Corona. Kapital. Krise – für eine solidarische und ökologische Alternative

Verena Kreilinger, Winfried Wolf und Christian Zeller
4. April 2020

Verena Kreilinger und Christian Zeller sind in Österreich aktiv bei Aufbruch für eine ökosozialistische Alternative (www.oekosoz.org). Christian ist Professor für Wirtschaftsgeographie an der Universität Salzburg; Verena ist Kommunikationswissenschaftlerin und lebt und arbeitet ebenfalls in Salzburg. Christian Zeller zählt zu den Initiant*innen der internationalen ökosozialistischen Konferenz für Klimagerechtigkeit, die vom 26. bis 28. Juni in Basel wahrscheinlich in digitaler Form stattfinden wird (Informationen unter: www.eco-soc.net). Winfried Wolf lebt in Wilhelmshorst in Brandenburg in der Nähe von Berlin. Er ist Mittglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie (www.lunapark21.net und www.winfriedwolf.de)

verena.kreilinger@gmail.com ww@lunapark21.net christian.zeller@sbg.ac.at

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Inhalt

1 Versagen der Regierungen – Selbstorganisierung vorbereiten 4

2 Wie es zur Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus kam 8

2.1 Warum die COVID-19 Pandemie derart umfassende Auswirkungen hat 8

2.2 Was in Hubei geschah 13

3 Sehenden Auges in das herbeigeführte gesellschaftliche Desaster 15

3.1 Prioritäten gesetzt: Aufrechterhaltung der Wirtschaft und der Profiterzielung 15

3.2 Maßnahmen und Strategien im Vergleich 18

3.3 Unterschiedliche Pandemie-Strategien – bei gleichem strategischem Ziel: Aufrechterhaltung der Produktion 28

3.4 Exit-Strategie auf Kosten der besonders Gefährdeten – ideologische Kampflinie des Kapitals 30

3.5 Die europaweite Auszehrung des Gesundheitssektors durch Liberalisierung, Abbau der Zahl der Krankenhäuser, Reduktion der Bettenzahlen und Privatisierungen 35

3.6 Klasse, Geschlecht und Virusbekämpfung 37

4 Kapital, EU, Nationalstaat und Corona 38

4.1 Sie wissen, was sie tun und lassen. Oder: Der Raubtierkapitalismus am Beispiel der Nase-Mund-Masken 38

4.2 Bankrott der EU – Nationalstaat gegen Nationalstaat 40

4.3 Das Ausmaß der Wirtschaftskrise und die fatale Verbindung von Corona-Pandemie und internationale ökonomische Krise 43

5 Globale Krise und Pandemie: Widerstand entwickeln 47

6 Die kapitalistische Ökonomie umgestalten durch Konversionen – das Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen und ökosozialistische Perspektiven zur Sicherstellung unserer Gesundheit und unseres Lebens entwickeln 51

6.1 25 Forderungen, um Leben zu retten, um die Gesundheit der Menschen sicherzustellen, um ein neues Umverteilungsprogramm von unten nach oben in der Krise zu stoppen und um mittels Konversion von Teilen der Industrie die nötigen Hilfsmittel im Kampf gegen die Pandemie bereitzustellen 51

6.2 Stärkung der Solidarität von unten 60

6.3S chritte zur gesellschaftlichen Aneignung des Gesundheitssektors und einer ökosozialistischen Umgestaltung 63

Quellen der Daten in den Abbildungen 67

1 Versagen der Regierungen – Selbstorganisierung vorbereiten

Eine historische Zeitenwende unabsehbaren Ausmaßes hat eingesetzt. Noch nie seit 1945 erlebten weite Teile der Bevölkerungen Europas einen derartigen Kontrollverlust und zugleich einschneidende Maßnahmen für ihren Alltag. Die Corona-Pandemie trifft zeitlich mit der beginnenden Wirtschaftskrise zusammen, die sich bereits vor Monaten ankündigte. Unsere Gesellschaften durchschreiten eine bislang unvorstellbare zeitliche und räumliche Verdichtung unterschiedlicher Krisen.

