Persönliche Erinnerungen an Winfried Wolf

In Buchform lebt er weiter

Kennengelernt habe ich Winnie Wolf als Verleger. Es war auf der Leipziger Buchmesse 2006, als er sein damals neuestes Werk dem Promedia Verlag anbot. Es sollten 495 Seiten zur „Globalisierung des Tempowahns“ werden, wie das Buch im Untertitel heißt. Die erste Auflage von „Verkehr.Umwelt.Klima“ widmete er seiner Frau Andrea und der gerade geborenen Tochter Paola. Ganz der politische Netzwerker, zog mich Winnie parallel zum Erscheinen des Buches in sein Projekt „Lunapark21“ hinein und fand in mir sowohl einen inhaltlichen Bewunderer seiner Arbeit als auch einen Geldgeber für die GmbH der Quartalszeitschrift.

In der Folge sind eine Reihe von Büchern aus Winnies Feder bei Promedia erschienen, als das vielleicht weitsichtigste von ihnen der Titel „Mit dem Elektroauto in die Sackgasse. Warum E-Mobilität den Klimawandel beschleunigt“, ein Aufschrei gegen die Lobbyisten des nun auf elektrisch getrimmten Individualverkehrs. Auf ungezählten Buchpräsentationen im gesamten deutschen Sprachraum nutzte Winnie Wolf seine Schriften zur umwelt- und sozialpolitischen Agitation. Er war ein Besessener, besessen von der Idee, eine linke Verkehrspolitik nicht nur zu postulieren, sondern auch zu gestalten. Seine Jahre im Deutschen Bundestag widmete er dieser Aufgabe.

Die Corona-Zeit hat uns auseinandergetrieben, und das nicht nur örtlich wegen allerlei Kontaktsperren, sondern auch inhaltlich. Sein Engagement für „Zero Covid“ und meines gegen die Maßnahmen zur Virusbekämpfung konnten wir in einer Lunapark-Ausgabe nebeneinanderstellen, eine Annäherung gelang uns nicht. Trotzdem verkehrten wir bis zu seinem Tod respektvoll miteinander und machten uns noch gemeinsam darüber Gedanken, ob nach seinem Ableben, mit dem er schon gerechnet hatte, die Zeitschrift weitergeführt oder in andere Hände gelegt werden könnte. Winnie Wolf hat versucht, über seinen Tod hinaus politisch zu netzwerken, auch auf die Gefahr hin, damit zu scheitern. Was in jedem Fall von Winnie bleibt, ist sein verkehrs-, friedens- und sozialpolitisches Vermächtnis. Seine Bücher zeugen davon.

Hannes Hofbauer


Expertise und Bandbreite

Wir trauern um Winfried Wolf als einen friedenspolitischen Mitstreiter unserer Initiative Frieden-Links. Während des Kosovo-Krieges 1999 gründete er die Zeitung gegen den Krieg, die seitdem zweimal jährlich als Aktionsblatt in hoher Auflage erschienen ist – vor den Ostermärschen und zum Antikriegstag am 1. September. Damit leistete er einen wesentlichen Beitrag zur Kontinuität in der Friedensbewegung.

Dass er diese Arbeit bis zuletzt wie en passant mit Autorenbeiträgen aus dem breiten Spektrum der Friedensbewegung leisten konnte, ist nur durch sein anderweitig vorhandenes Arbeitspensum und seine daraus entwickelte Erfahrung und Routine erklärbar. Seit 2008 bis zuletzt war er Chefredakteur von Lunapark21, was er als seine Herzensangelegenheit bezeichnete. Diese Zeitschrift stellt auch den Brückenschlag zwischen seiner breit gestreuten wissenschaftlichen Expertise und der Bandbreite seiner politischen Aktivitäten dar.

