„Der Weltflugverkehr ist auf ein historisch tiefes Niveau abgestürzt“

quartalslüge I/MMXXI

Im Februar 2021 erklärte der Weltflugverband International Air Transport Association (IATA): „Aviation is in crisis. This is the most profound de-connecting of modern society since World War II.“ Es gebe eine Weltflugverkehrskrise. Noch nie seit Ende des Zweiten Weltkriegs sei es zu einer vergleichbaren Zerstörung der Vernetzung der modernen Gesellschaft gekommen. Das ist eine Quartalslüge. Wenn es eine Krise gibt, dann ist es eine Klimakrise. Zu dieser trägt der Weltflugverkehr massiv bei. Im Übrigen liegt der Weltflugverkehr auf dem Niveau von 2004. So what?

Oberflächlich gesehen gibt es natürlich einen Crash des Weltflugverkehrs. Dieser brach 2020 und gemessen am 2019er Niveau um durchschnittlich 75 Prozent ein. Der internationale Flugverkehr sogar um gut 80 Prozent. Das System der schnellsten Verkehrsart wurde in einem unvorstellbaren Maß entschleunigt. Gäbe es so etwas wie normal wirkende Marktgesetze, dann wären im Frühjahr 2021 mehr als 80 Prozent der Airlines pleite. Mindestens 90 Prozent der Flughäfen müssten geschlossen werden. Zumindest einer der großen Jet-Hersteller, in diesem Fall wohl Boeing, müsste nach dieser Marktlogik Konkurs anmelden.

All das findet nicht statt. Der Grund: Die jeweiligen Staaten kamen ihren Airlines und Airports allein im Jahr 2020 mit mehr als 200 Milliarden US-Dollar Steuergeldern zu Hilfe. Wobei das ZUSATZ-Gelder waren, obendrauf auf die ohnehin massive Subventionierung, die die Luftfahrt generell erhält.

Das eingangs dieser Quartalslüge zitierte Argument, bei dem aktuellen Einbruch im Weltflugverkehr handle es sich um die „weitreichendste Entkoppelung der modernen Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg“, verdient eine nähere Betrachtung. Denn tatsächlich ist das Niveau des Weltflugverkehrs im Corona-Jahr 2020 bzw. von Anfang 2021 dasselbe Niveau, wie es der Weltflugverkehr im Jahr 2004 hatte. 2020 waren es 1,86 Milliarden Fluggäste. Und 2004 waren es 1,88 Milliarden (siehe Tabelle). Kann sich noch jemand daran erinnern, in welch desolatem Zustand sich die Welt damals befand? So völlig „unvernetzt“? Ohne jegliche internationale Kommunikation? Wir alle – irgendwie Robinson-Crusoe-Gestalten?

Mehr noch: Das im Frühjahr 2021 bestehende Weltflugverkehrs-Niveau, das dem von 2004 entspricht, ist ungefähr doppelt so hoch wie das des Jahres 1985. Ein Vergleich mit den 1960er Jahren ist grafisch kaum darstellbar (siehe Grafik). Aus der Tabelle geht auch hervor, dass der internationale (= interkontinentale) Flugverkehr schneller wächst als der interregionale. Entsprecchend ist das Wachstum der Passagier-Kilometer (3. Spalte) auch ein größeres als das Wachstum der Zahl der Fluggäste (2. Spalte).

Nun soll es ein möglichst schnelles Zurück zum Niveau von 2019 geben – und dann neue Höhenflüge mit dem Ziel einer nächsten Verdopplung der Weltluftfahrt. 2019 befanden sich weltweit mehr als 400 Flughäfen in konkreter Planung oder im Bau, davon mehr als 200 im asiatisch-pazifischen Raum, aber auch 58 in Europa.1 In Istanbul ging 2019 einer der größten Flughäfen der Welt in Betrieb (Kapazität: 90 Mio Fluggäste; Ausbauziel: 150 Mio Fluggäste). In Polen ist ein vergleichbar gigantischer Flughafen geplant. Der Berliner Pannenflughafen BER wurde 2020 inmitten der Corona-Krise eröffnet. Er hat seither eine Auslastung von weniger als 20 Prozent.

Zur Rettung des unverantwortlich hohen Niveaus des Weltflugverkehrs werden aktuell in Deutschland gewaltige Steuergelder ausgegeben: Allein die Lufthansa und der Tui-Konzern erhielten 2020 über 12 Milliarden Euro an staatlicher Unterstützung. Bei den beiden Unternehmen sind rund 170.000 Menschen beschäftigt. Die Gelder werden nicht dafür eingesetzt, Arbeitsplätze zu erhalten, um zum Beispiel sinnvolle Umschulungen vorzunehmen. Vielmehr werden – auch mit Steuergeld-Hilfe – Zehntausende Jobs vernichtet. Zum Vergleich: Im deutschen Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe sind mit mehr als zwei Millionen etwa zehnmal so viele Menschen beschäftigt – in wichtigen Bereichen zwischenmenschlicher Beziehungen und Kommunikation. Doch die Bundeshilfen für den Bereich betragen nur einen Bruchteil derjenigen für Lufthansa und Tui. Ein Drittel der meist kleinen Betriebe in diesem Bereich steht im Frühjahr 2021 vor dem Ruin.

Warum gibt es diesen intensiven, sich rund alle zwölf Jahre verdoppelnden Luftverkehr? Ist der internationale Kommunikationsbedarf gestiegen, ausgerechnet heute in einer vielfach vernetzten Welt, die mit Telefon und Video-Konferenzschaltungen und vor allem mit dem Internet erstmals in der Geschichte der Menschheit direkte Kommunikationsformen anbietet, die keine physische Präsenz erfordern und die Hunderten Millionen Menschen zu akzeptablen Preisen zugänglich sind? Hat nicht gerade das Corona-Jahr 2020 gezeigt, dass die notwendige Kommunikation jederzeit auf den skizzierten alten – und inzwischen u.a. mit den Zoom- und Skype-Konferenzen auf den für viele neuen – Kanälen zu leisten ist?

Tatsächlich sind es nicht „die Menschen“ und deren Bedürfnisse, die diese Inflation der Verkehrsbedürfnisse (Autoverkehr, Kreuzfahrtschiffe, Flugverkehr) „produzieren“. Entscheidend ist: Im Sektor der Luftfahrt ist, ähnlich wie im Fall der Autoindustrie, eine gewaltige Menge Kapital angelegt, das verwertet werden soll. Nach eigenen Angaben beschäftigen allein die Airlines zusammen mit den Airports mehr als 46 Millionen Menschen. Das wäre deutlich mehr als die Weltautoindustrie Jobs bietet (allerdings ohne Lkw-Fahrer und Logistik). Diese Airlines kommen – auf Weltebene – auf einen Umsatz von 850 Milliarden US-Dollar (2019). Dieser Umsatz hat sich im Zeitraum von 2008 bis 2019 verdoppelt. Es geht also primär darum, dass dieses Kapital verwertet werden soll. Dafür werden die gigantischen Subventionen ausgereicht. Deswegen kann man für 29 Euro von Berlin nach Nizza fliegen. Deswegen mussten die Nachtzüge eingestellt werden. Der kurzfristige Gewinn rechtfertigt, dass mittel- und langfristig Klima und Umwelt ruiniert werden.

Zuerst erschienen in Lunapark21 Heft 43