Wir erfahren den moralischen und politischen Totalbankrott des Neoliberalismus, der Regierungen in den meisten Nationalstaaten, in allen EU-Mitgliedsländern und der Institutionen der EU. Die nationalen Regierungen in Europa und die EU standen Anfang Februar vor der Entscheidung: Wollen sie die Menschen in Italien und anderswo retten oder ziehen sie es vor, die Profite der Unternehmen zu garantieren und geopolitischen Interessen zu verfolgen. Sie haben sich so entschieden, wie das in einer kapitalistischen Gesellschaft naheliegend ist. Die Profite gehen vor. Das Resultat entfaltet sich nun. Sie und die ganzen Gesellschaften, wir alle, waren bislang überwiegend Getriebene einer Eigendynamik, deren Ausgang nicht absehbar ist.

Die Ereignisse in Europa überschlagen sich. Von Mitte bis Ende März erließen die Regierungen zunächst wöchentlich, dann täglich neue und zunehmend drastischere Verordnungen. Schulen und Universitäten, Läden, Kneipen, Sport- und Freizeiteinrichtungen werden wochenlang geschlossen sein. Die Regierungen verlangen, dass die Menschen zu Hause bleiben. In Italien, Spanien, Frankreich gibt es weitgehende, in Österreich selektive Ausgangssperren und ab 1. April eine Maskenpflicht in Einkaufsläden; in Deutschland bestehen Ausgangsbeschränkungen und „Kontaktsperren“; in vielen anderen Ländern sind unterschiedlich weitreichende Ausgangsbeschränkungen in Kraft. Wie lange diese Einschränkungen aufrecht bleiben, kann niemand sagen. Inwiefern sich als Resultat dieser zusätzlichen Maßnahmen die Ausbreitung des Virus verlangsamt, wird erst Mitte oder Ende April erkennbar sein.

Ohne dass wir Einzelheiten bewerten können, so scheinen diese Maßnahmen als Ensemble zur Sicherstellung der Gesundheit der Menschen erstens richtig, aber einseitig und ungenügend zu sein. Zweitens ist jedoch zu konstatieren, dass sie rund zwei Wochen zu spät eingeführt wurden und meist von krass widersprüchlichen Stop-and-Go-Signalen begleitet waren und sind. Drittens schließlich gibt der von oben durchgesetzte Stillstand des öffentlichen und kommunikativen reproduktiven Lebens jenseits der Berufstätigkeit einen Vorgeschmack auf mögliche autoritäre Versuchungen bei anderen Krisen.

In etwas mehr als fünf Wochen vom 22. Februar bis zum 31. März sind in Italien offiziell mehr als 12 428 Menschen an der Covid-10 Erkrankung gestorben. Mehr als die Hälfte davon alleine vom 23. bis 31. März. Auch in Spanien nimmt das Massensterben seinen Lauf und hat bis zum 31. März 8 464 Menschenleben gefordert. Am 28. März kündigte Ministerpräsident Sanchez sogar einen kompletten Stillstand aller nicht essentiellen Bereiche der Wirtschaft bis zum 9. April an.1 In den letzten Märztagen erleben wir eine starke Zunahme der Todesfälle in Frankreich, Deutschland, in der Schweiz und in anderen Ländern. Einige urbane Großräume in den USA, ganz besonders New York und New Orleans, haben sich zu neuen Epizentren der Pandemie entwickelt. Möglicherweise werden die USA bald mehr Sterbefälle verzeichnen als die stark betroffenen Länder in Europa. In den Megacities und Slum-Cities im globalen Süden kann sich menschliches Desaster ungeahnten Ausmaßes vollziehen, sofern es nicht gelingt, global solidarisch zu handeln und die Pandemie einzudämmen.