Während seit einigen Jahren viel darüber diskutiert wird, wie man politische Aktivitäten für den Umwelt- und Klimaschutz mit der Friedensbewegung zusammenbringt, war er seit langen Jahren der einzige, der auf allen Gebieten mit wissenschaftlichem Anspruch heimisch war. Für den Umwelt- und Klimaschutz spielt in dem Autoland Deutschland der Kampf für eine andere Bahn eine entscheidende Rolle. Viele Menschen kennen ihn „nur“ als den Bahn-Experten, mit unzähligen Publikationen und als gefragter Referent bei örtlichen Veranstaltungen. Einen Eindruck davon vermittelt sein (noch) aktueller Bahn-Blog.  

Winfried Wolf hinterlässt an vielen Stellen eine Lücke, die nicht geschlossen werden kann. Es bedürfte mehrerer Aktivisten seiner Art, um in unserem Land politische Bewegungen mit eigener Erfahrung und Expertise voranzubringen. Diese Lücke führt dazu, dass Einfaches noch schwerer zu machen ist, um es mit den Worten von Bertolt Brechts „Lob des Kommunismus“ zu formulieren, was er seiner Biografie als Leitbild voran gestellt hat:

Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.
Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen.
Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm.
Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig.
Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit.
Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen
Wir aber wissen:
Er ist das Ende der Verbrechen.
Er ist keine Tollheit, sondern
Das Ende der Tollheit
Er ist nicht das Rätsel
Sondern die Lösung.
Er ist das Einfache,
das schwer zu machen ist.

Karl-Heinz Peil


Mit Winnie Schiff fahren auf dem Bodensee

Jahrelang gehörte für mich zum Sommer eine Schifffahrt mit Winfried Wolf auf einem der „Bodenseedampfer“ von Lindau nach Meersburg oder Konstanz. Die Idee dazu hatten wir im Jahr 2000 nach unseren Reden auf dem Internationalen Bodensee-Ostermarsch in Überlingen. Wir wollten zurück nach Lindau. Das Schiff hatte bereits abgelegt und wir fuhren dann per Zug.

Winnie hielt an der Idee fest, und bald fuhren wir des Sommers immer mit der „Weißen Flotte“ über den See, mitten unter meist vielen Touristinnen und Touristen. Das Wetter hatte da nichts mitzubestimmen. Manchmal verlief sich das regnerische Wetter vom Lindauer Hafen wieder, bis wir Friedrichshafen oder Meersburg erreicht hatten. Trotz intensiver Gespräche, und Diskussionen interessierten uns immer die geübten Hände der Schiffsbesatzungen und des Hafenpersonals während der An- und Ablegemanöver.

Kennengelernt hatten wir uns in der ersten Hälfte der 1980er Jahre auf einem Tagesseminar im Großraum Frankfurt/Main der westdeutschen Gruppe Internationaler Marxisten-GIM und deren Zeitung Was tun, deren leitender Redakteur Winnie war. Dort erfreute und erstaunte mich, dass ein Marxist erstmals fundierte Kritik am verbreiteten Autowahn im Spätkapitalismus „Kein Gas, kein Spaß?“ übte.

Die „Autogesellschaft“ und deren einzige Alternative, ein optimal ausgebautes System des gemeinschaftlichen „Öffentlichen Verkehrs“ aus Eisenbahn, Straßenbahn, Bussen, Trolleybussen und U-Bahnen sowie der Kampf hierfür war auf unseren Schiffsreisen auch immer Gesprächsthema.

Winnie, engagiert gegen das Molochprojekt „Stuttgart 21“, und ich, seit 1997 gegen das Lindauer Bahnhofszerstörungsprojekt „Lindau 21“ engagiert, hatten da immer ausreichend Gesprächsstoff „auf Deck“.

