blog 02: Die 500. Montagsdemo gegen das Monsterprojekt S21 und die fünf Lügen der „Süddeutschen Zeitung“ zu Stuttgart 21

Das Projekt Stuttgart 21 wird in diesen Tagen neu in die Schlagzeilen rücken, unter anderem weil es in zwei Tagen, am 3. Februar 2020, in Stuttgart die 500. Montagsdemo gibt. Heute ist das Thema wichtig, da die größte Tageszeitung dem Projekt S21 eine Seite widmet und dabei fünf Mal die Unwahrheit sagt.

Es ist einer dieser Tage, an denen mir das Wort „Lügenpresse“ durch den Kopf schießt – das ich mir dann jedoch schnell wieder verbiete. Bloß kein Peginda-AfD-Jargon!

Gestern hatte sich „meine“ Bahnexpertengruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB) in Fulda getroffen – unter anderem, um anlässlich von „10 Jahre Widerstand gegen Stuttgart 21“ und „500. Montagsdemo gegen S21“ – auf der u.a. BsB-Mitglied und Freund Heiner Monheim sprechen wird – über den Stand des Projekts zu diskutieren. Ein anderes BsB-Mitglied, der IT-Experte Dr. Christoph Engelhardt hatte auf unserem Treffen (und zuvor auf einer Veranstaltung im Stuttgarter Rathaus) beeindruckendes neues Material vorgelegt, das belegt: der neue S21-Tiefbahnhof bringt einen massiven Kapazitätsabbau mit sich. Er dokumentierte dies mit Vergleichen der Fahrpläne für bestehende Bahnhöfe wie Köln und Hamburg (die wesentlich „lockerer“ gestaltet sind als der geplante Fahrplan für den S21-Bahnhof), wo es dennoch beständig zu Verspätungen kommt. Seine und unser aller Bilanz: Ein „Deutschlandtakt“ kann in dem S21-Bahnhof nie und nimmer umgesetzt werden; der Kapazitätsabbau, der mit Stuttgart 21 gebaut wird, bedeutet, dass der gesamte Südwesten von diesem sinnvollen integrierten Taktfahrplan, den es in Deutschland ab Mitte der 2020er Jahre geben soll, abgehängt wird.

Dann: In der heutigen „Süddeutschen Zeitung“ ein umfänglicher Artikel über die gesamte Seite 2 hinweg, der mit dem Satz endet: „Selbst das Ministerium des S21-Kritiker Winfried Hermann macht die Aussage: ´Die mit Stuttgart 21 geplante Infrastruktur […] verfügt über ausreichende Kapazitäten für die […] absehbare Verkehrsentwicklung sowie für den Deutschlandtakt.“ Allerdings werbe der Verkehrsminister „für einen kleinen Kopfbahnhof als „Ergänzungsstation“ für den Regionalverkehr. Die SZ-Autorin Claudia Henzler verschweigt, dass es Dutzende konkrete Belege dafür gibt, dass rein physikalisch, objektiv, fahrplantechnisch usw. acht Durchfahrgleise in Tunnellage nie und nimmer einen solchen Taktfahrplan in Stuttgart leisten können und dass auch der doch eher recht regierungsfromme TV-Sender swr in Analysen dies dokumentierte. Siehe z.B. https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/Stuttgart-21-nicht-fuer-Deutschlandtakt-geeignet,s21-nicht-fuer-deutschlandtakt-geeignet-100.html.

Sie verschweigt des Weiteren, dass der sich windende Verkehrsminister dies natürlich weiß, und genau deshalb einen neuen (!), zusätzlichen Kopfbahnhof vorschlägt… Sie verschweigt, dass dies ein neuer UNTERIRDISCHER Kopfbahnhof sein soll, was erstens absurd ist, zweitens völlig unrealistisch, eine Nebelkerze ist, weswegen drittens Hermann davon längst nicht mehr spricht.

Das ist aber nur eine erste Lüge in diesem Artikel.