Viele Menschen erhalten den Eindruck, dass die meisten Regierungen die Kontrolle über die Dynamik verlieren. Das wird sich nachhaltig in das Bewusstsein eingraben. Diejenigen Regierungen, die es schaffen, das Leid zu begrenzen, werden nach der unmittelbaren Krise einen großen Spielraum für ihre unsoziale und autoritäre Politik und vor allem für die Bearbeitung der sich anbahnenden Wirtschaftskrise erhalten.

Die Corona-Pandemie und ihre Folgen werden die öffentlichen und politischen Debatten für lange Zeit bestimmen. Das bedeutet auch, dass die im vergangenen Jahr in den Fokus der Auseinandersetzungen gerückte Klimakrise ihre notwendige Aufmerksamkeit verlieren und der entscheidende Druck auf Politik und Wirtschaft ausbleiben wird. Auch wenn die das Klima schädigenden Emissionen durch die neue Wirtschaftskrise – wie dies bereits 2008/2010 der Fall war – rückläufig sein werden, so schreitet die Klimakatastrophe doch weiter voran – ungeachtet dessen, ob wir aufmerksam hinblicken oder mit anderen Krisen beschäftigt sind. Es gibt auch die Tendenz, dass die Maßnahmen, die die Regierungen im Kampf gegen die Krise ergreifen, binnen weniger Jahre zu einem neuen Hochlauf der klimaschädigenden Emissionen beitragen werden – siehe die massiven neuen staatlichen Hilfen für die US-Airlines, für Boeing, die vergleichbare Unterstützung, die in Deutschland und Frankreich für die Lufthansa, für Air France-KLM und für Airbus im Gespräch sind. Es ist Aufgabe emanzipatorischer Kräfte, die Zusammenhänge zwischen diesen unterschiedlichen Krisen deutlich zu machen, ihren gemeinsamen Nenner zu betonen und in programmatischen Vorschlägen zusammenzudenken. Die Corona-Krise weist einige Ähnlichkeiten mit der anziehenden Klimakatastrophe auf. In beiden Fällen hindert die Logik der Akkumulation, der Profimaximierung unter Konkurrenzbedingungen, die Regierungen daran, eine Gefahr abzuwenden. Sie handeln nicht angemessen, obwohl es zahlreiche Warnungen gab und weiterhin gibt, obwohl es technisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich möglich wäre, bewusst zu handeln und der Gefahr entgegenzutreten. Bei beiden Herausforderungen schwanken die Regierungen zwischen Verweigerung, Ignoranz und ungenügendem, bisweilen chaotischem Handeln. Das ist Ausdruck einer Politik, die sich in erster Linie an den Zwängen des Kapitals und nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Die Klimagefahr ist noch umfassender, globaler und ernster. Im Unterschied zu den aus der Erderhitzung erwachsenden Katastrophen vollzieht sich die Katastrophe der Corona-Pandemie zeitlich und räumlich extrem verdichtet. Interessanterweise hob der liberale Ökonom Paul Krugman hervor, dass es deutliche Parallelen zwischen den Klimaleugnern und den gibt, die die Corona-Epidemie bagatellisieren.2

Die Corona Krise ist eine Warnung: Das kapitalistische System wird weitere Krisen hervorrufen. Die Weltwirtschaft rutscht rasant in eine tiefe Krise. Die Umverteilungskonflikte und geopolitischen Rivalitäten werden sich zuspitzen. Rosa Luxemburg warnte 1916 während des Ersten Weltkriegs eindringlich vor der Barbarei, wenn es nicht gelänge einen sozialistischen Umbruch herbeizuführen.3 Heute stehen wir weltweit abermals vor dem Abgleiten in die Barbarei, wenn es nicht gelingt eine ökosozialistische Alternative zu verwirklichen.

Umso dringender ist es, Perspektiven zu entwickeln, die an den bestehenden Zuständen ansetzen, den Dingen auf den Grund gehen und zugleich die breite Masse der Bevölkerung ansprechen. Deshalb schlagen wir eine ökosozialistische Umbauperspektive in Europa vor, die solidarische Beziehungen mit den anderen Regionen der Welt mit einschließt.