Nicht von ungefähr ließen wir im Oktober 2011 die Teilnehmenden des dritten Lindauer Bahnhofs- und Eisenbahnkongresses nach dem gemeinsamen Mittagessen per Linienschiff nach Bregenz fahren, um von dort nach kurzer Pause per Zug wieder zurück nach Lindau zu fahren, zurück zum Tagungshotel „Bayerischer Hof“. Während des Ausflugs hatten Winnie, Heiner Monheim und die Lindauerin Manuela Schlichtling einen Vorschlag für eine Abschlussresolution des Kongresses zu den Bahnhofsfragen in Lindau und Stuttgart verfasst. Winnie und die Menschen von „Bürgerbahn statt Autowahn“ hatten die Kongresse maßgeblich organisiert und gestaltet.

Auf unseren sommerlichen Schiffsfahrten in Richtung badischer Bodensee fiel uns die Jahre über auf, wie die privaten Bootsliegeplätze der wohlhabenden Minderheit weiter auf Kosten der öffentlichen Schifffahrt ausgebreitet wurden und wie die ehemals stolze Bodan-Werft in Kressbronn wegen Renditeerwartungen des Kapitalisten geschlossen und die Belegschaft trotz Protest und Widerstand entlassen wurde. Auch die westlich von Immenstaad liegenden ehemaligen Dornierwerke, längst Bestandteil des Airbus- Konzerns, regte immer wieder zu vertieften Gesprächen an. Zählen Luft- und Raumfahrt doch mit zu den größten Klimakillern. Doch welche politische Partei mobilisiert hiergegen noch konsequent?

Intensiv diskutierten wir auch Winnies Austritt aus der PDS 2004, dem später der meinige folgte. Beide waren wir zunehmend angewidert vom parteiintern um sich greifenden Karrierismus und dem resultierenden Quark. Später war auch Thema, ob es für ihn nach Gründung der Linkspartei politisch nicht besser gewesen wäre, ähnlich wie ich, dort auf dem uneinheitlichen „linken Flügel“ wieder Mitglied zu werden. Inzwischen wird seine diesbezügliche Zurückhaltung von dem dortigen erneuten Machtzuwachs anpassungswilliger Karrieristinnen und Karrieristen eher bestätigt.

Doch mit der immer wieder von ihm seit April 1999 mitherausgegeben Zeitung gegen den Krieg und der ab 2008 erscheinenden und in ihrer Bedeutung zunehmenden Lunapark21 hatte er zwei mediale Plattformen initiiert, welche für die gesellschaftliche Linke von großem Nutzen sind. Gleichzeitig boten deren Inhalte, das immer interessanter werdende Layout der Lunapark21 sowie die teils heftigen Diskussionen innerhalb des Redaktionsteams für uns einen schier unerschöpflichen Stoff für die sommerliche Debatte an Bord.

Dazu gehörten auch jene unerfreulichen Vorgänge während der vergangenen Jahre innerhalb der von ihm mitgegründeten Expertengruppe „Bahn für Alle“, die zu seinem Hinausmobben aus dieser Organisation führten.

Vor vier Jahren besuchten wir nach der Ankunft in Meersburg die dortige Ausstellung zum rebellischen Aufbruch der APO und Studentenbewegung rund um das Jahr 1968 in der Provinz am Bodensee und in Oberschwaben; quasi ein Rückblick auf die Anfänge unserer beider Politisierung.

Einmal schafften wir es sogar, in Konstanz das schweizer Schiff von Kreuzlingen nach Schaffhausen zu erreichen. Die Fahrt war wunderschön, voller herrlicher Eindrücke und Erinnerungen. Winnie erinnerte sich daran, wie er am Ufer dieses Teils des Bodensees, dem „Untersee“, im Ferienhaus der Eltern einer Freundin und vollgepackt mit Material einen Teil seines Buches „Eisenbahn und Autowahn“ verfassen konnte. Angekommen in Schaffhausen und nach einem guten Nachmittagsessen, fuhren er per Zug weiter zu einem Vortrag in Waldshut, ich zurück nach Lindau.