Lüge Nr. 2 lautet: Am „Schwarzen Donnerstag“, dem 30. September 2010, hätten „mehr als tausend Demnstranten“ im Schlossgarten gegen die geplante Aktion zur Fällung hunderter sehr alter Bäume demonstriert, worauf ein Polizeieinsatz „aus dem Ruder gelaufen“ und „etliche Menschen verletzt“ worden seien. Tatsächlich demonstrierten an diesem Tsg mehr als zehntausend, übrigens überwiegend sehr junge Menschen. Rein gar nichts war damals „aus dem Ruder gelaufen“, vielmehr ließen die Regierung Mappus, die Bahnspitze, der damalige OB und die Polizei eine massive Polizeiprovokation durchgeführen. Es wurden mehr als 40 Menschen schwerverletzt; einer von ihnen verlor ein Auge.

Lüge Nr. 3: Die Autorin lobt die „organisch geformten Kelchstützen“, die das Dach des neuen S21-Bahnhofs bilden würden, was „auf eine Idee“ von „Frei Otto, der schon das Münchner Olympiagelände mitgeplant hat,“ zurückgehen würde. Tatsächlich war der preisgekrönte Architekt Frei Otto einer der beiden S21-Architekten. Doch er distanzierte sich bereits 2011 komplett von dem Großprojekt und warnte davor, dass es bei Starkregen „aufsteigen könnte wie ein U-Boot“ und im Übrigen menschenverachtend sei.

Lüge Nr. 4 betrifft den Ablauf der S21-Planungen und die Gründe, die zu einem zeitweisen Stopp des Projekts geführt haben. In der SZ heißt es: „1995“ sei das Projekt S21 geboren worden. Doch dann habe „die damalige rot-grüne Bundesregierung sowie der neue Bahnchef“ das „Projekt kritisch gesehen“, weshalb dann das Land mit einer Kofinanzierung das Projekt neu belebt habe.

Tatsächlich wurde S21 im April 1994 verkündet. Gestoppt wurde es 1998 von dem damals von Kanzler Kohl eingesetzten neuen Bahnchef Johannes Ludewig mit der Begründung, es sei unwirtschaftlich. Rot-Grün setzte Ende 1999 den neuen Bahnchef Hartmut Mehdorn ein. Dieser war es, der S21 neu beleben und bauen ließ. Und warum erfolgte die Neubelebung des Monsterprojekts – im Übrigen ausgerechnet unter Rot-Grün? Mehdorn ließ am Beginn seiner Amtszeit von seinem damaligen Infrastrukturchef Thilo Sarrazin (!) bei allen Bahn-Großprojekten berechnen, wie wirtschaftlich oder unwirtschaftlich diese seien. Das Ergebnis lautete: Das unwirtschaftlichste Großprojekt war Stuttgart 21. Dennoch beauftragte Mehdorn bald darauf Sarrazin, genau dieses Projekt neu zu beleben und dafür in Stuttgart die entsprechenden Verträge zu unterzeichnen. Der Grund: Das Land schloss mit der Bahn einen Langzeitvertrag über den Nahverkehr ab, bei dem um 50 bis 75 Prozent (mehr als 1,5 Milliarden Euro) zu viel bezahlt wurde. Es wurden damals also faktisch Steuergelder als Schmiergeld für den Bau von S21 eingesetzt. Dies belegte Sarrazin als Zeuge und Experte im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestags im Juni 2018. Das wiederum wurde in vielen Medien ausführlich dokumentiert. Sarrazins Stellungnahme ist nachzulesen HIER: https://www.bundestag.de/resource/blob/558030/7dc606b4a946b75eecebe043028df4b7/011_sitzung_sarrazin-data.pdf