Wir zeigen in diesem Beitrag das schwerwiegende Versagen der europäischen Regierungen4 und insbesondere der EU auf. Bewusste Entscheidungen, Fehleinschätzungen und Versäumnisse führten dazu, dass Europa zum Epizentrum der Corona-Pandemie wurde. Die Regierungen und die EU sind nicht in der Lage, die für die Gesundheit und das Wohl der Bevölkerung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Sie können das nicht, weil sie sich dem Primat der Kapitalakkumulation, der Wettbewerbsfähigkeit und den Privatisierungen unterwerfen. Anstatt die erforderlichen Einschnitte in alle Sektoren der Wirtschaft vorzunehmen, die für die gesellschaftliche Versorgung nicht notwendig sind, ziehen sie es vor, eine unbestimmte Anzahl Menschen sterben zu lassen. Auf der Grundlage dieser Diagnose stellen wir in diesem Beitrag drei Thesen zur Diskussion.

Erstens. Die Coronakrise wird ein historisches Ausmaß globaler Reichweite annehmen. Die Gewissheiten, die unsere Gesellschaften seit 1945 kennen, werden der Vergangenheit angehören. Die anrollende Wirtschaftskrise wird brutale Verteilungskämpfe mit sich bringen und große geopolitische Verschiebungen begünstigen. Die Gesundheitskrise und die Wirtschaftskrise entwickeln sich im Kontext der sich rasch verschärfenden globalen Klimakrise. Das Zusammentreffen dieser Krisenprozesse wird zu überraschenden Brüchen, Einschnitten und Zusammenbrüchen führen. Die Herrschenden wurden von der raschen Ausbreitung der Pandemie überrascht, haben die Herausforderung unterschätzt und schließlich unter dem Druck der Menschen und Behörden in den betroffenen Regionen ungenügende und einseitige Maßnahmen ergriffen. Die allgemeine Ungewissheit über die weitere Entwicklung hat die politischen Situation geöffnet. Gelingt es den VertreterInnen der Kapitalinteressen rasch ihre Strategien zu entwickeln und durchzusetzen, können sie das Kräfteverhältnis langfristig zu ihren Gunsten verändern. Doch die Verunsicherung der Herrschenden bietet auch Chancen für die verstärkte Herausbildung solidarischer Verhaltensweisen, die Entwicklung neues Widerstandspotentiale, die Ausarbeitung antikapitalistischer Strategien und schließlich die Durchsetzung radikaler sozial-ökologischer Reformen. In Kapitel Die kapitalistische Ökonomie umgestalten durch Konversionen – das Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen und ökosozialistische Perspektiven zur Sicherstellung unserer Gesundheit und unseres Lebens stellen wir die Umrisse eines solidarischen und ökologischen Programms zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und für weitergehende Strukturreformen vor.

Zweitens trifft diese Krise auf politisch und organisatorisch komplett unvorbereitete emanzipatorische Bewegungen. Noch bis Mitte März haben viele kritische Zeitgenoss*innen die Corona-Krise ignoriert, verharmlost, sich lustig über besorgte Menschen gemacht und haben die Maßnahmen der Regierungen nur unter dem Blickwinkel individueller Freiheitsrechte betrachtet. Das sind unverzeihliche Fehler. Notwendig ist jetzt – wenn auch unter den derzeit erschwerten Kommunikationsbedingungen – die rasche Aufnahme einer Diskussion über eine umfassende ökosozialistische Perspektive aufzunehmen und die Vorbereitung konkreter organisatorischer Projekte. Die Gesundheit und das Wohl der Bevölkerung muss jetzt gerade für eine Linke, die sich traditionell und zu Recht auf den Humanismus beruft und „das Menschenrecht erkämpft“, oberste gesellschaftliche Priorität sein. Wobei hier zu betonen ist: Zu den demokratischen und sozialen Grundrechten gehört das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Gesundheit. Zugleich gilt es bereits jetzt über die akute Gesundheitskrise hinauszudenken und sich für die folgenden ökonomischen wie politischen Verwerfungen vorzubereiten. Eine solidarische Praxis der Selbstorganisation eröffnet die Möglichkeit, Prozesse und starke Bewegungen zur gesellschaftlichen Aneignung wesentlicher Bereiche der gesellschaftlichen Produktion und Infrastruktur zu initiieren.