Deutlich aufgeregt war er, als er nach der Ankunft in Konstanz per Zug nach Ludwigshafen am Westende des Überlinger Teils des Bodensees weiterfuhr, um dort den Bildhauer Peter Lenk zu treffen. Es ging um die schließlich erfolgreiche Vereinbarung zur Erstellung und Finanzierung des Laokoon-Denkmals gegen „Stuttgart 21“.  Das gab auch Anlass, sich erneut die Lenk´schen Skulpturen in Konstanz, Meersburg und Überlingen anzuschauen.

Selbstverständlich waren auch die Entwicklungen in unserem Privatleben immer wieder Teil unserer Gespräche und nicht nur einmal mussten wir dafür auf dem Schiff einen Bereich ohne weitere und ungebetene Zuhörerschaft aufsuchen. Doch die meisten Schiffsgäste wollen ja während der Fahrt auf den Außendecks Platz nehmen. Auch die über die Jahre anwachsende Zahl persönlicher und politischer Enttäuschungen stellte immer wieder hartnäckig die Frage in den Raum, wie sinnvoll letztendlich langjähriges politisches Engagement eigentlich ist.

Seit über zwei Jahren sprachen wir auch über unserer beider Krebserkrankungen und wie wir damit „am besten“ umgehen. Trotz realistischem Blick auf diese Art bösartiger Krankheit, versuchten wir einen unsere Lebenspraxis nicht lähmenden praktischen Optimismus zu leben und uns darin gegenseitig zu bestärken. Doch Winnies viel zu früher Tod verhinderte inzwischen auch, dass wir unseren Plan für den Sommer 2023, endlich auch das Schweizer Bodenseeufer per Schweizer Linienschiff zu erkunden, noch verwirklichen konnten. Mit ihm verließ uns ein Freund und Genosse, der mit seinem Wissen, seiner Zuverlässigkeit, seinem Mut, seinen Ideen und seinem weit links verorteten praktischen Engagement eines der wichtigen Vorbilder für die Linke in Deutschland war und bleiben wird.

Charly Schweizer, Lindau


Winnie als Kulturmensch

Die gemeinsame Arbeit an Lunapark21, sein konsequentes Eintreten für die arbeitende Klasse, wie auch der Kampf gegen das bahnpolitische Milliardengrab S 21, führten Winnie und mich im politisch-kulturellen Sinne Anfang 2000 zusammen. Er kandidierte in Mannheim für die PDS zum Bundestag und ich unterstütze die Kandidatur unter anderem mit einem ewo2-Konzert unter der Losung: „Die Revolution findet im Saale statt – Bahnsteigkarten werden kostenlos ausgegeben”. Das war die Art „Historischer Humor”, auf die wir uns gut verständigen konnten.

Es folgten viele gemeinsame Auftritte bei Kundgebungen und Veranstaltungen, eine Tournee (Konzertlesung Winfried Wolf & ewo2 – „Sieben Krisen. Ein Crash“) mit Auftritten in Süddeutschland, Wien, Berlin oder Zürich, sowie spektakuläre multimediale Saalprojekte zur Unterstützung der Bewegung gegen S 21 („Zug um Zug”, „Ein Zug aus Feuer und Eis”), jeweils aufgeführt im voll besetzten großen Saal des Stuttgarter Rathauses. Aus meiner Sicht, neben den Hunderten „Volksbildungsveranstaltungen” vor den Montagsdemos, eine weitere exemplarische Form der kulturellen „In Besitznahme” öffentlichen Raums.

Winnie konnte nicht nur mit Printmedien umgehen wie zu der Zeit kein anderer, sondern auch aus dem Kopf wichtige Degenhardt-Lieder, Brecht-Gedichte oder ganze literarische Passagen rezitieren, hatte ein Augenmerk auf das Theater (Volker Lösch) oder den Film (Klaus Gietinger) und konnte immer wieder überraschen, so wie in einem seiner letzten Texte, als er uns das Verhältnis von künstlerisch-sportlicher Ästhetik und politischem Engagement des – wer würde es erahnen – Boxers Cassius Clay alias Muhammad Ali sehr unterhaltsam zu vermitteln vermochte.

