Novemberrevolution – Teil 2

Der deutsche Bundespräsident Walter Steinmeier behauptete am Jahrestag der Novemberrevolution, es sei ein großes Verdienst der SPD, „dass sie in einem Klima der Gewalt […] den Kompromiss mit den gemäßigten Kräften des Bürgertums suchte“. Eine genaue Untersuchung der Ereignisse zwischen November 1918 und März 1920 ergibt ein anderes Bild: Damals suchte die Führung der SPD immer wieder die enge Zusammenarbeit mit denen, die Verantwortung für den Weltkrieg trugen, die unversöhnliche Feinde der Arbeiterbewegung waren und die sich als Vorreiter für den Faschismus erwiesen (übrigens trug die besonders brutale Freikorps-Einheit Ehrhardt bereits 1920 das Hakenkreuz auf dem Helm).

Mit dieser Geschichtsverfälschung, die auch Steinmeier vorträgt, werden vor allem die tatsächlichen Ziele der Revolution – direkte Demokratie bzw. eine Kontrolle eines Parlaments durch Räte, gewählt von der arbeitenden Bevölkerung – in den Hintergrund gedrängt.

Wir bringen auf den NachDenkSeiten in drei Teilen einen ausführlichen Text von Winfried Wolf zur Novemberrevolution, zur Bayerischen Räterepublik und zur aktuellen Debatte über diese Ereignisse.

Der erste Teil hatte drei Ereignisse, die zum Verständnis dieser Revolution wichtig sind, zum Thema: (1) die Sturzgeburt des Deutschen Reichs 1871, (2) der Erste Weltkrieg und (3) die Bildung einer ersten parlamentarischen Regierung am 3. Oktober, also noch zu Kaisers Zeiten. Teil 3 geht ein auf die Bayerische Räterepublik, nennt vier Gründe für das Scheitern der Revolution und warnt vor einer neuen Militarisierung, wie sie von der deutschen Bundeskanzlerin und von dem französischen Präsidenten ausgerechnet im Zusammenhang mit dem Gedenken an das Kriegsende vor 100 Jahren vorgetragen wurden. // NDS-Redaktion

Klaus Gietinger und Winfried Wolf veröffentlichten 2017 das Buch „Der Seelentröster. Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am Ersten Weltkrieg erlöst.“ (Schmetterling Stuttgart). Er stützt sich in seinem hier verbreiteten Text vor allem auf Klaus Gietinger, November 1918. Der verpasste Frühling (Nautilus, Hamburg 2018), Sebastian Haffner, Der Verrat – Deutschland 1918/19 (verschiedene Ausgaben verschiedener Verlage) und Richard Müller, Die Geschichte der Revolution (ursprünglich drei Bände; zuletzt Berlin 2011, Buchmacherei).

Die Revolution in Deutschland und die Debatte anlässlich des 100. Jahrestags

Diejenigen, die akzeptieren, dass es überhaupt eine Revolution in Deutschland gab, stellen diese in der Regel als die Tat weniger dar. Teilweise als Theateraufführung oder Operette, Teilweise als Putsch. Oft als Resultat einer Kabinettspolitik. Dabei gelegentlich als völlig unnötig. So heißt es in dem aufwendigen Heft „Geo Epoche – Kollektion“ zum Thema „Die Weimarer Republik“:

„Die deutsche Revolution ist umwuchert von Mythen […] Sie war, historisch gesehen, ein verfehltes Unternehmen. Sie bricht aus, als der Umbau des autokratischen Kaiserreichs in eine parlamentarische Demokratie praktisch vollendet und das Kriegsende nur noch eine Frage von wenigen Tagen ist. […] Diese demokratische Umwälzung ist das Werk des letzten kaiserlichen Kanzlers, Prinz Max von Baden.“1

Andere moderne Interpreten sehen die Revolution als Ergebnis einer Politik zurückhaltend-kluger Kräfte. In diesem Sinne äußerte sich der deutsche Bundespräsidenten Walter Steinmeier, der am 100. Jahrestag der Novemberrevolution das Folgende ausführte:

„Es bleibt das große Verdienst der gemäßigten Arbeiterbewegung, dass sie – in einem Klima der Gewalt, inmitten von Not und Hunger – den Kompromiss mit den gemäßigten Kräften des Bürgertums suchte, dass sie der parlamentarischen Demokratie den Vorrang gab!“2

Welche eine Verdrehung fast aller Umstände! Es gab kein Klima der Gewalt, insoweit es die Revolution betraf. Diese Revolution beendete ein extremes Klima der Gewalt, das vom 4. August 1914 bis zum 9. November 1918 mit dem Krieg herrschte. Für die SPD-Führung mit Ebert, Scheidemann und Noske – und diese meinte Steinmeier mit den „gemäßigten Kräften der Arbeiterbewegung“ ganz offensichtlich – war die parlamentarische Demokratie nur ein Instrument, um eine direkte Demokratie von Arbeiterräten oder eine Struktur, bei der das Parlament ergänzt und kontrolliert wird durch Arbeiterräte, zu verhindern. Vor allem suchte die SPD nicht einen „Kompromiss mit den gemäßigten Kräften des Bürgertums“. Vielmehr ging sie ein jahrelanges Bündnis mit den rechtesten Kreisen ein, um mit Hilfe dieser die Revolution niederzuschlagen. Gustav Noske sprach Klartext; Steinmeier direkt widersprechend:

„Ich habe mich immer auf das Nachdrücklichste jedem Kompromiss widersetzt, weil bei mir nicht der geringste Zweifel bestand, dass die Auseinandersetzung zwischen revolutionärer Phraseologie und den realen Notwendigkeiten früher oder später hätte kommen müssen.“3

Was es im November 1918 und danach in Deutschland gab, das war eine zutiefst demokratische, von breiten Massen getragene Revolution, eine weitreichende Umwälzung der politischen Verhältnisse. Die deutsche Revolution hatte eine breitere soziale Basis und damit eine größere demokratische Legitimation als die Oktoberrevolution in Russland (was natürlich auch darauf zurückzuführen war, dass in Russland 1917 die Arbeiterklasse eine deutliche Minderheit darstellte und die große Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land lebte). Diese Novemberrevolution hatte das Ziel einer direkten Demokratie, wie sie im Wesentlichen durch die Arbeiter- und Soldatenräte zum Ausdruck gebracht wurde. Sie war weitgehend unblutig, insoweit es die Revolutionäre betrifft. Und sie war gnadenlos gutmütig und idealistisch – zu gutmütig angesichts ihrer Feinde.

Diese Charaktereigenschaften der deutsche Revolution lassen sich bei drei unterschiedlichen geschichtlichen Ereignissen darstellen: In der eigentlichen Revolution und hier in den Monaten November und Dezember 1918. (2) Anfang Januar 1919, in derjenigen Woche, die fälschlich als „Spartakus-Aufstand“ bezeichnet wird. (3) In den Tagen nach dem Kapp-Putsch vom 13. März 1920. Diese Charaktereigenschaften traten an vielen Orten und Regionen und in allen Ländern der jungen Republik deutlich zu Tage. In diesem Text gehe ich jedoch – vor allem aus räumlichen Gründen – primär auf die Ereignissen in Berlin ein; „nur“ die Bayerische Räterepublik wird ergänzend behandelt.

Auf alle drei Ereignisse und in allen Regionen, in denen die Revolution mit ihren demokratischen und antimilitaristischen Forderungen Gewicht erlangte, antwortete die SPD-Führung mit dem Einsatz von militärischer Gewalt. Mit der Ausführung dieser Militärgewalt beauftragte sie die ganz Rechten, die Freikorps. Diese Gewaltanwendung steigerte sich von Ereignis zu Ereignis – bis hin zu einer unerhörten, in der deutschen Geschichte seit dem dreißigjährigen Krieg nie dagewesenen Gewaltorgie.

Es ist erstaunlich und grotesk, wenn am 9. November 2018 in der Tageszeitung taz in einem Interview mit einem Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung und einem Vertreter der Rosa Luxemburg-Stiftung die Frage gestellt wird „Wann haben Sie zuletzt die Parole gehört: Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten?“ und dann der SPD-Mann antwortet: „Ich finde das historisch ziemlich undifferenziert“, wobei der Vertreter der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Stillschweigen zustimmt und ergänzt mit: „Im Ernst würde den [einen solchen ´Spruch´; W.W.] heute keiner mehr von sich geben.“4

Verrat ist sicher auch eine moralische Kategorie. Es geht hier jedoch um eine politische Definition. Darum, dass die SPD 1918 bis 1920 vorgab, für Demokratie, Frieden und die Revolution einzutreten, dass sie jedoch gleichzeitig und hinter dem Rücken ihrer Anhänger aufs Engste mit denen zusammenarbeitete, die für Diktatur, Krieg und Konterrevolution standen und die den Faschismus von 1933 vorbereiteten.

