Menschengemacht oder systembedingt?

Beobachtungen zur Hochwasser-Katastrophe

In Berichten über die Hochwasserkatastrophe vom Juli, die in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mindestens 179 Menschen das Leben kostete, wird der Zusammenhang zwischen starken Regenfällen und Klimaerhitzung meist eingestanden. Gleichzeitig wird suggeriert, dass es sich bei der Klimaerwärmung um einen langfristigen Prozess handle, auf den man wenig Einfluss habe. Entsprechend gibt es einen Wiederaufbau von Infrastruktur ohne große Korrekturen, aber mit „mehr Schutz“: stärkere Wände, mehr Beton, höhere und stabilere Brücken, bessere Warnsysteme, „klimaresistente“ neue Baumarten. Es komme, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Artikel mit der programmatischen Überschrift „Mit dem Klimawandel leben“ nunmehr „darauf an, das Leben an die veränderten Klimabedingungen anzupassen.“1

Bei diesen Betrachtungen fehlen in der Regel fünf Ebenen, auf denen sehr wohl direkt zur Hochwasserkatastrophe beigetragen wird: erstens die Versiegelung vor allem durch Straßenbau, zweitens der Abbau der Schiene in der Fläche, drittens die Kanalisierung der Gewässer, viertens die Veränderungen im Weinanbau und schließlich die Zerstörung der Waldböden. Auf all diesen Ebenen sind es Verwertungszwänge und Gewinnmaximierung, die zerstörerisch und Hochwasser-fördernd wirken. Der Mensch ist da „nur“ ausführend.

Versiegelung und Straßenverkehr

Allein im Zeitraum 1992 bis 2018 hat die Bodenversiegelung im Land um insgesamt 4.622 Quadratkilometer zugenommen – das waren zusätzliche 178 Quadratkilometer pro Jahr. Trotz einer Verlangsamung des Tempos in jüngerer Zeit wurden zwischen 2010 bis 2019 immer noch pro Jahr 65 Quadratkilometer neu versiegelt – was 22.400 Fußballfeldern entspricht.

Der größte Teil des Zuwachses entfällt auf Verkehrsflächen.2 Dabei geht es zu 90 Prozent um Straßenbau. Nimmt man alle Straßen (Waldwege, landwirtschaftliche Wege, Gemeindestraßen, Landstraßen, Bundesstraßen und Bundesautobahnen) zusammen, dann entstehen hierzulande pro Jahr rund 1000 Kilometer zusätzliche Straßen. Die Folgen laut Deutschem Wetterdienst: „Bei Starkregen kann deshalb das Wasser nicht in den Boden abfließen. Kanalisationen sind überfordert.“3 Wer Straßen sät, wird Straßenverkehr ernten: Im Zeitraum 1994 bis Januar 2021 wuchs die Zahl der Pkw in Deutschland von 35 Millionen auf 48 Millionen oder um 37,7 Prozent. Berücksichtigt man die vergrößerte Masse je Pkw, dann vergrößerte sich die Fläche, die diese Pkw-Flotte in Anspruch nimmt, im genannten 26-Jahreszeitraum um rund 50 Prozent.4

Abbau der Schienenwege in der Fläche

Das Schienennetz wurde seit 1991 um 19 Prozent oder um 7700 Kilometer reduziert. Gleichzeitig wurden rund 50 Prozent aller Neben- und Ausweichgleise abgebaut. Die Bahn zog sich vor allem aus der Region zurück. Allein in den beiden Hochwasser-Regionen gab es bis in die 1970er Jahre hinein rund ein Dutzend Bahnstrecken, die seither stillgelegt wurden.5 Die in der Anmerkung aufgeführten wegrationalisierten Strecken addieren sich auf mehr als 200 Kilometer. Hinweis: Autoverkehr benötigt für die gleiche Verkehrsleistung vier bis fünf Mal mehr Fläche als Verkehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Bus, Tram, Bahn).

Kanalisierung von Gewässern

Dutzendfach gab es Berichte der Art, wonach „plötzlich das Tal ein See war“. Doch das Thema Kanalisierung wurde höchstens indirekt angesprochen. So wenn der ehemalige Bürgermeister des vom Hochwasser stark getroffenen Ortes Kirchsahr erkannte, dass sich „der Bach“, hier die Ahr, „mit Gewalt sein altes Bett zurückgeholt hat“.6

Tatsächlich hatten vor 200 Jahren fast alle Gewässer einen wesentlich längeren Flusslauf. Der Rhein wurde im Zeitraum 1817 bis 1876 allein im Bereich des Mittelrheins – zwischen Bingen und Bonn – um achtzig Kilometer verkürzt. Die Erft, die im Juli-Hochwasser eine entscheidende Rolle spielte, wurde ab 1860 verlegt, kanalisiert und verkürzt. Dem Flüsschen wurden alle mäandernden Schleifen, Nebenarme, Sumpfgebiete weggenommen. Kurz: „Der Fluss wurde auf seine Funktion reduziert, die der Mensch ihm zuschrieb. […] Das vorher sumpfige Land konnten jetzt Bauern nutzen“. Später wurde es vor allem bebaut.7

