Kommt endlich die „Generalsanierung des Schienennetzes“?

Über ein neues problematisches Großvorhaben von DB AG und Bundesverkehrsministerium

Am Donnerstag, dem 15. September, verkündeten der Bahnvorstand, vertreten durch den Infrastrukturvorstand Bertholt Huber, der Bundesverkehrsminister Volker Wissing und der Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Peter Hübner, auf dem „Vierten Schienengipfel“ in Berlin, jetzt komme es zur „radikalen Modernisierung und Sanierung der Bahn.“ Am 15. Juni 2024 – also in zwei Jahren! – werde man mit diesem Großvorhaben starten. Dann werde man die Sanierung von Strecken „nicht mehr unterm rollenden Rad“ durchführen. Stattdessen würden jetzt immer „ganze Strecken komplett gesperrt“ und zwar meist „für fünf bis sechs Monate“. Den Beginn mache dabei die „Riedbahn“ zwischen Frankfurt und Mannheim. Die Hauptumleitungsstrecke wird dann die Bergstraße sein, mit einer Streckenführung Frankfurt / M . – Darmstadt – Weinheim – Mannheim.

Ausdrücklich heißt es, die bisherige Form der Streckensanierung – bei überwiegend weiter laufendem Betrieb – sei falsch gewesen. Diese Art der Sanierung habe, so Peter Hübner von der Deutschen Bauindustrie, „immer wieder zu deutlichen Verzögerungen“ geführt. Dadurch seien „unglaublich viele Kapazitäten gebunden und die Arbeiten nicht vernünftig vorbereitet worden.“ In allen Zeitungen und in den meisten elektronischen Medien wurden diese Aussagen nachgeplappert. Und fast überall gab es Lob, dass nun doch „endlich“ eine „Generalsanierung“ des Netzes stattfinden werde.

Einmal abgesehen davon, dass es in den letzten 15 Jahren mehrere vergleichbare Ankündigungen über eine anstehende Generalsanierung des Netzes gab, ist festzuhalten: Der Ansatz für ein solches Sanierungsprogramm ist fragwürdig, falsch und fatal. Dies aus vier Gründen:

Erstens: Es gibt den fürwahr großen Sanierungsbedarf im deutschen Schienennetz aus einem einzigen Grund: Weil der Konzern Deutsche Bahn bzw. dessen Tochter DB Netz AG mehr als zwei Jahrzehnte lang klassische Instandhaltungsarbeiten nicht vornahmen. Die DB AG bzw. deren Tochter DB Netz kontrollieren mehr als 90 Prozent des Schienennetzes in Deutschland; sie allein sind für dessen Instandhaltung verantwortlich. Das heißt unter den Bahnchefs Hartmut Mehdorn, Rüdiger Grube und Richard Lutz, unter den rot-grünen, schwarz-gelben und den schwarz-roten Regierungen beging man die Todsünde des „systematischen Fahrens auf Verschleiß“. Elementare Instand­haltungs­maßnahmen blieben aus. Der Bundesrechnungshof dokumentierte diesen Prozess seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten in immer neuen Prüfberichten; dabei wurde jeweils konstatiert, dass der auf diese Weise aufgelaufene Investitionsstau von Jahr zu Jahr größer wurde.

Ein konkretes Beispiel: Wenn die Riedbahn gesperrt ist und der umgeleitete Verkehr über die Bergstraße läuft, gibt es auf dem Streckenabschnitt Heppenheim-Laudenbach eine 4,5 Kilometer lange Langsamfahrstelle. Diese existiert seit 25 Jahren. Dieser Bereich war mal mit Tempo 160 befahrbar; doch es sind maximal 120 Stundenkilometer erlaubt. Die Bahn war über den Zeitraum eines Vierteljahrhunderts hinweg unfähig, diese Langsamfahrstelle durch eine relativ preiswerte Baumaßnahme zu beheben.