Und er, der Textbesessene, hatte auch das Format (die Weitsicht) sich auf das „Gestalterische Experiment Lunapark21” einzulassen, das ich zusammen mit Joachim Römer an ihn und die LP21-Redaktion herangetragen hatte: Kunst nicht nur als dekoratives Beiwerk zu sehen, sondern durch eigene, der Kunst vorbehaltene Gestaltungsflächen den geschriebenen Artikeln gleichwertig zu stellen. Es sollte ein Markenzeichen von LP21 werden.

An all dem werden sich in Zukunft andere linkspolitische Blatt- und Kulturmacher noch lange reiben können.

Bernd Köhler, Texter, Grafiker, Musiker


Freund und Ratgeber

Es war vor über 30 Jahren, 1992, ich sollte für Franz Alt und seine Sendung Zeitsprung, es ging um die bevorstehende Klimakatastrophe (!), damals kam sowas in der ARD um 20.15 Uhr, einige Filmchen machen und kam gerade vom Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim, der mir sein Buch „Straßen für alle“ und insbesondere Winnie Wolfs „Eisenbahn und Autowahn“ ans Herz legte und mir gleich mitgab. Im Hauptbahnhof Bonn stieg ich in den IC nach Frankfurt, setzte mich in den Speisewagen und las Winnies Buch. Der Mann der mir gegenüber saß, nahm mir das Buch plötzlich aus der Hand – ich dachte noch: „Was ist das für ein Idiot?“ – schlug das Umschlagfoto auf zeigte es mir und ich erkannte Winnie Wolf mir gegenübersitzend. Seitdem haben wir verkehrspolitisch immer zusammengearbeitet, bei Bürgerbahn statt Börsenbahn, zahlreichen Verkehrsinitiativen, mit dem Austausch unserer autokritischen Bücher und gegen Stuttgart 21 (sowie Frankfurt 21  und Lindau 21). Zuletzt bei Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene. Und in Lunapark21 durfte ich verkehrspolitisch revolutionäres, aber auch zur Deutschen Revolution 1918/19 wie zur Oktoberrevolution 1917 Kritisches verbreiten. Winnie war nicht nur ein unermüdlicher Netzwerker, ein undogmatischer linker Politiker, sondern meines Erachtens einer der besten Verkehrswissenschaftler der Republik, der schon von Verkehrswende sprach, als die meisten Grünen noch Weltmeister im Durch-die-Gegend-Fliegen waren und mit alten 190er Daimlern stinkend übers Land dieselten. Sein Tod reißt in der Verkehrspolitik einen Abgrund.

Sogar ein Buch haben wir mal zusammen gemacht, obwohl ich politisch nicht immer seiner Meinung war, sei es Israel, sei es linker Antisemitismus. Doch meist sahen wir uns d’accord, wenn es um die Kritik des „realen Sozialismus“ ging, um Basisdemokratie und um Kriegsgegnerschaft. Sei es der Kosovo-Krieg, sei es Afghanistan gewesen.

Winnie war ein Freund, ein manchmal etwas herber Freund und unser vorletztes gemeinsames Projekt, der Film Das Trojanische Pferd – Stuttgart 21, bei dem er nicht nur der Crowdfunder, sondern auch Ratgeber in jeder Hinsicht war, kann sich sehen lassen, lässt sich – in der inzwischen 4. Fassung – immer noch sehen und hat der Bewegung gegen dieses Wahnsinnsprojekt neuen Schwung gegeben. Unser letztes Projekt kann er nun nicht mehr begleiten: Die Bahn – Der Film. Doch ich werde versuchen, es auch ohne ihn hinzubekommen, das wird schwer, aber es ist eine Verpflichtung.