Drittens argumentieren wir, dass die Pandemie und vor allem die Maßnahmen der Regierungen die Mitglieder der Gesellschaft unterschiedlich treffen. Die Bekämpfung der Pandemie muss die Interessen der breiten Masse der Lohnabhängigen und der Frauen in den Mittelpunkt rücken. Wir widersetzen uns allen Strategien, die die Pandemie auf Kosten von Teilen der Bevölkerung aussitzen, die Einschränkungen für die Wirtschaft aufheben und möglichst rasch wieder zum „Normalzustand“ zurückkehren wollen. Wir wollen aber auch den bisherigen Normalzustand nicht mehr. Wir brauchen keinen nationalen Schulterschluss mit den Regierenden und Herrschenden, der es ihnen nur leichter machen wird, die Kosten der Krise den Lohnabhängigen, den Prekären und Frauen aufzubürden. Wir wollen keine Konjunkturpakete für die Automobil-, Luftfahrt und Rüstungsindustrie, sondern die sozial-ökologische Konversion dieser Industrien. Anstatt einer unsolidarischen und kaum realisierbaren Wegsperrung der Alten das Wort zu reden, plädieren wir vielmehr für eine solidarische Bekämpfung der Pandemie, die konsequent das Leben vor den Profit stellt. Auch die in den Betrieben arbeitenden Menschen müssen geschützt werden und müssen sich selber schützen können. Wenn das nicht möglich ist, sind gesellschaftlich nicht erforderliche Wirtschaftszweige kontrolliert runterzufahren. Die Corona-Pandemie ist global und trifft die Menschen dennoch ungleich. Nur eine europäische und global solidarische Bekämpfung der Pandemie ist angemessen. Das erfordert eine programmatische Verständigung und Vorbereitung auf die kommenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.

Mit dem vorliegenden Text wollen wir mit Menschen in sozialen Bewegungen, Gewerkschafter*innen, mit Beschäftigten im Gesundheitswesen und allen, die nach Alternativen jenseits des Kapitalismus suchen, in Diskussion treten. Wir wollen über die Entstehung und den Ablauf dieser Krise informieren. Dazu analysieren wir im zweiten Abschnitt den Verlauf der Ausbreitung der Infektionen in den deutschsprachigen Ländern und vergleichen diese mit dem Verlauf in China und Italien. Damit zeigen wir, dass es – nach anfänglichen Prozessen des Vertuschens und Zögerns – in der Gesamtbilanz das entschlossene Handeln in China war, das die Epidemie eingedämmt hat. Wir sind uns dabei bewusst, dass das Vorgehen der chinesischen Führung – sowie deren Politik seit der Niederschlagung der Demokratie-Bewegung 1989 insgesamt – einen durch und durch autoritären Charakter hatte. Und wir sind überzeugt, dass vergleichbare und bessere Ergebnisse in einer demokratischen Gesellschaft erzielt werden können.

Auch in Europa wäre eine vergleichbare erfolgreiche Bekämpfung der Epidemie möglich gewesen. Ja, hier gab es den unendlichen Vorteil eines Wissensvorsprungs von mehr als einem Monat. Dieser wurde bekanntlich nicht genutzt. Anschließend analysieren und kritisieren wir im dritten Abschnitt die Politik der Regierungen in Europa und der Europäischen Union. Im vierten Abschnitt blicken wir auf die anrollende globale Wirtschaftskrise und werfen einige Fragen für den solidarischen Widerstand auf. Schließlich stellen wir im fünften Abschnitt ein konsequentes Programm zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus vor und schlagen damit auch eine Brücke zu unserer weitergehenden ökosozialistischen Perspektive, die konkrete Schritte für die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise vorsieht.