Der 9. November und die Zeit bis Ende des Jahres 1918

Auslöser der deutschen Revolution war eine Befehlsverweigerung von Matrosen und eine Revolte der Kriegsschiffbesatzungen in Wilhelmshaven am 28. Oktober 1918. Diesen war – ziemlich überraschend und in offenem Widerspruch zur eigentlichen Einschätzung der Obersten Heeresleitung – von der Flottenführung das Auslaufen der Schiffe aus den Häfen befohlen worden. Gewissenermaßen fünf nach zwölf sollte noch eine Entscheidungsschlacht mit der britischen Flotte gesucht werden. Die einzelnen Etappen dieser Meuterei sollen hier nicht nachgezeichnet werden.5 Fest steht: Im Zentrum standen hier die mutigen Taten Weniger. Und: Es waren unkoordinierte und nicht organisierte Aktivitäten von Meuterei und Aufstand. Ein vorläufiger Höhepunkt der Meuterei bestand darin, dass am 4. November in Kiel die Matrosen des Dritten Geschwaders Soldatenräte wählten, ihre Offiziere entwaffneten, auf den Schiffen rote Fahnen hissten und hunderte Matrosen befreiten. Es handelte sich bei den befreiten Matrosen um diejenigen, die zuvor in Wilhelmshaven gemeutert hatten, die von dort durch den Nord-Ostsee-Kanal nach Kiel transportiert wurden und die in Kiel im Gefängnis auf ihre Aburteilung gewartet hatten. Bis zum 7. November hatte der Aufstand an den Küsten auch Lübeck, Brunsbüttelkoog, Hamburg, Bremen und – erneut – Wilhelmshaven erfasst; er griff bereits auf westdeutsche Städte wie Köln, Hannover und Oldenburg über. Die SPD-Führung und die neue von der SPD mitgetragene Reichsregierung entsandten Gustav Noske nach Kiel, der von dort nach Berlin telegrafierte, er habe nur „die eine Hoffnung: freiwillige Rückkehr [der Matrosen; W.W.] zur Ordnung unter sozialdemokratischer Führung.“ Der Kurzzeitkanzler Prinz Max von Baden ließ auch keinen Zweifel daran, was die Funktion der Noske-Mission sei, als er im Kabinett den Beschluss durchsetzte: „Freie Hand für Noske bei dem Versuch, den lokalen Aufstand zu ersticken.“ Selbst zu diesem Zeitpunkt agierte die SPD-Führung im Sinne der Obersten Heeresführung und des Kaisers.

Doch der Geist war der Flasche entwichen. Sie ließ sich nicht mehr schließen. Die Revolte breitete sich aus und ergriff die Hauptstadt. Am 9. November wurde die neue Staatsform gleich zwei Mal ausgerufen – als „deutsche Republik“ durch Gustav Scheidemann bzw. als „sozialistische Republik in Deutschland“ durch Karl Liebknecht. Das waren noch mehr oder weniger spontane Aktionen. Doch dann gab es doch so etwas wie ein revolutionäres Zentrum: Echte Revolutionäre nahmen die Sache in die Hand. Und wer waren diese? Rosa Luxemburg? Karl Liebknecht? Die USPD-Führung? Die Spartakisten, damals der linke Flügel in der USPD? Niemand von diesen! Es war eine Gruppe, die als Revolutionäre Obleute in die Geschichte einging. Gingen sie wirklich in die Geschichte ein? Jedenfalls hätten sie so eingehen müssen. Anlässlich der 100-Jahr-Feiern wurden sie jedoch bestenfalls am Rande erwähnt.

Im offiziellen Gedenken wurde nirgendwo ihre zentrale Rolle begriffen und dargelegt. In dem zitierten Geo-Heft ist die Rede von „SPD-Obleuten“, die die SPD-Führung warnen, die „Revolution sei nicht aufzuhalten“.6 Eine groteske Fehleinschätzung bzw. Falschdarstellung. Eine löbliche Ausnahme bildet dabei Klaus Gietinger, der aktuell mit seinem neuen Buch „November 1918“ durch die Lande tourt und mit seinen Vorträgen die zentrale Rolle der Obleute ausführlich herausarbeitet und die Ignoranz der offiziellen Geschichtsschreibung anprangert 7. Sebastian Haffner beschreibt diese Gruppe wie folgt:

„Die Gruppe der Revolutionären Obleute hatte sich in den großen Streiks des vergangenen Winters [also des Winters 1917/1918; W.W.] gebildet. Sie waren die wirklichen Streikführer gewesen. Seitdem hielten sie konspirativ zusammen, seit einigen Wochen planten sie die Revolution, und am 4. November hatten sie – ohne von der Lawine etwas zu ahnen, die an diesem Tag in Kiel ins Rollen kam – einen Putsch in Berlin für den 11. November beschlossen, Waffen besorgt und verteilt und Pläne zu einem Handstreich auf die Regierungszentren entworfen. Die Entwicklung war den Revolutionären Obleuten dann davon gelaufen, aber sie waren nicht gesonnen, sie über sie hinweggehen zu lassen. Am Nachmittag dieses 9. Novembers, während die Massen begeistert, ziellos und schon etwas ermüdet durch die Straßen von Berlin wogten, während Ebert in der Reichskanzlei zu regieren versuchte und während die Fraktionen der SPD und USPD endlos tagten und sich nicht darüber einig werden konnten, unter welchen Bedingungen die USPD in Eberts Regierung eintreten könnte, hielten die Revolutionären Obleute eine Beratung ab und schritten zur Tat. […] Sie sahen klar, worauf es jetzt ankam: den Massen eine handlungsfähige Spitze zu geben, ein Organ, das Politik machen konnte, eine Revolutionsregierung. […] Sie trommelten ein paar hundert ihrer Gefolgsleute zusammen. Am Abend […] besetzten sie den Reichstag.“8

Peter von Oertzen analysiert die Obleute in ähnlicher Weise. Er unterstreicht, dass diese zwar fast alle „der USPD angehörten und die Partei als Plattform ihrer Tätigkeit nutzten“, dass sie aber zugleich sich als „selbständige Gruppe“ verstanden und „nicht als Anhängsel der Parteiorganisation.“ Für Oertzen waren „die revolutionären Obleute im Grunde nichts anderes als die Organisation der Arbeitermassen selbst.“9

Im Gegensatz zu Peter von Oertzen, dem ehemaligen Mitglied im Kuratorium der Rosa-Luxemburg-Stiftung, stellte Uwe Sonnenberg, der Vertreter dieser Stiftung, am 9. November 2018 fest: „Es gab keine politische Kraft, die ein Konzept für die Revolution hatte und auf den 9. November vorbereitet war“.10 Doch, diese Kraft gab es. Der führende Kopf der Revolutionären Obleute, Richard Müller schrieb:

„Die Vorbereitungen der Revolutionären Obleute […] wirkten zweifellos mitentscheidend auf den Lauf der Dinge. In vielen Sitzungen waren alle Eventualitäten des Aufstandes mit den einflussreichsten Personen der Großbetriebe durchgesprochen worden. […] Am Tag des Aufstands bedurfte es keiner Leitung, sie wäre auch rein technisch nicht möglich gewesen.“11

Doch die Obleute hatten in Ebert und in den Mehrheitssozialisten einen vergleichbar gut organisierten Gegenspieler. Und sie standen vor dem Dilemma einer Mehrheit von Arbeitern und Soldaten, die von der Revolution begeistert und zugleich gegenüber der SPD-Führung naiv waren. Und dann erhielt die Mehrheitssozialdemokratie heimliche und später offene Unterstützung durch die Kräfte des untergegangenen Regimes, vor allem durch das Militär.

Am Abend des 9. November beschloss eine von den Revolutionären Obleuten angeführte, improvisierte Tagung im besetzten Reichstag, bereits am nächsten Tag, dem 10. November, in allen Betrieben und Kasernen Arbeiter- und Soldatenräte wählen zu lassen. Diese sollten sich am gleichen Tag um fünf Uhr nachmittags im Zirkus Busch versammeln, um eine revolutionäre Führung zu bestimmen. Die zunächst überrumpelte SPD-Führung mobilisierte umgehend die eigenen Leute. Noch in der Nacht vom 9. auf den 10. November konnte die SPD-Führung in den Berliner Kasernen 40.000 Flugblätter verteilen. Der von der SPD im Amt belassene preußische Kriegsminister Scheüch gewährte dabei wichtige logistische Unterstützung.

