blog 15: Putschversuch in den USA

Ein verwundetes Imperium. Und die Gefahr eines Wiedergängers

Jetzt diskutieren sie in den USA also eine Amtsenthebung von Mr. Trump. Dabei wäre eine Anklage und umgehende Verhaftung wegen versuchten Staatsstreichs angemessen. Jetzt diskutieren sie in Washington auch, inwieweit die Marodierer, die am 6. Januar das Kapitol gestürmt und besetzt hatten, MÖGLICHERWEISE vor Gericht gestellt werden. Dabei wäre die sofortige Verhaftung an Ort und Stelle angemessen gewesen. Jetzt diskutieren sie in den USA, ob mit der Aktion am 6. Januar „die Demokratie Schaden gelitten“ hätte. Damit ist jedoch nur der Sturm des Mobs auf das Kapitol gemeint. Schaden gelitten hat das, was hier als „Demokratie“ bezeichnet wird, vor allem durch die Debatte und die Abstimmung in den ehrwürdigen Räumen und dort das gewählte Personal selbst. Denn an diesem 6. Januar NACH dem Sturm stimmten immer noch einhundertachtunddreißig Mitglieder des Repräsentantenhauses und eine Handvoll Senatoren dem Antrag zu, wonach das Wahlergebnis aus dem Bundesstaat Pennsylvania ungültig und aufzuheben sei. Das Narrativ des noch amtierenden US-Präsidenten, wonach „der Wahlsieg gestohlen“ wurde, findet – entgegen aller Fakten – weiterhin eine erhebliche Unterstützung im Kongress. Weiterlesen HIER.

Das Entsetzen und die Empörung über den rechten Mob, der mehrere Stunden lang das Kapitol in Washington besetzte, dürfte sich bald gelegt haben. Dies ausgerechnet mit „shock and awe“, der Losung der US-Truppen im Irak-Krieg 1990 zu vergleichen, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung dies tut, ist angesichts der fürchterlichen Folgen, die die US-Politik im Nahen Osten und anderswo für die Menschen hatte und weiterhin hat, ausgesprochen makaber.[1] Die Bilder vom Sturm auf das Kapitol freilich bleiben ähnlich präsent wie die vom 11. September 2001. Wobei die politische Bedeutung von 1/6 auf längere Sicht größer sein könnte als die von 9/11. Es erscheint geboten, den Vorgang vor dem Hintergrund der Krise der bürgerlichen Herrschaft, der Erosion der parlamentarischen Demokratie und des Niedergangs der US-Hegemonie zu analysieren.

Zunächst springt die Art und Weise ins Auge, wie die feierliche Versammlung des US-amerikanischen Kongresses gesprengt wurde. Da versammelt sich das höchste Organ der Legislative in den USA – der United States Congress – zu einer der wichtigsten Sitzungen, die es in einer Legislaturperiode gibt, um feierlich den Ausgang der vorausgegangenen Wahl zum neuen US-Präsidenten zu bestätigen. Anwesend waren so gut wie alle der 435 Abgeordneten und der 100 Senatorinnen und Senatoren. Alle von ihnen sind geübt darin, große Reden zu halten über freedom and democracy und das Land „of the free and the home of the braves“, das in der US-Nationalhymne gepriesen wird, zu besingen. Und dann wird diese ehrwürdige Runde von ein paar Hundert durchgeknallten Trump-Anhängern gesprengt; die Sicherheitskräfte sind konfus, willenlos; einige fraternisieren mit der Meute. Bei den Volksvertretern herrscht Chaos und das individuelle „Rette sich wer kann!“ Und nicht ein einziger und nicht eine einzige der gewählten Repräsentanten zeigt Würde und Mut, um die ehrenwerte Runde zu verteidigen und den Mob in die Schranken zu weisen.