Lüge Nummer 5: Die SZ-Autorin behauptet, mit dem Tiefbahnhof S21 und der Neubaustrecke nach Ulm würde sich „im Dezember 2025 die Fahrt von Ulm nach Stuttgart von heute 56 auf dann 31 Minuten verkürzen“. Tatsächlich hat S21 nichts mit der Neubaustrecke zu tun. Diese Neubaustrecke nach Ulm, die in Wendlingen beginnt, wird auch bereits 2023 fertig und verkürzt dann tatsächlich die Fahrtzeit wie beschrieben. Wobei diese extrem teuer erkaufte Fahrzeitverkürzung konträr zum Projekt Deutschlandtakt steht, weil damit die Anschlüsse im Knotenbahnhof Ulm nicht gegeben sind bzw. weil damit für einen großen Teil der Fahrgäste in Ulm lange Wartezeiten erforderlich werden.

Im Übrigen wird Stuttgart 21 auch nicht im Dezember 2025 in Betrieb gehen. Das Projekt wird nie fertig erstellt werden und eine Bauruine bleiben. Es ist ausschließlich die „Staatsräson“, die dazu führt, dass an S21 weitergebaut wird. Niemand will sein Gesicht verlieren. Beziehungsweise man wartet ab, bis alle Verantwortlichen sich in den Ruhestand oder das Grab verabschiedet haben.

Und so ist natürlich auch der letzte Satz in dem Artikel ein Skandal. Er lautet: „Für die Stadt ist das Projekt eine einmalige Chance zur Stadtentwicklung. Wenn die Gleise […] verschwinden, werden im Talkessel fast hundert Hektar Land frei. Hier soll der neue Stadtteil Rosensteinviertel entstehen.“

Welch eine Heuchelei! Welche eine Verdrehung der Wirklichkeit! Wie sehr provoziert dieser Artikeldazu, dass erneut, wie in der Hochzeit des S21-Widerstands skandiert wird: „Lügenpack“! Da wird ein funktionierender Bahnhof in seiner Kapazität massiv geschwächt – was eine VERTANE Chance für Stadtentwicklung ist. Da wird ein Taktverkehr verhindert – was die Zerstörung der Chance „Deutschlandtakt“ ist. Da soll ausgerechnet im Talkessel ein neues Viertel gebaut werden, womit eine Freiluftschneise zerstört, eine Fläche, die nachts für Abkühlung sorgte, zusätzlich versiegelt und die Temperaturen im Talkessel, die im Sommer bereits unerträglich hoch sind, weiter angeheizt werden.

In der Summe wirkt der Beitrag, als wäre er von der Pressestelle der Deutschen Bahn AG bestellt worden. Er führt dabei nochmals vor Augen, wie zerstörerisch für die Demokratie die mediale Kapitalkonzentration ist. Die „Süddeutsche Zeitung“ wurde 2008 von der Südwestdeutschen Medienholding übernommen. Zu dieser Holding gehören neben der SZ auch die „Stuttgarter Zeitung“, die „Stuttgarter Nachrichten“ und der „Schwarzwälder Bote“. Es handelt sich um eine geballte Medien-Macht mit täglich mehr als 600.000 gedruckter Tageszeitungen-Exemplare (hinzu kommenden Dutzende andere Publikationen). Die Südwestdeutsche Medienholding trommelte mehr als ein Jahrzehnt lang fast geschlossen für das Monsterprojekt Stuttgart 21. Enthüllungen zu dem Projekt und S21-kritische Publikationen wurden verschwiegen. Der Widerstand wurde und wird systematisch kleingeschrieben.

Der SZ-Beitrag verdeutlicht ein weiteres Mal, wie wichtig die Entwicklung einer unabhängigen Öffentlichkeit ist – mit unabhängigen Medien, wie es sie im Internet und teilweise auch noch gedruckt gibt. Und wie wichtig der Widerstand auf der Straße und vor dem Bahnhof gegen das stadtzerstörerische Projekt Stuttgart 21 ist.

Wir werden oben bleiben.

Winfried Wolf ist Verfasser des einzigen umfassenden Buch zu Stuttgart 21: abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands, 380 Seiten, 20 Euro, 3. Und erweiterte Auflage, Köln (PapyRossa), März 2019.