Die Zusammensetzung der rund 3000 neu gewählten Arbeiter- und Soldatenräte, die sich dann am 10. November um 5 Uhr nachmittags im Zirkus Busch versammelt hatten, war dann zur Überraschung der Obleute mehrheitlich SPD-dominiert. Das galt insbesondere für die Soldatenräte. Das war, so Gietingers Erkenntnis, vor allem der mangelnden Agitation der USPD unter den Soldaten geschuldet. In der Zirkus-Busch-Arena dominierten Forderungen nach „Einigkeit“ und „Kein Bruderkampf!“. Nachdem dort als erster Redner Friedrich Ebert in staatsmännischem Ton verkündet hatte, dass man am Vormittag eine Regierung der Volksbeauftragten gebildet hätte, die paritätisch aus SPD und USPD zusammengesetzt sei, konnte der zweite Redner, der USPD-Führer Haase, dem im wesentlichen nur beipflichten. Der dritte Redner war die Revolutionsikone Karl Liebknecht. Doch dieser setzte offensichtlich die falschen Akzente, als er in seiner Ansprache vor allem die Rolle der SPD im Krieg brandmarkte. Er erntete dabei, wie Richard Müller von der Obleuten berichtet, „merklichen Widerspruch“.12 Gietinger übertreibt wohl, wenn er schreibt, Liebknecht sei „niedergeschrien“ worden. Laut Richard Müllers Bericht agierten die Obleute bei diesem entscheidenden Treffen auch als Gruppe höchst ungeschickt.

Eigentlich wollten die Obleute, gerade weil sie die Manöver der SPD erkannt hatten und weil sie wussten, dass im Zirkus die SPD eine Mehrheit hatte, ohne größere Debatte einen Aktionsausschuss wählen lassen, der ausschließlich aus „zuverlässigen Mitgliedern“ der Obleute und des Spartakusbundes bestanden hätte. Dies sollte, wie Richard Müller schreibt, „ohne jede Debatte, gewissermaßen durch einen Bluff […] zustande kommen.“13 Doch der Top-Mann der Obleute, Barth, glaubte eine Rede zur Begründung dieses Aktionsausschusses halten zu müssen. Müller:

„Das war ein Fehler. Der aufmerksame Zuhörer erkannte zwischen Barths Worten die nicht klar ausgesprochenen Absichten. Im letzten Augenblick verlangte nun Ebert das Wort und meinte, er halte einen solchen Aktionsausschuss nicht für notwendig, aber, wenn schon einer gewählt werden sollte, dann müsste er wie die Regierung paritätisch von beiden Parteien besetzt werden.“14

Eberts konnte sich mit seiner Forderung schlussendlich durchsetzen. Der „Aktionsausschuss“ – sein späterer Name lautete „Vollzugsrat“ – zur Kontrolle der Regierung der Volksbeauftragten wurde zwar gewählt. Doch auch dieser war nun paritätisch besetzt. Hinzu kam: Die Linke war im Vollzugsrat personell nicht optimal vertreten; Karl Liebknecht weigerte sich, sich in ein Gremium „zusammen mit den Kriegsunterstützern der SPD“ hineinwählen zu lassen.15

Gut einen Monat später, am 16. Dezember, kam es in Berlin zum ersten Reichsrätekongress. Formal gesehen war dies ein gewaltiger Fortschritt. Und dies hätte auch einen neuen Höhepunkt der Revolution darstellen können. Doch inhaltlich war der revolutionäre Elan verpufft. Vergleichbares zu dem, was die Revolutionären Obleute auf Berliner Ebene an Strukturen geschaffen hatten, gab es auf der Ebene des Reichs nicht. Spartakus zählte Deutschland-weit zu diesem Zeitpunkt erst wenige Tausend Mitglieder. Die USPD war politisch höchst heterogen und organisatorisch ebenfalls wenig verankert. So war der Reichsrätekongress Mitte Dezember 1918 noch mehr als die Versammlung im Zirkus Bush am 10. November 1918 von der Mehrheitssozialdemokratie dominiert. Der Reichsrätekongress beschloss, wie von Ebert gefordert, die Vorverlegung des Wahltermins für die Nationalversammlung auf den 19. Januar 1919. Damit war ein entscheidendes Ziel der SPD-Rechten näher gerückt: Die Rückführung aller Regierungsgewalt in indirekt-demokratische Strukturen und die weitere Unterminierung der Strukturen direkter Demokratie, so der Arbeiter- und Soldatenräte.

Anstelle des am 10. November gewählten Vollzugsrats wählte der Reichsrätekongress einen sechszehnköpfigen Zentralrat, dessen Kompetenzen gegenüber der Regierung im Vergleich zum Vollzugsrat nochmals deutlich gestutzt waren.

Und ähnlich wie Liebknecht es am 10. November abgelehnt hatte, sich in den Aktionsausschuss bzw. in den Vollzugsrat wählen zu lassen, weigerten sich nun die Unabhängigen, sich an dem Zentralrat überhaupt zu beteiligen. Dieser wurde damit eine reine SPD-Angelegenheit. Dabei zeichnete sich durchaus ab, dass die Arbeiterbasis und die Räte sich politisierten. So forderte der Kongress die Sozialisierung der Schlüsselindustrien. Auf Antrag eines Hamburger Soldatenrats wurde mit großer Mehrheit eine weitreichende Umgestaltung des Militärwesens beschlossen: die Oberste Kommandogewalt müsse bei den Volksbeauftragten – „unter Kontrolle des Zentralrats“ – liegen; die Disziplinargewalt bei den Soldatenräten; es müsse „freie Offizierswahl“ herrschen. Die Angst vor einer neuen Militärdiktatur saß so gut wie allen in den Knochen. Der grundlegend antimilitaristische Charakter der Revolution wurde mit dem Beschluss dieser „Hamburger Punkte“ ein weiteres Mal unterstrichen.

Doch solche Beschlüsse entsprachen weitgehend Wunschdenken. Die Entscheidungen fielen längst nicht mehr auf Ebene von Arbeiter- und Soldatenräten. Die Regierung der Volksbeauftragten war zum entscheidenden Machtzentrum geworden. Und in dieser wurde die Dominanz der Mehrheitssozialdemokraten von Tag zu Tag größer – auch aufgrund der mangelnden personellen Qualitäten der dort vertretenden USPD-Leute bzw. der Weigerung führender Radikaler, in dieses Gremium zu gehen. Am 29. Dezember traten dann die USPD-Vertreter sogar aus der Regierung der Volksbeauftragten aus. Damit waren die rechten Sozialdemokraten auch dort unter sich. Diese Entwicklungen nach rechts auf den oberen Ebenen sind auch deshalb tragisch, weil es unter den Arbeitern zu einer entgegengesetzten Entwicklung kam. Peter von Oertzen schreibt:

„An diesen Vorgängen ist besonders bemerkenswert, dass die sozialdemokratischen Arbeiterräte, obwohl in politischer Hinsicht noch den Auffassungen ihrer Parteileitung treu, in den wirtschaftlichen Fragen anfingen, eigene Wege zu gehen und […] ein eigenes Räte- und Wirtschaftsprogramm zu entwickeln. […] Auch auf politischem Gebiet löste sich die sozialdemokratische Front allmählich auf. Obwohl die SPD und die Demokraten am 17. Januar 1919 bei der Wahl zum Vollzugsrat, eine klare Mehrheit erhalten hatten, gelang es der USPD-Fraktion doch, bei Abstimmungen über grundsätzliche politische Fragen am 17. Januar und am 31. Januar 1919 jeweils ein Drittel der gegnerischen Arbeiterräte auf ihre Seite zu ziehen und ihre Resolutionen durchzubringen.“16

Die SPD-Führer in den entscheidenden Regierungsämtern arbeiteten vom ersten Tag der Revolution an hinter dem Rücken der Massen und meist ohne Wissen von Kontrollgremien wie Arbeiter- und Soldatenräte, Aktionsausschuss und Vollzugsrat mit den rechten Militärs und mit der Obersten Heeresleitung, die zunächst im belgischen Spa und ab dem 14. November in Kassel-Wilhelmshöhe ihren Sitz hatte, eng zusammen. Im Zentrum stand dabei eine Art Pakt, den der Chef der Obersten Heeresleitung, General Groener, mit Friedrich Ebert noch am 10. November, nach der turbulenten Tagung im Zirkus Busch, geschlossen hatte.