Sodann ist festzuhalten: Das war ein im Detail öffentlich angekündigter und erkennbar vorbereiteter Sturm. Der Zeitpunkt und das Ziel standen fest – angekündigt von Trump auf seinem Twitter-Volksempfänger und verkündet direkt vor der Aktion auf einer Kundgebung. Am 20. Dezember setzte Trump einen Tweed ab mit dem Text: „Großer Protest in [Washington] D.C. am 6. Januar. Kommt! Das wird wild!“ Am Tag vor 1/6 verbreitete Trump einen weiteren unzweideutigen Tweed mit: „Ich werde morgen auf der ´Save America´-Kundgebung sprechen, ab 11 Uhr an der Ellipse. Kommt früh; die Türen öffnen um sieben Uhr. Große Menschenmengen.“ Und direkt vor dem Sturm, auf der besagten Kundgebung selbst, hetzte der US-Präsident wie folgt: „Unser Land hat genug. […] Wir werden den Diebstahl stoppen! […] Gehen wir also die Pennsylvania Avenue entlang. Ich liebe die Pennsylvania Avenue. Wir gehen zum Kapitol.“ Übrigens: Es gab ein Dutzend solcher Mitteilungen in den sozialen Medien. Keiner von ihnen wurde zensiert oder gestoppt. Twitter hat nach dem gescheiterten Sturm auf das Kapitol den Account Trumps gesperrt. Marc Zuckerberg blockierte Trumps Facebook- und Instragram-Accounts ebenfalls erst nach dem gescheiterten Marsch zum Kapitol. Das zeigt zum einen, dass die Social-Media-Multimilliardäre abwarten wollten, wie die Sache ausgeht. Zum anderen wirft der Vorgang ein düsteres Licht auf die Medienmacht der asozialen Medien-Konzerne, die sich auch mal gerne zur Vorbereitung eines Staatsstreichs im eigenen Land nutzen lassen.[2] Schließlich durfte Donald Trump vier Jahre lang fast immer ungefiltert via Twitter Lügen, Hass und Hetze verbreiten – mit 90 Millionen Follower.

Ähnlich wie im Fall des Putschversuchs in Spanien vom 23. Februar 1981, der als aussichtslose Tat eines durchgeknallten Militär, ausgebremst durch das „mutiges Auftreten des spanischen Königs Juan Carlos“, bagatellisiert wurde (in Wirklichkeit standen der König und ein führender General selbst hinter dem Putsch[3]) – wird heute 1/6 als Tat eines „narzistisch entrückten“ US-Präsidenten, der „seine Niederlage und damit auch nicht den demokratischen Wettbewerb akzeptieren kann“, kleingeredet. Dabei habe sich an diesem 1/6-Tag ja auch „die Widerstandskraft der amerikanischen Institutionen“ gezeigt, was „optimistisch (stimme)“, so ein Leitartikel in der „Welt“.[4]

In Wirklichkeit handelte es sich – durchaus ähnlich dem Putschversuch in Spanien, der dann dort auch als autogolpe, als „Selbst-Putsch“ bezeichnet wird – um einen Putschversuch durch den US-Präsident Donald Trump selbst.[5] Und dieser Versuch, durch eine gewaltsame Aktion an der Macht zu bleiben, war keineswegs von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es gab ein halbes Dutzend Faktoren, die für Trumps Sache – eher zufällig – schlecht liefen, weswegen der Umsturzversuch kläglich scheiterte und weshalb nun Trump als vollkommen deppert hingestellt werden kann. Da war die US-Präsidentschaftswahl selbst, die mit 46,8 zu 51,3 Prozent keineswegs ein Erdrutschsieg Bidens war. Da waren mehrere Swing States, die mit äußerst knappen Ergebnissen Biden zufielen. Da gab es die Möglichkeit, dass sich bei Nachzählungen Ungenauigkeiten ergeben konnten, was die Möglichkeit einer Neuwahl befördert, in jedem Fall aber die Autorität des Wahlergebnisses noch stärker allgemeinen Zweifeln ausgesetzt hätte. Da gab es die Gefahr, dass das Wahlergebnis in einzelnen, republikanisch regierten Bundesstaaten von den in diesen Staaten verantwortlichen Stellen auch offiziell angezweifelt worden wäre. Dann gab es die Gefahr, dass der mit einer Trump-Mehrheit ausgestattete Supreme Court sich zugunsten einer Wahlwiederholung eingeschaltet hätte. Es gab die Wahl im Bundesstaat Georgia, die erneut mit einer äußerst knappen Mehrheit für die Demokraten endete. Und nicht zuletzt gab es die Gefahr, dass der Vizepräsident Mike Pence, der vier Jahre lang eisern zu Trump gehalten und der alle seine frivolen Kapriolen und zynischen Lügen verteidigt hatte, sich im Kongress, wie von Trump gefordert, weigern würde, das Wahlergebnis anzuerkennen.