Weinanbau

Der Brite Hugh Johnson, der international anerkannte „Weinpapst“, las vor einem Jahrzehnt im Blatt Der Feinschmecker der Landesregierung in Mainz die Leviten. Er kritisierte den damals noch in Planung befindlichen „Bau einer der größten Brücken Europas über einen der schönsten und empfindlichsten Abschnitte der Mosel“. Er schrieb, die (dann 2019 dem Verkehr übergebene) Hochmoselbrücke würde sich negativ auf „das hydrologische Gleichgewicht“ – und damit auch negativ auf die Qualität der bislang „hervorragenden Weine“ – auswirken.8 Johnson verwies darauf, dass in der Region viele kleinere Weinanbaugebiete „zu Großlagen zusammengefasst“ wurden.

Die ursprüngliche Kleinteiligkeit des Weinanbaus bildete einen Schutz vor den Folgen von Starkregen. Mit der Flurbereinigung der 1970er Jahre wurden Bäche begradigt, Flurstücke vergrößert und Trockenmauern beseitigt. Im Weinanbau wurden, so der Biologe Wolfgang Büchs, „Abflussrinnen geschaffen, die senkrecht den Hang hinabführen.“ Die Weinberge werden zunehmend „der Einfachheit halber in der Hanglage bewirtschaftet statt quer, was ökologisch besser wäre.“ Das träfe auch „auf die Hochflächen zu, wo Grünland, dessen Boden Wasser gut speichern kann, durch Mais zur Stallfütterung ersetzt wurde.“ Im ARD-Interview sagte Büchs: „Ursprünglich war die Ahr bekannt für ihre kleinen, von Trockenmauern eingefassten Terrassen. Diese sind viel flacher und stärker abgestuft. Dies führt zu einem deutlich langsameren Wasserabfluss.“ All das seien „Puzzlesteine. Und dann wirkt da eines mit dem anderen zusammen – und in irre schneller Zeit sammelt sich sehr viel Wasser an.“9

Der Wald

Als Antwort auf die Klimaerwärmung heißt es mit Blick auf das Waldsterben, man müsse nun mehr Klima-resistente Bäume pflanzen. Eben erneut: Anpassung. Der Förster und Buchautor Peter Wohlleben setzt andere Akzente. Er schrieb, ein erheblicher Teil der Böden sei heute kaum mehr fähig, Wasser in großen Mengen aufzunehmen. Ein wesentlicher Grund: Der wachsende Einsatz schwerer Fahrzeuge, insbesondere der Harvester-Monster („Baumerntemaschinen“) mit bis zu 60 Tonnen Gewicht. Solche Maschinen werden hierzulande erst seit dem Orkan Lothar von Ende 1999 eingesetzt. Dort, wo diese Maschinen verkehren, ist der Boden zusammengepresst, das feine Wurzelwerk zerstört; pflanzliches Leben kann sich auf Jahrzehnte nicht mehr entwickeln. Vor allem aber: Diese Böden sind zur Wasseraufnahme nicht mehr in der Lage.

Wohlleben verglich geschädigte Waldflächen, auf denen sich beim Hochwasser Seen gebildet hatten, mit Flächen, die weitgehend unberührt waren, und schrieb: „Tage später (nach dem Hochwasser; W.W.) schaute ich […] in einem Steilhang mit einem alten Buchenwald [der bereits aus technischen Gründen von Harvester-Maschinen nicht befahren werden kann; W.W.], wie dieser den Starkregen verkraftet hatte: Es fanden sich keine Spuren von fließendem Wasser; das Herbstlaub lag wie eh und je unberührt auf dem Boden. Offenbar waren große Teile des Niederschlags in den Boden eingezogen.“10

Die Wälder sind heute durchzogen von Maschinenwegen („Rückegassen“) als Zu- Abfahrtswege zum Ernten und Abtransport des Holzes. In deutschen Waldgebieten gibt es laut Wikipedia 635.000 km dieser Wege, jeweils drei bis vier Meter breit. Das ergibt 2.500 Quadratkilometer, was wiederum der Fläche des Saarlandes entspricht.11