Groener forderte von Ebert die Bekämpfung von „Bolschewismus und Radikalismus“, faktisch des Spartakusbundes. Groener bot dafür jede mögliche militärische Unterstützung. Die Verbindung wurde dabei in großen Teilen über eine geheime Telefonleitung gehalten, die noch aus Kriegszeiten das militärische Hauptquartier (zunächst in Spa, dann in Kassel) mit dem Kanzleramt verband. Groener berichtet, dass er noch in der Nacht vom 10. auf den 11. November ein „Bündnis“ mit Ebert geschlossen habe. Ebert schwieg dazu; widersprach jedoch nicht. Groener:

„Ebert ging [in dieser Nacht; W.W.] auf meinen Bündnisvorschlag ein. […] Von da an besprachen wir uns täglich abends auf einer geheimen Leitung zwischen der Reichskanzlei und der Heeresleitung über die notwendigen Maßnahmen. Dieses Bündnis hat sich bewährt.“17

Und so kam es bereits in dieser ersten Phase der Novemberrevolution bei allen tastenden Schritten, die die revolutionären Massen machten, und bei allen Aktivitäten, die die Radikalen sich ausdachten, zu konkreten Akten der militärischen Konterrevolution. Wobei diese fast immer, dies jedoch für die Massen nicht erkenntlich, in geheimer Absprache mit Ebert (und einem engen SPD-Kreis um diesen herum) erfolgten. Zwei Beispiele:

  • Bereits am 10. Dezember marschierten zehn Divisionen des geschlagenen Heeres in Berlin ein. Diese hatten, wie Groener festhielt, ein genau definiertes „militärisches Programm“. Es bestand vor allem in der „Säuberung Berlins von Spartakisten“ und in „der Entwaffnung Berlins“. Das Programm – das erst 1940 öffentlich gemacht wurde – enthielt Punkte wie den Folgenden: „Wer ohne Waffenschein noch Waffen in Besitz hat, wird erschossen.“ Das Programm, das im Zeitraum 10. bis 15. Dezember umgesetzt werden sollte, konnte dann jedoch nicht realisiert werden. Und dies aus dem einfachen Grund, weil die heimkehrenden Divisionen sich in dem revolutionären Klima Berlins schlicht auflösten und die große Mehrheit der Soldaten nach Hause ging. Schließlich nagte der Hunger im Magen und klopfte Weihnachten an den Türen.
  • An Weihnachten gab es den nächsten Vorstoß der Konterrevolution. Die Volksmarinedivision (VMD), eine bis dahin der Revolution, aber auch der SPD gewogene Truppe mit ursprünglich 3000 Mann, die seit Revolutionsbeginn im Berliner Schloss ihr Quartier hatte, wurde als Unsicherheitsfaktor identifiziert und sollte nach dem Willen der SPD-Führung – unterstützt von Groener – verlegt und verkleinert werden. Ein Mittel dabei war, dass ihnen wiederholt der Sold vorenthalten wurde. Die Soldaten wehrten sich und besetzen in diesem Zusammenhang die Reichskanzlei und setzten zeitweilig sogar die Volksbeauftragten unter Hausarrest. Ebert forderte über seine Direktleitung Hilfe an. Diese wurde ihm gewährt; anscheinend sichere Truppen aus der Berliner Umgebung wurden herangeführt.

Es kam – auf Befehl Eberts – am 23. Dezember 1918 zum offenen Angriff auf die Volksmarinedivision. Diese wehrte sich in ihrem Quartier, dem Marstall des Schlosses, mit ihren Waffen und hielt stundenlang dem massiven Beschuss stand. Während des Kampfes strömten tausende Menschen, auch Frauen mit Kindern, auf den Schlossplatz und unterstützten die Volksmarinedivision. Die Massenpräsenz wirkte zersetzend auf die Konterrevolutionäre. Eine größere Zahl der Truppe desertierte; die Volksmarinedivision siegte. Entnervt kabelte der Generalstabsoffizier, der die Verbindung zum Hauptquartier hielt, nach Kassel: „Die Truppen des Generalkommandos Lequis sind nicht mehr aktiv verwendungsfähig.“ Im Hauptquartier der Militärs in Kassel herrscht Panikstimmung.

Es wäre in dieser Situation ein Leichtes gewesen, erneut die Regierung der Volksbeauftragten festzusetzen und die Verantwortlichen für das Massaker – es gab 70 Tote – allen voran Friedrich Ebert, zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu kam es nicht. Haffner:

„Die Revolution hatte keine Führung, sie sah ihre Chance nicht – und außerdem war jetzt Heiligabend. Die Matrosen […] hatten gekämpft und gesiegt; jetzt wollten sie feiern. Was Liebknecht betraf – der mit den Ereignissen der letzten Tage nicht das Geringste zu tun hatte – , so war er die ganze Nacht damit beschäftigt, eine besonders wirkungsvolle Anklage-Nummer der Roten Fahne herzustellen, die am nächsten Morgen mit der riesen Balken-Überschrift ´Eberts Blutweihnacht´ herauskam. Die Revolutionären Obleute, die an diesem Abend wie jedermann zu Hause vor dem Weihnachtsbaum saßen, […] riefen für den ersten Feiertag zu einer Demonstration auf. […] Die Unabhängigen Sozialdemokraten aber […] sahen nur eins: dass sie aus dieser Regierung heraus mussten […] Damit taten sie Ebert […] den größten Gefallen.“18

Ein wichtiger Nachrücker in die nunmehr rein mehrheitssozialdemokratische Regierung war Gustav Noske. Er hatte bereits im Hintergrund die Konterrevolution organisiert. Dies tat er fortan als Mitglied der Regierung.

Wenn hier festgestellt wird, die Zusammenarbeit zwischen Ebert und Groener sei ein „geheimer“ Pakt gewesen, dann trifft das formal und für die beschriebene „Technik“ (geheime Telefonverbindung) zu. Ebert verbarg allerdings seine Gesinnung nicht. Als am 10. Dezember die erwähnten zehn Divisionen in Berlin einmarschierten, hielt Ebert eine Rede, die in den Berliner Zeitungen dokumentiert wurde. Er sagte dabei u.a.:

„Eure Opfer und Taten sind ohne Beispiel. Kein Feind hat Euch überwunden […] Ihr habt die Heimat vor feindlichem Einfall geschützt, ihr habt Euren Frauen und Kindern, Euren Eltern den Mord und den Brand des Krieges ferngehalten, Deutschlands Fluren und Werkstätten vor Verwüstung und Zerstörung bewahrt. […] Auf Euch vor allem ruht die Hoffnung der deutschen Freiheit. Ihr seid die stärksten Träger der deutschen Zukunft.“19

Wohlgemerkt: Das sagte Ebert nicht vor den Soldatenräten, die sich eine knappe Woche später auf dem Reichsrätekongress in Berlin versammeln wollten. Mehr noch: Diese rechten Einheiten sollten eben die Etablierung von Räten verhindern und die Stadt von „Spartakisten säubern“. Als „Träger der deutschen Zukunft“ bezeichnete Ebert bereits einen Monat nach der Novemberrevolution in aller Öffentlichkeit – die konterrevolutionären, von Kassel aus dirigierten Truppen.

Der Januar 1919 – der angebliche „Spartakus-Aufstand“ und die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht

„Friedrich Ebert und die von ihm geführte Sozialdemokratie haben nicht die Arbeiterbewegung verraten. Sie haben sie gerettet.“ Dies war am 9. November 2018 auf Seite 1 der Berliner Zeitung, verfasst von Arno Widmann, zu lesen. Am gleichen Tag konnte man der taz den Satz entnehmen: „Die SPD hat 1918/19 ein gewaltiges Stück dazu beigetragen, dass aus der Krise keine Katastrophe wurde.“ Dies sagte in dem bereits zitierten taz-Interview Meik Woyke, der Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung. Der Mann sagte dort auch: „Friedrich Ebert übte mit Sicherheit keinen Terror aus.“ Die Argumentation, die SPD hätte in der Novemberrevolution „das Schlimmste verhindert“, bezieht sich meist auf den Januar 1919 und dort auf das, was als „Spartakusaufstand“ bezeichnet wird.

Doch bereits diese Bezeichnung – die sich unwidersprochen so auch in der taz findet – ist nicht zutreffend. Spartakus hat im Januar 1919 keinen Aufstand angeführt. Und das, was damals stattfand, ist mit dem Begriff „Aufstand“ auch unzureichend beschrieben.

Passiert war das Folgende: Am 4. Januar 1919 weigerte sich Emil Eichhorn, Berliner Polizeipräsident und USPD-Mitglied, seine vom preußischen Innenminister verfügte Entlassung anzunehmen. Er wurde dabei von der Berliner USPD, den Revolutionären Obleuten und von der wenige Tage zuvor gegründeten KPD, die aus Spartakus hervorgegangen war, unterstützt. Dieses Bündnis rief darauf für den 5. Januar als Antwort auf die provokative Entlassung Eichhorns zu einer Protestkundgebung auf. Das Ganze sah dabei eher nach „revolutionärer Gymnastik“, und sicher nicht nach Aufstand aus. Eichhorn war laut Haffner „ein herzlich unbedeutender Mann“; das dürfte untertrieben sein. Er war, so Richard Müller, der „erste Berliner Polizeipräsident der Revolution“ und hatte zuvor, am 10. November 1918, bei der Übergabe des „wie eine Festung armierten“ Berliner Polizeipräsidiums eine maßgebliche Rolle gespielt.20

Zurück zum 5. Januar. Aus der Protestkundgebung wurde – für diejenigen, die dazu aufgerufen hatten, einigermaßen unerwartet – eine spontane Massenexplosion. Sie wies viele Parallelen zum 9. November auf, auch wenn es nun in dieser Massenerhebung weit weniger Planung gab. Hunderttausende Arbeiterinnen und Arbeiter gingen auf die Straßen; tausende besetzten große Bahnhöfe, Druckereien und Zeitungsredaktionen; in den letzteren wurden die Druckmaschinen gestoppt, die Belegschaften nach Hause geschickt und „Revolutionsausgaben“ gedruckt.