Wenn es nur in einem dieser Fälle zu einem für das Trump-Lager günstigen Ergebnis gekommen wäre, wäre dies als ein Fanal verstanden worden. Der Putschversuch hätte dann durchaus zumindest in einen Teilerfolg – zum Beispiel in eine Wiederholung der Wahl unter dann bürgerkriegsähnlichen Umständen – münden können. Dass die Lage selbst in den letzten Tagen vor 1/6 ernst war, zeigt die in der Geschichte der USA einmaligen Erklärung der zehn noch lebenden ehemaligen US-Verteidigungsminister, veröffentlicht in der „Washington Post“ zwei Tage vor dem Putschversuch. Darin warnen dieselben Herren, die selbst Verantwortung für mehr als ein Dutzend gewaltsame Staatsstreiche – natürlich in anderen Ländern – tragen, in deutlichen Worten vor einem Rückgriff auf das Militär im Konflikt um das Wahlergebnis: „Versuche, die US-Streitkräfte in die Lösung von Wahlstreitigkeiten hineinzuziehen, würden uns in gefährliches, unrechtmäßiges und verfassungswidriges Terrain führen“.[6]

Die Wahl von Donald Trump vor vier Jahren hatte bis zum Wahltag selbst als einigermaßen aussichtslos gegolten. Dass der Mann sich dann vier Jahre nicht nur im Amt halten, sondern seine Macht im Weißen Haus und im Land ausbauen konnte, war von kaum jemandem erwartet worden. Tatsächlich war Donald Trump in seiner gesamten Amtszeit als US-Präsident in den herrschenden Kreisen der USA sehr wohl gelitten; er hatte lange Zeit den größten Teil derjenigen Leute hinter sich, die sich als Elite des Landes verstehen: die Bosse von Banken, Konzernen und Finanzindustrie unterstützten ihn in ihrer deutlichen Mehrheit. Interessanterweise gab es am ehesten Widerstände im Militär und in den Geheimdiensten – was allerdings höchst spezifische Gründe hatte.[7] Trump war auch erfolgreich darin, die Republikanische Partei so umzuformen, dass sie eine willfährige Machtmaschine in seinen Händen wurde – und dies weitgehend noch bis zum Tag vor dem Sturm auf das Kapitol. Vor allem aber gelang es Trump, die US-amerikanische Gesellschaft in großen Teilen weit nach rechts zu verschieben und eine für faschistoide Positionen und faschistische Gruppen offene Stimmung bei großen Teilen der Mittelschichten zu schaffen. Auch die Zahl der organisierten und militärisch bewaffneten faschistischen Milizen hat sich in Trumps Amtszeit vervielfacht – Hajo Funke hat darauf in einem sorgfältig recherchierten Beitrag vor den US-Wahlen hingewiesen.[8] Dass diese organisierten Faschisten – so die proud boys – sich am Sturm auf das Kapitol wohl nicht oder nicht in größerem Maß beteiligt haben, dürfte Kalkül sein; ganz sicher war dies nicht Ausdruck von Schwäche. Die Tatsache, dass die herrschenden Kreise Trumps Aktion, die ja als Aufruhr und Putschversuch gegen die Verfassungsorgane gebrandmarkt werden müsste, keineswegs grundsätzlich ablehnen, zeigt die Tatsache, dass nach dem Sturm auf das Kapitol das Thema „Amtsenthebung“ nur kurz angesprochen wurde. Offensichtlich soll Trump auch die letzten Tage seiner Zeit als US-Präsident in Amt und Würden verbringen. Das führende rechte Wirtschaftsblatt The Wall Street Journal, das Trump vier Jahre lang die Treue hielt, verabschiedete sich in einem Leitartikel von dem Putschisten-Milliardär in ausgesprochen höflicher Weise mit: „In the name of God – go!“ Trump möge in Gottes Namen die Politbühne verlassen.[9] Schon möglich, dass Trumps Abgang dann am Ende weniger galant stattfindet, zumal nun ein Impeachment-Verfahren doch, wenn auch schleppend, in Gang zu kommen scheint.