Klaus Gietinger, Autor, Regisseur, Sozialwissenschaftler


Der Vulkan ist erloschen

Mit Winnie kreuzten sich meine Wege seit den späten 1960er Jahren, als wir im globalen 1968 engagiert waren. Er war noch nicht einmal 30, als er zum publizistischen Koordinator der Gruppe Internationaler Marxisten avancierte. Als Redakteur von Was tun hatte er einen beeindruckenden politischen Hintergrund.

Die Spannbreite der IV. Internationale zwischen Praxis und Theorie war riesig. Sie unterstützte weltweit den Widerstand der GIs gegen den Vietnamkrieg und beteiligte sich am Aufbau der Fluchtrouten der Desertierten. Am anderen Pol agierte Ernest Mandel, der mit der Präsentation seiner Variablen zur Analyse des Spätkapitalismus die Hörsäle füllte.

Aus dieser Vorgeschichte – 1968, dann GIM – bezog Winnie seinen politischen Elan – ungestüm, fordernd und zäh. Seine Analysen waren fundiert. Seine Texte hatten Biss. Als Redner konnte er mitreißen, und seine Flugschriften faszinierten. Dabei hatte er immer das gleiche Ziel vor Augen: Die Bündelung der zerstrittenen und zunehmend zerfasernden Strömungen des sozialen Widerstands zu einer systemsprengenden politischen Kraft.

„Auch Ihr Autonomen müsst Euch bewegen“ – „ Ihr Operaisten habt auch  nicht die Wahrheit gepachtet“: Das war sein Credo mir gegenüber, als er zur Unterstützung seiner publizistischen Pläne und politischen Projekte – von der Vereinigten Sozialistischen Partei bis zum Aufbau eines New-Left-Flügels innerhalb der PDS – aufforderte.

Dieser Elan blieb ungebrochen, trotz aller Rückschläge, die er mit unerbittlicher Schärfe analysierte, um Ansatzpunkte zum Neustart zu finden. Wir diskutierten über den Stand der deutschen Edition der Werkausgabe Trotzkis, der ihr reicher Sponsor, ehemals Anhänger der IV., ein Ende gesetzt hatte. Winnie berichtete immer wieder sarkastisch über seine Erfahrungen als Mitglied der PDS-Fraktion und als Bundestagsabgeordneter. Wie ist einem Linken zumute, wenn er beim Gratisflug in der First Class der Lufthansa vom Flugkapitän per Handschlag begrüßt wird?

Sein bedeutendstes Projekt startete Winnie in seiner letzten Lebensphase: die Zeitschrift Lunapark 21. An ihr hing er mit Leib und Seele. Es war sein letzter Versuch, die Reste der Linken – von den Post-Keynesianern und Marxisten über den New Feminism bis zu den Sozialrevolutionären – in einem medialen Netzwerk zu bündeln.

In Bad Dreikirchen im Alto Adige, wo er selbst immer wieder Kraft schöpfte, kam es zu einem legendären Seminar, von dem Aufbruchstimmung ausging. Das Projekt Lunapark 21 hat wichtige Impulse gesetzt. Aber es war nicht der erhoffte Startpunkt, an dessen Ende ein von Winnie gemanagter linker TV stehen sollte, der systemkritische Informationen mit antisystemischem Wissen kombinierte und in die Wohnzimmer vermittelte. Darauf hatten wir uns einmal nach einem vortrefflichen Schwarzriesling aus seiner württembergischen Heimat geeinigt. 

Hinter dem aktivistischen und vorwärtsdrängenden Winnie versteckte sich ein außerordentlich feinfühliger Mensch. Der Vulkan Winnie war mit einem sensiblen Sensorium ausgestattet, das seismographische Qualitäten erreichte. Der Vulkan ist erloschen. Wann endlich werden die Eruptionen unserer Enkelgeneration in Gang kommen? 

Karl Heinz Roth, Arzt und Historiker

Veröffentlicht in Lunapark21, Abschlussheft 54