Zweitens: Eine solche Sperrung des gesamten genannten Korridors – und später anderer Korridore – wurde naheliegend, weil das gesamte Schienennetz in den vergangenen 25 Jahren nicht nur um knapp 20 Prozent in der Gesamtlänge abgebaut wurde, sondern weil in großem Umfang Ausweichgleise abgebaut und in noch größerem Umfang Weichen und Kreuzungen aus dem Netz herausgerissen wurden. Konkret: 1994 gab es ausweislich der Statistik der DB AG (jährliche Hefte von „Daten und Fakten“) noch eine Gleislänge (= Summe aller Gleise) von 78.073 km; am 31.12.2021 waren es noch 60.928 km; ein Abbau um 22 Prozent. 1994 gab es noch 131.968 Weichen und Kreuzungen in diesem Gesamtnetz; am 31.12.2021 waren es noch 65.550 – ein Abbau um mehr als 50 Prozent. Die „Infrastrukturanschlüsse“ (Industriegleise) wurden sogar um mehr als 80 Prozent (von 11.742 auf 2314) abgebaut. Viele Bahnhöfe auf der Riedbahn haben nur noch in einer Fahrtrichtung Überholgleise.

Zwei konkrete Beispiele für die Riedbahn:

Der Bahnhof Weinheim hat für den Güterverkehr nur noch zwei Überholgleise. Die übrigen fünf Gleise wurden zurückgebaut. Die Flächen wurden verkauft. Dort stehen jetzt Wohnhäuser und Häuser mit Geschäftsräumen.

Der Bahnhof Zwingenberg (Bergstraße) wurde entgegen eines Beschlusses des Verwaltungsgerichtes Darmstadt nicht wieder mit einem Überholgleis aufgebaut. Das Stellwerk war abgebrannt. Die Bahn wollte es nicht wieder aufbauen und baute das Überholgleis zurück. Das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) hatte die Betriebspflicht angeordnet, wonach der Bahnhof mit Überholgleis wiederaufzubauen sei. Die DB AG ignoriert bis heute diese Entscheidungen eines Gerichtes beziehungsweise des EBA.

Drittens: Die in Aussicht gestellte Grundsanierung über mehrere Jahre hinweg soll es für „sieben Korridore im Stammnetz“ geben. Das sind maximal 5000 Kilometer Schienennetz. Das wiederum entspricht nur rund 15 Prozent des gesamten verbliebenen Schienennetzes mit 34.000 Kilometern Betriebslänge. Damit orientiert man in starkem Maß auf den Fernverkehr und auf Verkehre im Umfeld der Metropolen. Grundsanierungen in diesem Segment sind ohne Zweifel notwendig. Doch das ist deutlich zu wenig. Was wir benötigen, ist eine Sanierung und ein Ausbau (Wiederaufbau) des Gesamtnetzes, auch solche von regionalen und sogenannten „Nebenstrecken“. Notwendig ist der Ausbau des Netzes. Erforderlich ist die Elektrifizierung von 100 Prozent des Netzes. Beseitigt werden müssen hunderte Nadelöhre. Auf der Tagesordnung steht bei vielen Strecken der Ausbau zur Zweigleisigkeit. Beispielsweise im Fall der eingleisigen Stellen auf der Gäubahn (Stuttgart – Singen). Doch all das wird von den für den Schienenverkehr Verantwortlichen nicht einmal angedacht. Der tragische Unfall in Burgrain bei Garmisch-Partenkirchen Anfang Juni verdeutlichte, dass es diesen Sanierungs- und Ausbaubedarf für das gesamte Netz gibt.

Viertens: Komplette Streckensperrungen sind problematisch. Streckensperrungen gar über 5 Monate, dann für zentrale „Korridore“ und als Gesamtkonzept über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg sind Gift für einen funktionierenden Schienenverkehr. Dies wird negative Auswirkungen und deutliche Fahrplanverschlechterungen bzw. Fahrtzeitenverlängerungen für einen größeren Teil des gesamten Schienennetzes mit sich bringen. Natürlich sind auch weiterhin Instandhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen bei laufendem Betrieb machbar und sinnvoll. Das gilt insbesondere für zweigleisige Strecken, bei denen man zeitweilig im eingleisigen Betrieb verkehren kann. Selbst die Elektrifizierung ganzer Strecken wurde früher oft bei laufendem Betrieb vorgenommen. Komplette Streckensperrungen über einen längeren Zeitraum hinweg, wie es solche im Fall der Südbahn-Elektrifizierung in den letzten Jahren gab, führen zum Weggang der Bahnkundschaft und zur Stärkung des Straßenverkehrs. Gegebenenfalls müssen kleinere Ausbaumaßnahmen – was oft heißt: ein Rückgängigmachen des vorausgegangenen Abbaus – im Vorfeld einer solchen Sanierung vorgenommen werden, um die Sanierung im weitgehend laufenden Betrieb zu ermöglichen.