Daraufhin beschloss das Bündnis, das zu der Protestkundgebung aufgerufen hatte, einen Aufruf zu einer weiteren Massendemonstration am Tag darauf auf. In diesem Aufruf heißt es, es gelte nunmehr „die Revolution zu festigen und durchzuführen“ und die Regierung Ebert-Scheidemann zu stürzen.

Es wurde ein „Provisorischer Revolutionsausschuss“, bestehend aus 53 Mann, gebildet. Unter ihnen waren mit Karl Liebknecht und Pieck lediglich zwei Spartakus-KPD-Leute. Heinrich Dorrenbach, der Führer der Volksmarinedivision, behauptete in diesem Kreis, „nicht nur die Volksmarinedivision, sondern auch die anderen Berliner Regimenter“ stünden bereit, um „die Regierung Ebert-Scheidemann zu stürzen“. Letzteres war eine Fehleinschätzung.

Der Revolutionsausschuss teilte mit, dass er „die Regierungsgeschäfte vorläufig übernommen“ habe und rief zum Generalstreik auf. Haffner:

„Auch dieser Aufruf [zu neuerlichen Protestversammlungen und zum allgemeinen Streik; W.W.] wurde befolgt. Die Massen waren am Montagvormittag wieder auf den Straßen, vielleicht noch zahlreicher wie am Sonntag. Kopf an Kopf standen sie von der Siegesallee bis zum Alexanderplatz, bewaffnet, erwartungsvoll, tatbereit. […] Jetzt glaubten sie, eine Führung zu haben; jetzt erwarteten sie eine Entscheidung, Kampf und Sieg. Und dann geschah nichts. Die Führung ließ nichts von sich hören. Einzelne Gruppen machten sich selbständig. Und besetzten noch ein paar öffentliche Gebäude. […] Den entscheidenden Sturm auf die Regierungsgebäude wollte aber offenbar ohne Befehl niemand wagen; und Befehle kamen nicht.“21

Eine wichtige Rolle beim Zögern des Revolutionsausschusses spielte, dass die Regimenter in der Stadt sich nicht – wie erwartet – auf die Seite der Revolution schlugen. Selbst die Volksmarinedivision erklärte sich mehrheitlich „neutral“; ein Drittel schloss sich den Arbeitern an und beteiligte sich vor allem an der Besetzung des Schlesischen Bahnhofs (heute Ostbahnhof).

Nun spricht sicher einiges dafür, dass die Kräfte für eine Besetzung von Reichstag und Reichskanzlei ausgereicht hätten. Man verfügte auch mit den Zeitungsredaktionen über die Mittel, die rechte Propaganda auszuschalten und eine objektive Berichterstattung zu gewährleisten. Möglich erscheint auch, dass die wankenden bewaffneten Kräfte sich im Fall, dass derart „vollendete Tatsachen“ geschaffen worden wären, auf die Seiten der neuen Macht gestellt hätten. Das ist jedoch alles Spekulation.

Wenn man allerdings, wie dies der Fall war, einen Angriff auf die zentralen Schaltzentralen nicht durchführte, weil man zur Einschätzung gelangt war, dass dafür die Kräfte nicht ausreichend und der Zeitpunkt falsch waren, dann musste man auch die Kraft haben, die Unternehmung abzusagen, für einen geordneten Rückzug zu sorgen und dazu aufrufen, die Besetzung der vielen strategisch wichtigen Gebäude aufzugeben. Doch, so Haffner, „das war mehr, als die dreiundfünfzig innerhalb von vierundzwanzig Stunden leisten konnten.“

Es kam zu Verhandlungen zwischen Regierung und Revolutionsausschuss. Ebert ließ sich dabei bewusst Zeit – Zeit, die er brauchte, um eigene Truppen heranzuführen. Am 9. Januar war es soweit. Ein umfassender militärischer Angriff auf die Positionen der Aufständischen begann. In den Tagen 9. Januar bis 12. Januar „wurde auf Befehl Eberts die Revolution in der Hauptstadt zusammengeschossen. […] Eine buntscheckige Truppenschar […] eroberte in schweren Straßen- und Häuserkämpfen die besetzten Gebäude eines nach dem anderen zurück, zuletzt […] das Polizeipräsidium.“

Als die blutige Arbeit bereits weitgehend erledigt war, marschierten am 11. Januar neu gebildete Freikorps-Einheiten mit Gustav Noske an der Spitze in die Stadt ein, die Garde-Kavallerie-Schützen-Division des späteren Luxemburg-Liebknecht-Mörders Waldemar Pabst und das Landesjägerkorps Maercker. Am 15. Januar wurde der gesamte Süden und Westen Berlins und die Innenstadt von dem neu gebildeten „Generalkommando Lüttwitz“ besetzt. Haffner:

„Den Westen Berlins übernahm die neu gebildete ´Garde-Kavallerie-Schützen-Division´. Im feudalen Eden-Hotel schlug sie ihr Hauptquartier auf. Sie führte Plakate mit, auf denen stand: […] ´Berliner! Die Division verspricht Euch, nicht eher die Hauptstadt wieder zu verlassen, als bis die Ordnung endgültig wiederhergestellt ist.´ Noch am Tag ihres Einzugs gab die Division ihre Visitenkarte ab: mit der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.“22

War der Januaraufstand ein Putsch? Das kann bejaht werden – es war ein Putschversuch. War es ein geplanter Umsturzversuch? Das muss verneint werden. Es war eine spontane Erhebung. Wurde er von einer Minderheit durchgeführt? Auch das trifft nicht zu – an der Erhebung beteiligten sich Hunderttausende. Die geplante Absetzung des Polizeipräsidenten wurde als Provokation verstanden. Und es war eine Provokation in doppelter Hinsicht: Mit dem Auswechseln des Polizeipräsidenten sollte das weitere Vordringen der Konterrevolution in der Hauptstadt durchgesetzt werden. Gleichzeitig spielten bei der darauf einsetzenden Radikalisierung Provokateure eine Rolle. Handelte es sich um einen von Spartakus angeführten Putschversuch? Definitiv nicht. Die KPD hatte sich im Vorfeld ausdrücklich gegen eine Übernahme der Regierung ausgesprochen. In einem unmittelbar vor den Januar-Kämpfen durch die KPD verteilten Flugblatt heißt es:

„Würden die Berliner Arbeiter heute die Nationalversammlung auseinanderjagen, würden sie die Scheidemann-Ebert ins Gefängnis werfen, während die Arbeiter des Ruhrgebiets, Oberschlesiens […] ruhig bleiben, so würden die Kapitalisten morgen Berlin durch Aushungern unterwerfen können.“23 War es ein Aufstand, angeleitet von „den“ Revolutionären Obleuten? Auch das trifft so nicht zu. Der führende Kopf der Obleute, Richard Müller, wandte sich z.B. „in der schärfsten Form gegen das vorgeschlagene Ziel des Kampfes, Sturz der Regierung. Er legte dar, dass dafür weder politisch, noch militärisch die Voraussetzungen gegeben seien. Die Bewegung im Reiche wachse von Tag zu Tag. […] Ein verfrühtes isoliertes Vorgehen in Berlin könne die weitere Entwicklung der Revolution gefährden.“24 Richtig ist, dass die Mehrheit der Berliner Revolutionären Obleute und eine Mehrheit der Berliner USPD sich angesichts der beschriebenen – von allen nicht erwarteten – Massendemonstrationen und der dort zum Ausdruck gebrachten Stimmungen zu den Umsturzforderungen hatten hinreißen lassen.

Liebknecht selbst, der – dabei auch seinem Naturell folgend – diese Umsturzforderungen unterstützt hatte und zu einem der Wortführer derselben wurde, wurde kurz nach dem Umsturzversuch von Rosa Luxemburg mit den Worten kritisiert: „Karl, wo bleibt unser Programm?“25

Grotesk ist auf alle Fälle, wenn in der offiziellen Geschichtschreibung und in den eingangs zu diesem Abschnitt zitierten Kommentaren anlässlich des 100. Jahrestags der Novemberrevolution in erster Linie der Umsturzversuch als „gewalttätig“ gegeißelt und dabei das bald darauf stattfindende Wüten der Konterrevolution ausgeblendet oder relativiert wird. In der Berliner Zeitung schreibt dazu der bereits zitierte Arno Widmann sogar: „So rabiat die junge Republik auch unter Zuhilfenahme der alten Apparate gegen alles, was links von ihr stand, vorging, so vernünftig war das auch.“

Der Umsturzversuch hatte keine größere Zahl an Opfern gefordert. Auch hier waren die Massen gutmütig geblieben und zurückhaltend und unblutig vorgegangen. Die konterrevolutionäre Bewegung, die nicht von der „jungen Republik“, sondern von Ebert, Noske und Scheidemann kommandiert wurde, hatte dagegen vielen hundert Menschen das Leben gekostet. Es kam nun auch zu unerhörten Gräueln. Haffner:

„Die Vorwärts-Besatzung schickte sechs Parlamentäre mit einer weißen Fahne, um über freien Anzug zu verhandeln. Einer von ihnen wurde mit der Forderung nach bedingungsloser Übergabe zurückgeschickt, die übrigen fünf […] furchtbar mißhandelt und schließlich […] erschossen. Dann wurde der Vorwärts gestürmt. Dreihundert Verteidiger wurden gefangen genommen. Major von Stephani rief in der Reichskanzlei an und fragte, was er mit den vielen Gefangenen anfangen solle. Nach eigener schriftlicher Beurkundung erhielt er die Antwort: ´Alle erschießen!´ Das verweigerte er; er war noch ein Offizier der alten Schule. Sieben der Gefangenen wurden trotzdem erschossen, fast alle mit Gewehrkolben furchtbar mißhandelt.“26

Die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wird in der Regel als ein gesondertes – isoliertes – Ereignis „in den Revolutionswirren“ dargestellt. Als Mörder werden dabei die Freikorps-Soldaten genannt. Wenn in diesem Zusammenhang der Name Gustav Noske fällt, dann wird auch dies in der Regel als eine individuelle Angelegenheit dargestellt. Die SPD als solche taucht dabei oft nicht oder nur am Rande auf; die Namen Ebert und Scheidemann ebenfalls nicht. Tatsche ist, dass die SPD-Führung als die in Berlin die Macht ausübende Kraft zuließ, dass seit Wochen in der Stadt Hunderttausende – Müller schreibt: „Millionen“ – Flugblätter zirkulierten und Plakate verklebt waren, die offen zum Mord an Luxemburg und Liebknecht aufforderten. „Tötet Liebknecht!“ „Schlagt Rosa Luxemburg tot!“, so lauteten die Parolen. Plakate mit solchen Aufforderungen waren auch in öffentlichen Gebäuden und in den Kasernen angeschlagen. In der SPD-Parteizeitung Der Vorwärts wurde am 13. Januar 1919 ein „Gedicht“ mit einem offenen Mordaufruf abgedruckt. In diesem heißt es:

Vielhundert Tote in einer Reih´-

Proletarier!

Es fragten nicht Eisen, Pulver und Blei,

ob einer rechts, links oder Spartakus sei,

Proletarier!

Wer hat die Gewalt in die Straßen gesandt,

Proletarier?

Wer nahm die Waffe zuerst in die Hand

Und hat auf ihre Entscheidung gebrannt?

Spartakus!

Viel hundert Tote in einer Reih´-

Proletarier!

Karl, Rosa, Radek und Kumpanei –

Es ist keiner dabei, es ist keiner dabei:

Proletarier!

Vor allem ist der Zusammenhang zwischen der unglaublichen Brutalität, die die konterrevolutionären Truppen zur Niederschlagung des Umsturzversuchs – nicht zuletzt bei der Rückeroberung des Verlagsgebäudes des Vorwärts – ausgeübt hatten, und den Morden an den beiden führenden Personen der deutschen Arbeiterbewegung, offenkundig.

Der Mord wurde von jenem neuen Hauptquartier der Konterrevolution im Hotel Eden aus orchestriert, das Teil des Angriffs auf die Arbeiterinnen und Arbeiter war. Gustav Noske als Mann der Reichsregierung stand bei all diesen mörderischen Aktionen im Zentrum. Waldemar Pabst, der den direkten Mordauftrag an Luxemburg und Liebknecht erteilte hatte, hatte zuvor, nach der Gefangennahme der beiden und nach deren Überstellung ins Hotel Eden, Noske angerufen und von diesem – so Pabst – gesagt bekommen, er „müsse selbst verantworten, was zu tun sei.“ Klaus Gietinger: „Pabst verstand dies zu Recht als Freibrief zur Ermordung der beiden ehemaligen Parteigenossen Noskes.“27

Nachdem der Mord an Liebknecht und Luxemburg bekannt und Details in der „Roten Fahne“ veröffentlicht wurden, riefen USPD und KPD zum Generalstreik auf. Doch dieser wurde nur von einigen Zehntausend befolgt. Die Januar-Kämpfe hatten die revolutionären Kräfte demoralisiert. Als am 25. Januar die Leiche Liebknechts – die Leiche von Rosa Luxemburg galt zunächst aus unauffindbar – mit 33 Opfern der Januar-Kämpfe bestattet wurde, folgten Hunderttausende dem Trauerzug. Richard Müller:

„Der Oberbefehlshaben Noske hatte nur bestimmte Straßen für den Trauerzug freigegeben. […] Das abgesperrte Gebiet von Groß-Berlin glich einem gewaltigen Heerhaufen […] Auf Plätzen und an Kreuzungspunkten der Hauptverkehrsstraßen standen schußbereit Maschinengewehre, Kanonen und Minenwerfer inmitten riesiger Haufen schwerer und leichter Munition. Noskes Aufwand war umsonst.“28

Im Übrigen war die Zusammenarbeit mit den Freikorps spätestens nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und dem Einmarsch der ersten Freikorps-Verbände mit Gustav Noske an deren Spitze im Allgemeinen bekannt. Die Anwerbung der Freikorps-Mitglieder erfolgte inzwischen offen – so auch auf den Seiten der SPD-Parteizeitung „Vorwärts“. Am 23. Februar 1919 gab es im „Vorwärts“ eine ganze Seite, auf der zwei Dutzend Freikorps-Verbände für neue Mitglieder warben. Wobei diese Anzeigen wohl eher das Anbiedern der SPD-Führung bei den rechten Kräften zum Ausdruck brachten. Peter von Oertzen und Klaus Gietinger argumentieren überzeugend, dass es unter den Freikorps-Leuten so gut wie keine Arbeiter gab. Diese setzten sich überwiegend aus ehemaligen Offizieren des kaiserlichen Heeres, aus Studenten, brotlos gewordenen Handwerkern, ehemaligen Frontsoldaten mit lumpenproletarischen Hintergrund und aus Kriminellen zusammen.

Am 19. Januar 1919 fanden die Wahlen zum Reichstag statt. Die SPD wurde mit 37,9 Prozent die mit Abstand stärkste Partei. Die USPD erreichte nur 7,6 Prozent. Die KPD hatte die Wahlen boykottiert. Die – allerdings verfeindeten – Arbeiterparteien erreichten zusammen immerhin 45,5 Prozent. Zweitstärkste Partei – und führende bürgerliche Partei – war das Zentrum (19,7%).

Der Kapp-Putsch und der Generalstreik vom März 1920

Es schien so, als hätten die Januar-Kämpfe 1919 der Revolution das Genick gebrochen. Zumal im Mai 1919 auch die Bayerische Räterepublik von der Konterrevolution endgültig niedergewalzt worden war (siehe dazu unten). Wenn es dennoch im Frühjahr 1920 in ganz Deutschland zu einer dritten demokratischen und revolutionären Massenerhebung kam, so wird damit ein weiteres Mal die Tiefe, die Reife und der umfassende Charakter der revolutionären Entwicklung in Deutschland unter Beweis gestellt.

Zunächst ging es jedoch um das Entgegengesetzte – darum, dass sich die Logik, die aus den neu aufgebauten – alten – konterrevolutionären Kräften resultierte, Bahn brach. Am 13. März 1920 putschten Freikorps-Verbände erfolgreich. Sie übernahmen in Berlin im Handstreich die Regierungsgewalt und verjagten die Ebert-Scheidemann-Noske-Regierung. Gebildet wurde ein weit rechtsstehendes, faschistoides Regime. Es war im Grunde ein Vorspiel auf das, was im Januar 1933 stattfand.

Den Ausgangspunkt bei diesen Ereignissen bildete der Versailler Vertrag. Dieser trat am 10. Januar 1920 in Kraft. Er forderte eine Begrenzung der Reichswahr von bislang 400.000 Mann auf 100.000 Soldaten (plus 15.000 Matrosen). In diesem Zusammenhang sollte ein größerer Teil der Freikorps aufgelöst werden. Betroffen war davon auch die Brigade Ehrhardt, ein fünftausend Mann starkes Freikorps, das noch 1919 in Lettland gegen bolschewistische Einheiten gekämpft und im Bürgerkrieg in Berlin und in München bei den Massakern gegen die Arbeiter eingesetzt worden waren. Die Einheit war im Januar 1920 auf den Truppenübungsplatz Döberith bei Berlin verlegt worden. Die extrem rechts eingestellten Berufssoldaten trugen bereits das Hakenkreuz auf dem Stahlhelm. Haffner: „Der Geist dieser Truppe war schon 1920 unverkennbar Geist vom Geiste der künftigen Waffen-SS.“29 Und diesen „Geist“ gab es bereits damals vertont – als „Ehrhardt-Lied“: „Hakenkreuz am Stahlhelm / Schwarzweißrot das Band / Die Brigade Ehrhardt / Werden wir genannt.

