Oktober 2020. Die Autorin betont u.a. das „breite Engagement der Bevölkerung“ und die „beispiellose Solidarität“, die es bei der Bewältigung der Epidemie in China gegeben habe.

21 Worldometers, Stand 1. Januar 2020. https://www.worldometers.info/coronavirus/

22 „Wir haben harte Lektionen gelernt“, Interview mit dem Direktor der Afrikanischen Seuchenschutzbehörde, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.11.2020.

23 Gaby Weber, Uruguays Weg zwischen Darwinismus und Käfighaltung, November 2020, siehe: Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=88TYp_gC3FM

24 In: Der Tagesspiegel vom 14. November 2020.

25 Laut Gewerkschaft Verdi sind 300 der 1800 Beschäftigten in dem Amazon-Werk in Graben bei Augsburg mit dem Virus infiziert. Süddeutsche Zeitung vom 4.12.2020.

26 Nach: BDI-Erklärung vom 23. Oktober 2020.

27 Nach: Die Welt vom 30. April 2020.

28 Von den zwei Millionen Corona-Toten, die es bis Februar 2021 absehbar gibt, lebten rund 1,75 Millionen in westlichen Gesellschaften mit Systemen der Renten- und Altersversorgung. Gut 70 Prozent von ihnen oder 1,2 Millionen befanden sich zum Zeitpunkt ihres Todes im Rentenalter. Wenn wir nur ein durchschnittliches monatliches Renteneinkommen von 900 Euro unterstellen, dann ergibt dies mehr als eine Milliarde Euro im Monat bzw. gut 12 Milliarden Euro in Jahr an entfallenden Rentenzahlungen. Im Durchschnitt hatten die Betroffenen noch mindestens zehn Jahre Lebenszeit vor sich gehabt. Was 120 Milliarden Euro ausmacht.

29 Jasper von Altenbockum, Bitte um Verzeihung, in; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Dezember 2020.

30 Niklas Záboji, Europa in der Defensive, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Januar 2021.

31 Wer Einkommen verliert, ist besonders empfänglich für Pandemie-Verschwörer, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.11.2020; auch: Der Spiegel vom 29. Oktober 2020.

32 Börse ARD vom 22. Oktober 2020. https://boerse.ard.de/anlagestrategie/vorsorge/trotz-corona-mehr-millionaere-in-deutschland100.html

33 András Szigetvari, Renate Graber: Unternehmen vermieten Immobilien an sich selbst – und erhalten dennoch staatliche Zuschüsse. Der Standard, 20. November 2020. https://www.derstandard.at/story/2000121847189/unternehmen-vermieten-immobilien-an-sich-selbst-und-erhalten-dennoch-staatliche

34 ORF: Sonntagsöffnung: Katzian mit Gegenforderungen. 19.11.2020.https://orf.at/stories/3190564/

35 Christian Zeller: Gewerkschaften: Bedingungslos für die Gesundheit der Lohnabhängigen? Sozialismus.ch, 14. Dezember 2020 https://sozialismus.ch/arbeit/2020/gewerkschaften-bedingungslos-fuer-die-gesundheit-der-lohnabhaengigen/

36 Interview Christian Zeller: «Arbeit ist eine zentrale ökologische Herausforderung» VPOD-SSP, 27. November 2020 https://vpod.ch/news/2020/11/arbeit-ist-eine-zentrale-oekologische-herausforderung/

37 Michael Meyer-Hermann (Helmholtz-HZI), Iris Pigeot (Leibniz-BIPS), Viola Priesemann (MPI-DS), Anita Schöbel (Fraunhofer-ITWM): Adaptive Strategien zur Eindämmung der COVID-19-Epidemie. 28. April 2020.

38 Eoghan Ó Ceannabháin: Zero Covid: Our Way Out. Rebel News, October 19, 2020 http://www.rebelnews.ie/2020/10/19/zero-covid-way-out/

39 Moderna will zwischen 25 und 37 Dollar pro Impfstoff-Dosis verlangen. Handelsblatt, 22. November 2020. https://www.handelsblatt.com/technik/forschung-innovation/corona-pandemie-moderna-will-zwischen-25-und-37-dollar-pro-impfstoff-dosis-verlangen/26647710.html

40 Moritz Schularick und Gustav Oertzen: Warum wir jetzt über „Kriegswirtschaft“ sprechen müssen, in Der Spuegel vom 23. Dezember 2020. https://www.spiegel.de/wirtschaft/warum-wir-jetzt-ueber-kriegswirtschaft-sprechen-muessen-a-724a2dd7-b2b2-45c8-8adf-8d736752153f

41 WissenschaftlerInnen fordern europäische Strategie zur raschen und nachhaltigen Reduktion der COVID-19-Fallzahlen. https://www.containcovid-pan.eu/ Siehe auch: Priesemann, Viola; et.al. (2020): Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections. The Lancet. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32625-8

42 Das unabhängige Forschungsnetzwerk IndieSAGE verlangt eine ZeroCovid-Strategie: A better way to go – towards a zero COVID UK. https://www.independentsage.org/independent-sage-on-achieving-a-zero-covid-uk-i-e-the-elimination-of-the-virus-from-the-uk/ Unter dem Motto ZeroCovid haben sich unterschiedliche Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter auch Gewerkschaftsgliederungen, zusammengeschlossen, um eine breite Kampagne zu führen. https://zerocovid.uk/ Mehrere sozialistische Organisationen beteiligen sich an dieser Kampagne.