2 Wie es zur Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus kam

Als sich das Coronavirus SARS-CoV-2 in Norditalien Anfang Februar zunehmend schneller ausbreitete und die Katastrophe einleitete, dachte nördlich der Alpen auch in linken Organisationen und in sozialen Bewegungen noch kaum jemand daran, von den Erfahrungen in China und Südkorea zu lernen. Sogar bis Mitte März gab es in Deutschland Stimmen, darunter auch Mediziner*innen, die die Entwicklung massiv verharmlosten oder gar als Panikmache abtaten. Viele kritische Menschen nehmen die Coronakrise in erster Linie unter dem Blickwinkel autoritärer Maßnahmen wahr. Erst langsam, einsetzend mit den zunehmend drastischen Berichten aus Norditalien und Spanien, veränderte sich die Wahrnehmung. Es gilt, die Phänomene zu erkennen, sachlich zu analysieren, sie in politischen Verhältnissen und ihrer gesellschaftlichen Dimension zu denken. Lernt die Linke nicht mit dieser Situation umzugehen, wird sie sich komplett neben die Entwicklung stellen. Bevor wir einen Überblick über die politischen Veränderungen anstellen, halten wir einige zentrale Sachverhalte über die Ausbreitung des Coronavirus fest.

2.1 Warum die COVID-19 Pandemie derart umfassende Auswirkungen hat

Das Coronavirus SARS-CoV-2 war bis zum Ausbruch Ende 2019 in der VR China unbekannt. Mit seiner globalen Ausbreitung als COVID-19-Pandemie erweitert sich die Datenbasis rasch5. Häufig wird mit dem Hinweis einer scheinbar nur geringen Letalität von unter 1% die Gefahr durch Corona heruntergespielt. Entscheidend ist jedoch die bisher in der Bevölkerung nicht vorhandene Immunität gegenüber dem beim Menschen neu aufgetretenen Virus. Das heißt niemand trägt Antikörper in sich, und somit kann sich jede Person potentiell anstecken. Dies ist ein entscheidender Unterschied zur saisonal auftretenden Grippe und führt zu einer viel höheren Anzahl möglicher gleichzeitig erkrankter Personen. Laut Epidemiolog*innen müssen 60-70% der Bevölkerung eine Infektion durchgemacht haben, bevor sich deren Ausbreitungsgeschwindigkeit deutlich abbremst.

Bis dahin ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit ein wesentlicher Faktor. Die Entwicklung verläuft exponentiell, das heißt in jeweils gleichen Zeitabschnitten verdoppelt sich die Anzahl der Infektionen. Bei derzeitiger Datenlage wird angenommen, dass die Verdoppelungsrate bei rund 3-4 Tagen liegt. Mitte März betrug die Verdoppelungsrate in vielen Ländern Europas rund 2,5 Tage. Das Virus verbreitet sich extrem schnell. Die Maßnahmen der Regierungen trugen dazu bei, die Verdoppelungsrate deutlich zu verlängern.

Die österreichische Regierung geht nach Medienberichten davon aus, dass bei drei bis elf Prozent der erkannten Fälle ein Krankenhausaufenthalt nötig wird.6 Zu berücksichtigen gilt, dass sehr viele milde Verlaufsfälle nicht erfasst werden. Diese Untererfassung wird von bisherigen beschränkten Studien sehr unterschiedlich angegeben. Die Dunkelziffer tatsächlicher Infektionen (meist symptomloser oder milder Verläufe) kann womöglich um das 4,5–11-fache höher liegen als die Zahl der nachgewiesenen Fälle. Diese Zahl kann von Land zu Land sehr verschieden sein – je nachdem ob und unter welchen Voraussetzungen Tests durchgeführt werden. So wurden besonders in Großbritannien und in den USA bis zur dritten Märzwoche sehr wenige Tests durchgeführt. Das heißt, in diesen Ländern ist die Dunkelziffer sehr hoch. Hingegen ließen die Behörden in der chinesischen Provinz Hubei, in Singapur, Hongkong oder auch gewissen Regionen Südkoreas ausgesprochen umfangreich bis nahezu lückenlos testen. Beispielhaft wurde in Singapur bereits nach den ersten Fällen flächendeckend ein Fiebermessen zweimal täglich durchgesetzt und bei Erhöhung der Temperatur sofort auf SARS-CoV-2 getestet.