Die Hintermänner und Organisatoren des Putsches waren Mitglieder einer Verschwörergruppe mit Namen „Nationale Vereinigung“, die seit August 1919 den Staatsstreich vorbereitete. Die „Nationale Vereinigung“ wurde u.a. unterstützt von dem Pressezar Alfred Hugenberg, dem Industriellen Hugo Stinnes, dem Geheimrat Duisberg von den BAYER-Werken und nicht zuletzt von dem Weltkrieg-Diktator Ludendorff. Maßgebliche Betreiber des Netzwerks waren General von Lüttwitz, Waldemar Pabst und Wolfgang Kapp. Kapp, nach dem der Putsch dann in den Geschichtsbüchern benannt wurde, war Generallandschaftsdirektor und Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank.

In der Nacht vom 12. auf den 13. März marschierten Freikorpseinheiten unter Kapitän Ehrhardt in Berlin ein. Ihr Befehl lautete, „jeden Widerstand rücksichtslos zu brechen und das Zentrum der Stadt mit den Ministerien zu besetzen“. Obgleich Noske einen solchen Putsch ahnte und Reichswehreinheiten im Regierungsviertel zusammen gezogen hatte, hatten die Putschisten Erfolg auf der ganzen Linie. Die Offiziere sämtlicher Reichswehreinheiten, die Noske zur Verteidigung herbei beordert hatte, hatten sich (unter der Losung „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr“) darauf verständigt, die SPD-geführte Regierung nicht zu verteidigen.

Die Regierung war schutzlos. Und sie war denjenigen rechtsradikalen Einheiten ausgeliefert, die sie in den vergangenen Monaten aufgepäppelt hatte. Selbst der Generalstabschef von Seeckt erklärte offen, es sei besser, „wenn Erhardt“, der inzwischen an der Siegessäule Halt gemacht und ein Ultimatum ausgesprochen hatte, auf eine „gleichgültige Reichswehr“ stoße, als wenn er „als Sieger einer gewonnenen Schlacht am Brandenburger Tor“ in Berlin einziehe.30

Es waren dabei nicht, wie dies die vorherrschende Geschichtsschreibung nahelegt, irgendwelche wild gewordenen Freikorps-Leute, die da putschten. Die Atempause, die die Freikorps-Einheiten am Abend des 13. März der noch amtierenden Regierung gewährten, wird in der „Illustrierten Geschichte der deutschen Revolution“ wie folgt beschrieben:

„Ehrhardt rückte mit seinen Landsknechten nach dem Brandenburger Tor vor. Die Reichswehrposten räumten nach kurzer Verhandlung das Feld. Hier gaben sich nun die Führer des Kapp-Putsches das historische, ´zufällige´ Stelldichein. Ehrhardt stellte es so dar: ´Ich bemerkte im Hintergrunde einige Herren im Gehrock und Zylinder. Zu ihnen gesellte sich als ´Morgenspaziergänger´ General Ludendorff. Erst später wurde es mir klar, dass diese Gruppe Zylinderträger Herr Kapp und seine künftigen Minister waren.´ Wer sieht bei diesen Worten nicht das zynische Grinsen dieses Landsknechtsführers?“31

Ludendorff, fahnenflüchtig am Kriegsende und zugleich zu feige, um die Kapitulation zu unterzeichnen, war aus seinem Exil in Schweden wieder aufgetaucht. Der Kopf der Militärdiktatur im Ersten Weltkrieg zog die Strippen. Er war dann drei Jahre später beim Hitler-Putsch 1923 erneut mit von der Partie. Wobei die Putschisten 1923 als Termin den 9. November gewählt hatten – mit derselben Intention, wie sie dies 1938 tun sollten.

Die sozialdemokratischen Minister mit Ebert an der Spitze flohen aus Berlin. Sie fanden – nach einer Zwischenstation in Dresden – schließlich Unterschlupf in Stuttgart. In Berlin zogen die Kapp-Putschisten in Reichskanzlei und Reichstag ein. Binnen weniger Stunden unterstellten sich die Berliner Truppen, die gesamte Marine, die Heereskommandos in Ostpreußen, Pommern, Brandenburg und Schlesien dem neuen Oberbefehlshaber Lüttwitz und dem neuen Reichskanzler Kapp. Andere Teile der bewaffneten Kräfte blieben „neutral“. Buchstäblich niemand aus dem Militär stellte sich auf die Seite der rechtmäßigen, der gewählten Regierung. Selbst führende Sozialdemokraten – so der Berliner Polizeipräsident Ernst – unterstützten die neue Regierung.

Die Putsch-Regierung ließ Plakate verkleben, die mit „Der Reichskanzler Kapp“ unterzeichnet waren. Auf einem dieser Plakate, datiert auf den 15. März, war zu lesen:

„Die Lage ist gut. Die alte Regierung will die Aufforderung zum Generalstreik widerrufen, da sie dieses Unrecht am deutschen Volk eingesehen hat. Verhandlungen zwischen alter und neuer Regierung haben begonnen und sind in gutem Fortschreiten. Die Bildung der neuen Regierung auf breitester demokratischer Basis ist in kürzester Zeit zu erwarten. Sie war bisher verzögert durch den Aufruf der alten Regierung zum Generalstreik.“

Generalstreik? Unrecht am deutschen Volk? War da was?

Ja, da war was. Vor ihrer überhasteten Flucht aus Berlin hatten die SPD-Führer – wohl in einer Art Reflex, bezugnehmend auf die Zeiten vor August 1914 – einen Aufruf zum Generalstreik verfasst. Sie hatten diesen auch unterzeichnet. Oder hatten sie ihn doch nicht unterschrieben? Genau genommen war eine Unterzeichnung vorgesehen. Denn die Namen der Unterzeichnenden sollen auf dem Original-Aufruf nur mit Bleistift gekrakelt gewesen sein. Als die Ex-Minister und der Ex-Kanzler Ebert in Dresden, bei ihrer ersten Zwischenstation auf der Flucht, von dem dort kommandierenden General Maercker mit dem „unerhörten Aufruf zum Generalstreik“ konfrontiert wurden, versicherten die SPD-Mannen hoch und heilig, ihre Namen seien ohne ihre Einwilligung unter „dieses Elaborat gesetzt“ worden.

Doch das „Elaborat“ war in der Welt. Und es entwickelte ein Eigenleben. Es dürfte in Berlin nicht allzu viele Plakate mit dem Generalstreik-Aufruf gegeben haben; schließlich herrschten hier die Kapp-Putschisten mit eiserner Hand: Sie hinterließen nach einer Woche Kurzzeitdiktatur allein in der Hauptstadt 200 Tote.

Doch der Text des Aufrufs zum Generalstreik sprach eine derart klare Sprache, dass er ins Herz der Arbeiterinnen und Arbeiter traf und es eines flächendeckenden Plakatierens nicht bedurfte. Dort hieß es:

„Arbeiter! Genossen! Wir (!) haben die Revolution nicht gemacht, um uns heute wieder einem blutigen Landsknechtsregime zu unterwerfen […] Es geht um alles! Darum sind die schärfsten Abwehrmittel geboten! […] Legt die Arbeit nieder! Streikt! Schneidet der reaktionären Clique die Luft ab! Kämpft mit jedem Mittel um die Erhaltung der Republik! […] Es gibt nur ein Mittel gegen die Diktatur Wilhelm II: Lahmlegung jedes Wirtschaftslebens! […] Generalstreik auf der ganzen Linie! Proletarier, vereinigt Euch! Nieder mit der Gegenrevolution!“32

Den Aufforderungen zum Generalstreik wurde Folge geleistet. Und dies in einem Umfang, wie es dies nie zuvor in Deutschland und seitdem nie wieder gegeben hat. Das gesamte Land kam zum Stillstand. Kein Eisenbahnverkehr. Keine Post. Keine Zeitungen. In Berlin gab es nicht einmal Wasser, Gas und elektrisches Licht. Alle Verbindungen zwischen der Hauptstadt und den Provinzen waren unterbrochen. Kapp & Co. waren binnen weniger Stunden isoliert und weitgehend hilflos – trotz viel Gejammer, trotz massiver Drohungen (unter anderem mit dem Todesurteil bei Streikteilnahme), trotz vielen Versprechungen über die Bildung einer „neuen demokratischen Regierung“. Siehe oben. Sebastian Haffner:

„Die Putschregierung in Berlin war nach drei Tagen Generalstreik ebenso ohnmächtig geworden wie die Exilregierung in Stuttgart. Beide beherrschten nur noch ihre Vorzimmer. In dieser Generalstreikwoche vom 14. zum 21. März 1920 wiederholte das deutsche Proletariat noch einmal seine Leistung der Revolutionswoche vom 4. zum 10. November 1918. Die Ähnlichkeit der beiden Vorgänge ist überwältigend. Wie damals spielte sich überall in Deutschland das Gleiche ab […] – aus einer spontanen Solidarität des Denkens und des Fühlens heraus. Wie damals war der Charakter der Massenaktion nicht sozialistisch, sondern demokratisch und antimilitaristisch: Der Generalstreik jetzt wie die Revolution damals richtete sich gegen eine Militärherrschaft […] Und wie damals bestand die große Masse der Streikenden aus Sozialdemokraten. Nur die sozialdemokratischen Minister hatten ja zum Streik aufgerufen. Die Unabhängigen weigerten sich zunächst, sich dem Streikruf anzuschließen. […] Die Berliner KPD-Zentrale […] gab am selben Tag sogar einen Aufruf gegen den Streik heraus: ´Keinen Finger rühren für die in Schmach und Schande untergegangene Regierung der Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs!´ Das alles blieb ohne die geringste Wirkung. Auch die USPD- und KPD-Anhänger streikten wie ein Mann und den Parteiführern blieb schließlich nichts anderes übrig, als sich ihren Mannschaften anzuschließen.“33

Die Streikbewegung führte schlagartig zum Wiederaufleben der Rätebewegung. In großen Teilen Deutschlands ging sie in eine bewaffnete Erhebung über. So rollte eine improvisierte „Rote Ruhrarmee“ wie eine Lawine durch das Revier. Haffner:

„Am Ende der Streikwoche stand das ganze Ruhrgebiet unter der Herrschaft der bewaffneten Arbeiter. Aber gerade diese unerwartete Machtentfaltung der erneuerten Revolution wurde ihr zum Verhängnis. Die Kapp-Regierung war zwar […] nicht zu halten. […] Aber die Angst vor der schon endgültig besiegt geglaubten Revolution […] einte im Lauf weniger Tage wieder die Gegner vom 13. März. Gegen die Revolution fanden bürgerlicher Staat und militärische Rebellen rasch wieder zusammen. Und es dauerte nicht lange, bis auch die SPD in diese Einheitsfront einschwenkte.“34

Kapp & Co. traten zurück. Doch ihnen wurde von der alten, mit dem Generalstreik ins Amt zurück beförderten SPD-Regierung gestattet, dies in geordneter Formation zu tun. Den Putschisten wurde faktisch Straffreiheit gewährt. Die Brigade Ehrhardt zog in Formation aus Berlin ab. Als während dieses Abzugs am Brandenburger Tor aus der umstehenden Bevölkerung Buh-Rufe ertönten, feuerten die Freikorps-Männer in die Menge und hinterließen zwölf Tote und dreißig Schwerverletzte auf dem Pariser Platz.

Die Reichsregierung kehrte aus Stuttgart nach Berlin zurück. Ihre ersten zwei Ziele waren: die Beendigung des Generalstreiks und die Entwaffnung der Roten Ruhr-Armee bzw. der bewaffneten Arbeitermilizen. Mit der Entwaffnung beauftragten sie die Reichswehr. Diese wiederum beauftragte mit der Niederschlagung der Aufständischen bevorzugt Verbände, die unter Kapp und Lüttwitz als Putschisten aufgetreten waren.

Haffner: „So endete der Kapp-Putsch mit einem mörderischen Strafgericht der immer noch sozialdemokratisch geführten Regierung über ihre Retter, ausgeführt von denen, vor denen sie gerettet worden waren.“35

Eine der Bedingungen, die mit den Putschisten vor deren Abzug vereinbart worden waren, waren vorgezogene Reichstagswahlen. Am 6. Juni 1920 wurde gewählt. Die Stimmenzahl der SPD wurde mehr als halbiert.36 Die SPD schied damit nicht nur als führende Regierungspartei aus. Sie wurde von den Bürgerlichen fürs parlamentarische Regieren auch nicht mehr benötigt. Ebenso wie der Kapp-Putsch bereits angedeutet hatte, dass die SPD für die Konterrevolution ihre Bedeutung verloren hatte. Ab diesen Wahlen und bis zum Ende der Weimarer Republik gab es nun Bürgerblock-Regierungen, deren letzte 1933 die Regierungsgeschäfte in die Hände der Faschisten übergab.

Anmerkungen:

1 Heinrich Jaenicke, Friedrich Ebert, Das Gesicht der Republik, Geo Epoche Kollektion – Die Weimarer Republik, Nr. 12, Hamburg (Gruner + Jahr) 2018, S.27.

2 Zitiert nach: Süddeutsche Zeitung vom 10. November 2018.

3 Hier zitiert bei: Klaus Gietinger, November 1918, Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2018, S. 102.

4 Taz vom 9. November 2018; Interview mit Meik Woyke (FES) und Uwe Sonnenberg (rls).

5 Sie sind gut beschrieben bei Haffner, Verrat…, S. 44-46 und Klaus Gietinger, November 1918…, a.a.O., S. 50ff

6 Dort heißt es auf S. 30: „Aus Berliner Großbetrieben kommen alarmierende Berichte. Die revolutionäre Bewegung sei nicht aufzuhalten, erklären SPD-Obleute.“

7 Klaus Gietinger, a.a.O., vor allem S.57ff.

8 Haffner, Verrat, a.a.O., S. 80.

9 Peter von Oertzen, a.a.O., S. 72f.

10 Taz vom 9. November 2018, S.9.

11 Richard Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution, Erstausgabe 1924 und 1925; hier nach: Oktober 2017, S. 246. Dieses wunderbare, gut dokumentierte und gut erzählte Buch ist auch insofern erstaunlich, als der Verfasser ein Arbeiter ist, der „mit diesem Werk eine Geschichte von unten´ im besten Sinne (schuf): eine Darstellung der Jahre 1914-1919 nicht aus Sicht von Parteien, Generälen, Abgeordneten und Diplomaten, sondern als Geschichte sozialer Kämpfe“. Ralf Hoffrogge in der Einleitung zu dieser Arbeit; S.11.

12 Richard Müller, a.a.O., S. 266.

13 Richard Müller, a.a.O., S. 265.

14 R. Müller, a.a.O., S. 266.

15 Über die erste Sitzung des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte heißt es: „Bei der Festsetzung der Tagesordnung wurde ein Antrag auf Zulassung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als Gäste mit beratender Stimme gegen die Stimmen der Unabhängigen abgelehnt.“ Zitiert bei R. Müller, a.a.O., S. 429.

16 A.a.O., S. 83f.

17 Zitiert bei Haffner, a.a.O., S. 94.

18 Haffner, a.a.O. S. 120.

19 Zitiert bei Klaus Gietinger, a.a.O., S. 84.

20 R. Müller, a.a.O., S. 244f.

21 Haffner, a.a.O., S. 127.

22 Haffner, a.a.O., S. 137.

23 Zitiert bei Richard Müller, a.a.O., S. 544.

24 Richard Müller, a.a.O., S. 547.

25 Zitiert bei Haffner, a.a.O., S. 133. R. Müller bezeichnete das Vorgehen auch Liebknechts als einen „Putsch, vor dem […] auch die Zentrale der Kommunistischen Partei eindringlich gewarnt hatte. Liebknecht und Pieck waren Mitglieder dieser Zentrale. Sie verleugneten die offizielle Politik dieser Partei. Sie stellten die schärften Forderungen auf und griffen jeden an, der es wagte, Bedenken vorzutragen.“ R. Müller, a.a.O., S. 548.

26 Haffner, a.a.O., S. 132.

27 Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere, Hamburg 2008, S.125. Gietinger konnte hier als erster aus den unveröffentlichten Memoiren von W. Pabst zitieren.

28 Richard Müller, a.a.O., S. 597.

29 Haffner, a.a.O., S. 178.

30 Haffner, a.a.O., S. 181.

31 Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Internationaler Arbeiter-Verlag Berlin, Berlin 1929, hier nach: Reprint Verlag Neue Kritik o.J. (ca. 1970), S.460.

32 Zitiert bei: Haffner, a.a.O., S. 182. Man ist geneigt zu rufen: Oh hättet ihr doch Vergleichbares im August 1914 beschlossen! Dann wäre der deutschen Bevölkerung und der Welt vielleicht weit mehr als „nur“ ein reaktionärer Putsch erspart geblieben!

33 Haffner, a.a.O., S. 185f.

34 Haffner, a.a.O., S. 187f.

35 Haffner, a.a.O., S.191.

36 Der Stimmenanteil der SPD sank von 37,9 Prozent (1919er Wahl) auf 21,6 Prozent – und damit aufgrund der geringeren Wahlbeteiligung etwas weniger als im Fall der absoluten Stimmenzahl. Der Stimmanteil der USPD schnellte von 7,6 (1919) auf 17,9 Prozent hoch. Die KPD, die erstmals bei Reichstagswahlen antrat, kam auf 2,1 Prozent. In den 1924er Wahlen sank der SPD-Stimmenanteil ein weiteres Mal – auf 20,5%. Die USPD war marginalisiert (0,8%), Die KPD erreichte 12,6%. Interessant ist, dass SPD und USPD 1919 auf gut 45 % kamen, während SPD und USPD und KPD 1920 addiert nur auf 38,3% und 1924 mit addiert 41,6 % auch deutlich unter dem 1919er Ergebnis lagen.