Doch all diese bedrohlichen und abstoßenden Entwicklungen auf der politischen Bühne der USA sind nicht primär einer durchgeknallten Person oder einem beutegierigen Familienclan zuzuschreiben. Benito Mussolini und Adolf Hitler mögen aus heutiger Sicht lächerliche Figuren sein; und aufgeklärte Menschen hielten sie auch damals, am Beginn ihres Aufstiegs zur Macht, für unernst, lächerlich, peinlich. In Wirklichkeit war ihr Aufstieg jedoch erklärbar vor dem Hintergrund der Krise des damaligen kapitalistischen Systems in Italien beziehungsweise in Deutschland, der Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft und des realen oder drohenden Abstiegs der Mittelschichten als Ergebnis der wirtschaftlichen und sozialen Krise.

Die Tatsache, dass eine Figur wie Donald Trump an die Spitze der westlichen Führungsmacht gespült wurde, ist das Produkt des Niedergangs der US-amerikanischen Hegemonie, der Zersetzung der middle class in diesem Land und der umfassenden Krise der kapitalistischen Gesellschaft in Nordamerika. Dabei spielen das nicht aufgearbeitete Erbe der Sklaverei und der anhaltende, flächendeckende Rassismus eine wichtige Rolle.[10] Zu Recht wiesen viele Kommentatoren darauf hin, dass die US-amerikanischen Sicherheitskräfte gegen die black-lives-matter-Bewegung mit Panzwerwagen und exzessiver Gewalt vorgeht, während sie die rechtsextremen Kapitol-Stürmer weitgehend gewähren ließen.

Die Gefahr ist sehr groß, dass Trump einen Wiedergänger findet, der dann die Früchte erntet, die er säte. Der seine Lehren aus 1/6 ziehen wird – so wie Adolf Hitler seine Lehren aus dem Putschversuch vom 9. November 1923 zog, der im Übrigen auch als „operettenhaft“ kleingeredet wurde.

Anmerkungen:

[1] „´Shock and awe´, Schock und furcht, wollte Amerika einst in den Reihen seiner Feinde verbreiten.“ Berthold Kohler, Schock und Schande, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 2021. Siehe auch: Alan Nairn, Die Amerikaner spüren jetzt einen milden Geschmack ihrer eigenen Medizin, NachDenkSeiten vom 8. Januar 2021; https://www.nachdenkseiten.de/?p=68658

[2] Zusammenstellung der Tweeds und der Trump-Reden-Auszüge nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 2021.

[3] Ralf Streck, König Juan Carlos hat den Putsch organisiert, Telepolis/Heise vom 26. Februar 2019; https://www.heise.de/tp/features/Spanien-Koenig-Juan-Carlos-hat-den-Putsch-organisiert-4319643.html

[4] Mathias Döpfner, Das Menetekel, in: Die Welt vom 8. Januar 2021.

[5] In Spanien wird das geflügelte Wort vom „autogolpe“ längst auch für Trumps 1/6-Aktion verwandt. Siehe: Andres Oppenheimer, Trump y su intento autogolpe, in: La Nacion, 7. Januar 2021. https://www.lanacion.com.ar/opinion/trump-su-intento-autogolpe-nid2562536

[6] ARD-Tagesschau vom 4. Januar 2021; https://www.tagesschau.de/ausland/trump-verteidigungsminister-105.html

[7] So waren führende Militärs und Teile des Militärisch-Industriellen Komplexes enttäuscht, dass Trump in den vier Jahren seiner Amtszeit sich militärischen Abenteuern – z.B. einem massiven militärischen Angriff auf Damaskus oder auf Teheran – enthielt.

[8] Hajo Funke, Trumps Mobilmachung: Faschistoide Gefahr für die Demokratie?, in: Sozialismus, 11/ 2020.

[9] The Disgrace on Capitol Hill, The Wall Street Journal vom 6. Januar 2021. https://www.wsj.com/articles/the-disgrace-on-capitol-hill-11609979276

[10] Winfried Wolf, Die Sklavenwirtschaft. Der Rassismus. Die USA, in: Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie, Herbst 2020, Heft 511, S.28ff.

Dieser Beitrag erschien zuerst – am 11.1.2021 – bei telepolis.