Mandels Eupener Kolleg

Der Berg ging zum „Propheten“ – Ein Trotzkist und die Umwelt

Aachener Volkszeitung vom 22. März 1973

Von Marcel Bauer

Eupen* – Ernest Mandel streift um die deutschen Grenzen. Der bekannte Wirtschaftstheoretiker, Bürgerschreck und geistiger „Brandstifter“ sprach im Eupener Kurhotel Pauquet zum Thema „Umweltverschmutzung, technologischer Sachzwang und Kapitalismus“. Den Sekretär der trotzkistischen 4. Internationale hatte der Deutschostbelgische Hochschulbund geladen, eine akademische Verbindung, die sicherlich nicht im Geruch linker Umtriebe steht. Die Kunde vom Meister hatte sich offenbar wie ein Lauffeuer im Aachener Milieu herumgesprochen, denn das erste Hotel am Platz konnte den Ansturm kaum bewältigen. Abenteuerliche Typen hinter drapierten Jalousien! Mandel, mit kurzem Haarschnitt, Krawatte und Strickpullover fiel optisch aus der Rolle. Am Pressetisch schrieb der Geheimdienst mit.

Ernest Mandel stellte fest, daß „die optimistische Einstellung zu Fortschritt und Wachstum heute kaum noch geteilt wird“. Der Sündenkatalog der Technik sei lang: Raubbau lasse die Rohstoffquellen versiegen; verpestete Luft, Wasser, Erde dezimiere bereits Tier- und Pflanzenwelt, und mit Erwärmung der Atmosphäre drohe das „ökologische Gleichgewicht“ vollends umzukippen. Scharf wandte sich Mandel gegen die Zivilisationskritiker linker wie rechter Schule, die Umweltverschmutzung als notwendigen Tribut an den technischen Fortschritt aussegnen. Für Mandel ist die Störung des Gleichgewichts keine Folge der Technik, sondern „die Folge von ganz bestimmten Optionen. In dieser Meinung finden wir Marxisten, Revolutionäre, Aufwiegler und anderes böses Geschmeiß uns in bester Gesellschaft mit bürgerlichen Gesellschaftskritikern wieder.“

Die großen Schmutzmacher

Seine These, daß hinter den Fehlentscheidungen Privat-Interessen stünden, glaubt der Referent anhand der drei großen Schmutzmacher belegen zu können: Auto, Chemie, Energie. So seien von Anfang an verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten für den Nahtransport gegeben gewesen (etwa Dampf- oder Elektro-Autos). Aber Konstrukteure und Erdöl-Lobby hätten politisch durchgesetzt, daß die Gesellschaft kostenlos die Infrastruktur stelle: Hätte man den großen Trusts die Kosten für unsere Autobahnen aufgebürdet, wäre ihre Rechnung sicherlich nicht aufgegangen.

Daß die petro-chemischen Saubermacher unsere Flüsse und Seen verseuchen, wisse inzwischen jedes Kind. Daß der Schmutz programmiert sei, werde wohlweislich verschwiegen: Die Chemie werfe in immer kürzeren Zeitabständen Produkte auf den Markt, die nicht mehr auf ihre Umweltfreundlichkeit geprüft werden könnten. Im marxistischen Jargon: „Wir erleben einen Alptraum, weil die technologischen Renten des Kapitals auf vier bis fünf Jahre begrenzt sind“.

Kassandrarufe auch in der Energie-Politik! Öl als Billigware, das einst den Torschluss für die Zechen bedeutet habe, mache sich heute rar. Immer wenn es an einer Ware mangele, versuchten manche Teufelsanwälte diese Mangelware in den „gesamtwirtschaftlichen Rentabilitätszyklus“ einzubeziehen: „Wie aber will man Luft, Erde, Wasser oder gar ein Menschenleben preislich veranschlagen?“

Verwirrung beim Genossen

Zweifellos ist Mandel Moralist. Als sich in der anschließenden Diskussion ein älterer Disputant über die Umweltverschmutzung in der Sowjetunion erregt, pflichtet ihm der Professor bei. Erstens habe man dort in der Aufbauphase westliche Technologien unkritisch kopiert, zweitens „unterliegt der bürokratische Wasserkopf keiner gesellschaftlichen Kontrolle“. Solche Sprüche schaffen natürlich Verwirrung bei vielen Genossen. Während sie untereinander die alten Hüte tauschen, schwebt der Geist des Ernest Mandel sachlich über den Wassern.