Es ist absurd zu behaupten, die Eisenbahnen in der gesamten Welt hätten mehr als ein Jahrhundert lang fälschlich bei „laufendem Betrieb“ Instandhaltungen vorgenommen. Es ist absurd zu behaupten, dass das, was die SBB in der Schweiz und was die ÖBB in Österreich weiterhin machen, nämlich Instandhaltung bei laufendem Betrieb, Quatsch sei. Es ist lächerlich anzunehmen, es bedürfte jetzt eines FDP-Ministers aus der Pfalz, der über keinerlei Bahnfachwissen verfügt, um jetzt auf den Trichter „Streckensperrungen bei Grundsanierungen“ zu kommen. Hier wird schlicht ein gigantisches Programm zum Sponsoring der Bauindustrie, zur Verschleuderung von Ressourcen und zur massiven Störung des Bahnverkehrs ab 2024 und bis Ende der 2020er Jahre verkündet.

Konkrete Beispiele: Der gesamte ICE-Verkehr muss im Fall der verkündeten fünfmonatigen Vollsperrung der Riedbahn in Mannheim Hbf Kopf machen. Das kostet zusätzliche Fahrzeit und Personal. Bei allen Zügen kommt noch hinzu, dass im Raum Frankfurt/M. zwischen Oberforsthaus und Neu-Isenburg ein eingleisiger Abschnitt befahren wird (mit 60 km/h).

Allerdings gibt es einen Grund für diese Vorgehensweise, gibt es einen entscheidenden Webfehler im System Schiene: Laufende Sanierungsarbeiten muss der Konzern DB AG bezahlen. Grundsanierungen zahlt der Bund. Also gilt für den Konzern Deutsche Bahn AG: Abwarten, Tee trinken, auf Verschleiß fahren und die Hand aufhalten!

Für uns heißt das und zu fordern ist: Alle Kräfte und alle Finanzen im Bereich Schiene müssen sich auf eine umfassende Grundsanierung des gesamten Schienennetzes konzentrieren. Diese kann weitgehend bei laufendem Betrieb stattfinden. Dafür müssen alle zerstörerischen Großprojekte auf den Prüfstand und meist eingestellt werden. Allen voran Stuttgart 21.

Am gleichen Tag, als das Programm „radikale Modernisierung“ des Schienennetzes auf dem Berliner Schienengipfel bekannt gegeben wurde, wurde öffentlich gemacht, dass die Pkw-Dichte bundesweit einen neuen Rekordstand erreicht hat – mit 580 Autos auf 1000 Menschen. In Baden-Württemberg waren es am 1.1.2022 sogar 613; das Wachstum der Pkw-Dichte ist in The Länd sogar überproportional. Auf Basis der monatlichen Berichte des Kraftfahrzeug-Bundesamtes über Neuzulassungen setzt sich dieser Trend bei der Pkw-Dichte 2022 ungebremst fort.

Das heißt: Trotz diverser Schienengipfel und trotz eines Neun-Euro-Tickets wächst der Pkw-Verkehr erkennbar. Wenn alles wächst, also Straßenverkehr und Schienenverkehr, dann ist das eine fatale, negative Meldung mit Blick auf das Klima. Ein Erfolg des Neun-Euro-Tickets kann diese Negativbilanz nicht umdrehen. Und der Autoverkehr wächst vor allem im Nahverkehr und im regionalen Verkehr – also dort, wo keine „Generalsanierung“ des Bahnnetzes geplant ist – und vor allem dort, wo ein Ausbau der öffentlichen Verkehre und der regionalen Bahnstrecken nicht einmal angedacht wird. Nur durch eine Einschränkung des Autoverkehrs, beginnend mit wirksamen Tempolimits (30-80-120) und einem Ausbau des öffentlichen Verkehrs, einschließlich einer Nachfolgeregelung für das Neun-Euro-Ticket, wird eine nachhaltige Verkehrspolitik möglich.