Symbol Nürburgring

In vielen Hochwasser-Berichten spielt der Nürburgring eine große Rolle. Dort hatten Technisches Hilfswerk, Feuerwehren und Bundeswehr ein „Fluthilfe-Basislager“ errichtet – mit schweren Lkw, Hubschraubern und Bundeswehr-Räumgerät. Die Autolobby berichtete enthusiastisch, dass „die Verantwortlichen der Rennstrecke unbürokratisch ihre Hilfe zugesagt“ hätten.12 Das wirkt zynisch. Zum einen ziehen die Nürburgring-Großereignisse Hunderttausende Menschen an, die, da auf einen Anschluss an die Schiene verzichtet wurde, fast alle mit Pkw anreisen. Diese Stoßverkehr-Autoflut dient als wesentliche Begründung für den fortgesetzten Ausbau des regionalen Straßennetzes. Zum anderen gibt es einen verstörenden Zusammenhang zwischen dem Verzicht auf Hochwasserschutz und der Autorennstrecke inmitten von Natur, auf den der bereits zitierte Biologe Büchs aufmerksam machte. Man habe, so Büchs, in den 1920er-Jahren als Reaktion auf die Flut von 1 910 in großem Umfang Regenrückhaltebecken geplant, „im Oberlauf der Ahr, im Trierbach, im Wirftbachtal und im Adenauer Bach“. Es handle sich dabei um „technische Sperren, die nur bei Starkregen aktiviert und geschlossen würden […] Man hat damals Sperren mit einem Fassungsvermögen von 11,5 Millionen Kubikmetern geplant. Damit könnte man eine Hochwasserwelle locker kappen. Es ist aber bei den Planungen geblieben. Nach meinen Recherchen wegen des Baus des Nürburgrings, der 1927 eingeweiht wurde. Es war so kurz nach dem Ersten Weltkrieg kein Geld da, um beides zu machen. Eine Rennstrecke wirkte […] attraktiver als Hochwasserschutz.“13

Anmerkungen:

1 FAZ vom 19. Juli 2021; hervorgehoben vom Autor.

2 Allgemeine Angaben nach Umwelt-Bundesamt vom 28. Dezember 2020. https://www.umweltbundesamt.de/daten/flaeche-boden-land-oekosysteme/boden/bodenversiegelung

3 Deutscher Wetterdienst vom 27. September 2020; https://www.dwd.de/DE/wetter/thema_des_tages/2020/9/27.html

4 Angaben nach: Verkehr in Zahlen, Ausgabe 2000, Seite 142f, und Ausgabe 2020/21, Seite 132. Dabei wurde die „Problematik“ berücksichtigt, dass es durch eine statistische Neudefinition („vorübergehend abgemeldete Pkw“ werden seit 2008 nicht mehr erfasst) zwischen 2007 und 2008 auf dem Papier zu einem „Rückgang“ im Kfz-Bestand um mehr als 5 Millionen kam.

5 Es handelt sich u.a. um die folgenden Strecken: 1. Remagen – Dümpelfeld Adenau mit 42,4 Kilometer Gesamtlänge (zwischen 1972 und 1983 eingestellt) · 2. Dümpelfeld – Ahrdorf – Hillesheim – Lissendorf – Jünkerath mit 54,4 Kilometer Gesamtlänge (letzter Personenzug Juni 1973) · 3. Hillesheim – Gerolstein mit 12,3 km Länge (im Krieg 1944/45 zerstört; nicht wieder aufgebaut) · 4. Ahrdorf – Blankenheim (Wald) mit 25 Kilometer Länge (Personenverkehr ab 1954 eingestellt) · 5. Mayen Ost – Gerolstein (Vulkaneifelbahn) mit 94,1 km Länge (ab 1991 und bis 2021 in Teilstrecken stillgelegt) · 6. Gerolstein – Ihren Grenze (Westeifelbahn) mit 50 km Länge (zwischen 

1950 und 1980 sukzessive eingestellt). Zusammenstellung durch Wolfgang Hesse (München) und Andreas Kleber (Schorndorf), beide aktiv bei Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB).

6 Julian Staib, Und plötzlich war das Tal ein See, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Juli 2021.

7 Petra Ahne, Die Unscheinbare, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. September 2021.

8 Hugh Johnson, Die Narren aus Mainz, in: Der Feinschmecker 1/2011

9 Interview mit dem Biologen Wolfgang Büchs in Rhein-Zeitung vom 21. Juli 2021. https://www.rhein-zeitung.de/region/rheinland-pfalz_artikel,-biologe-wolfgang-buechs-im-interview-so-haette-man-die-flutwelle-kappen-koennen-_arid,2286077.html Und: W. Büchs, Interview mit ADR-Tagesschau vom 8.8.2021; https://www.tagesschau.de/wirtschaft/technologie/hochwasserschutz-ahrtal-101.html

10 Bericht Wohlleben auf Website Verkehrsverein (Ort) Schuld. https://www.verkehrsverein-schuld.de/aktuelle-lage

11 https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%BCckeweg

12 Nach auto-motor-sport vom 28. Juli 2021. https://www.auto-motor-und-sport.de/motorsport/nurburgring-fluthilfe-eifel-einsatzzentrale-sammelstelle/

13 Siehe Anmerkung 9

Erschienen am 9.11.21 in der Printausgabe Nr. 55 von Lunapark21