Natürlich wird der Trotzkist Mandel nach seinem Verhältnis zur Gewalt befragt. Nicht nur Innenminister Genscher hat ihn als Apostel der Gewalt apostrophiert und ihn zur „Persona non grata“ erklärt. Mittlerweile ist für den Belgier aus Frankfurt am Main die halbe Welt mit Brettern zugenagelt, und man bittet ihn in den Flughäfen, erst gar nicht das Köfferchen zu öffnen. „Minister Genscher müßte den gesamten Vorstand  des Internationalen Gewerkschaftsbundes ausweisen, weil die sich an Fabrikbesetzungen beteiligen“, verteidigt er sich. Im übrigen sei jede Lokalpolizei gewalttätiger „als die zehn Millionen Streikenden vom Mai 1968, die nicht einen Menschen umgebracht haben“.

„Phantasie an die Macht“

Ernest Mandel ist „kein Freund des Staates, weder des kapitalistischen noch irgend eines anderen“. Er wünscht sich „die Phantasie an die Macht!“ Als nach dreistündiger Debatte der Diskussionsleiter Josef Dries die Versammlung aufhebt und die bärtigen Jünger „von drüben“  in ihre umweltverschmutzenden Vehikel steigen, schauen die Männer vom Sicherheitsdienst noch einmal aufs Dach, als wollten sie sich versichern, daß niemand Feuer gelegt hat.

* Eupen ist eine südwestlich von Aachen gelegene Kleinstadt in Belgien.


Marxist und Visionär: Ernest Mandel zum 100. Geburtstag

„Der am 5. April 1923 in Frankfurt am Main als Sohn eines jüdischen Marxisten flämischer Sprache geborene Ernest Mandel war zum Zeitpunkt seines Todes kein Jugendlicher. Doch sein Enthusiasmus für den Sozialismus erinnerte immer an den eines reifen Jugendlichen und an den eines jüdischen Propheten. (…) Ernest Mandel hinterließ mehr als fünfzig Bücher zur Analyse des modernen Kapitalismus, darunter grundsätzliche Werke wie die ›Marxistische Wirtschaftstheorie‹ (1962), ›Der Spätkapitalismus‹ (1972) und ›Die Langen Wellen im Kapitalismus‹ (1980), die in zwei Dutzend Sprachen übersetzt wurden.“

Mit diesen Worten leitete Winfried Wolf im Jahr 2005 seinen Nachruf auf Ernest Mandel ein, der zehn Jahre zuvor am 20. Juli 1995 in Brüssel gestorben war.

Der Beitrag findet sich auf Winfried Wolfs Homepage (https://winfriedwolf.de/?p=429) und stellt Mandels Leben, sein politisches und wissenschaftliches Wirken dar. Es ist ein langer Text, der in diesem Heft zehn Seiten füllen würde. Ein Nachruf eines solchen Umfangs ist sicherlich auch Ausdruck der Wertschätzung, die der Autor dem Portraitierten entgegenbrachte.

Über Mandel hatte der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher im Februar 1972 ein Einreiseverbot in die Bundesrepublik verhängt, das erst 1978 Gerhart Baum in seinem ersten Jahr als neuer Innenminister aufhob. In den Jahren dazwischen fanden Veranstaltungen mit Ernest Mandel in grenznahen Orten statt, zu denen auch Winfried Wolf reiste und für die er mobilisierte. Bei einem Wochenendseminar mit Mandel übernachteten junge Deutsche, darunter auch Mitglieder der heutigen Lunapark-Redaktion, in der Aachener Jugendherberge und pilgerten tags über die nahe Grenze zum Tagungsort. Über eine solche Veranstaltung berichtete die Aachener Volkszeitung, die wir hier dokumentieren.

Veröffentlicht in Lunapark21, Abschlussheft 54