Aufgrund dieser hohen Dunkelziffer lässt sich die Letalität des Virus nicht verlässlich beziffern. Unter den identifizierten Fällen könnte der Anteil an Verstorbenen (Fall-Verstorbenen-Anteil) zwischen 0,5% und 1% liegen. Die Datenlage scheint jedoch noch nicht sehr tragfähig zu sein. Jedenfalls nimmt das Risiko eines schweren oder gar tödlichen Verlaufs stark mit dem Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu.

Der aktuelle Fall-Verstorbenen-Anteil variiert zwischen den europäischen Ländern stark. Mehrere Gründe müssen hierfür genannt werden. Zum einen gilt es die Erhebung der Infektionsfälle anzusehen. Die Testverfahren sind in den Ländern sehr verschieden gestaltet. Sie unterscheiden sich mitunter in Hinblick auf Umfang, Zugänglichkeit, Kostenübernahme. Manche Länder, Regionen oder Städte haben aufgrund mangelnder Kapazitäten bereits breite Tests ausgesetzt. Zum anderen muss die Erhebung der Todesfälle betrachtet werden. Einige Länder führen sogenannte post-mortem Tests durch (z.B. Italien), andere nicht (z.B. Deutschland). Auch die Verlaufszeit der Erkrankung ist entscheidend. Todesfälle treten gehäuft nicht sofort zu Beginn auf, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Die demographische Zusammensetzung einer Bevölkerung ist ebenfalls ein Faktor, wie auch die Sozialstruktur. Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass die Luftverschmutzung die Lungen beeinträchtigt, was ältere Menschen anfälliger macht. Eine weitere Hypothese lautet, dass sich die Viren an Aerosole binden könnten. Fest steht, dass monokausale und einfache Antworten nicht weit führen.

Entscheidend kann zudem sein, wo die Ausbreitung in einem Land ihren Ausgang nimmt. Entstehen frühzeitig und womöglich unentdeckt Cluster in Urlaubsorten, Krankenhäusern, Altersheimen, Kirchen, Klubs, Kreuzfahrtschiffen oder sonstigen Einrichtungen, die von Risikogruppen stark frequentiert werden, kann die Anzahl der Verstorbenen schnell und stark steigen. Im Gegensatz wird eine Verbreitung über Après-Ski-Bars, Ärztekongresse oder Karnevalsfeiern zu Beginn eher jüngere Menschen treffen. Beispielhaft zeigte die Altersverteilung der Mitte März bestätigten Fälle (Stand 16.3) in Österreich, dass die Erkrankten durchschnittlich relativ jung waren. Von 1060 erfassten Infektionen, waren nur 130 Betroffene laut Gesundheitsministerium älter als 64, weitere 134 zwischen 55 und 64 Jahre, alle anderen jünger. Das mag miterklärend für zum selben Tag erst drei gemeldeten Verstorbenen sein.

Es ist zu erwarten, dass sich der Fall-Verstorbenen-Anteil mit fortschreitender Ausbreitung zwischen den Ländern angleichen wird. Gelingt es besonders sensible Bevölkerungsgruppen zu schützen und eine Überlastung der intensivmedizinischen Kapazitäten zu vermeiden, lässt sich die Zahl der Verstorbenen und damit auch dieses Verhältnis jedoch positiv beeinflussen. Bedacht werden muss, dass die Erhebung und Veröffentlichung von Daten von politischen Interessen gelenkt sein können. Eine europaweit einheitliche Erfassung wäre jedenfalls sinnvoll. Insbesondere für Deutschland ist zu kritisieren, dass die Anzahl an durchgeführten Tests nicht regelmäßig veröffentlicht wird. Auch erscheint kritisch, dass die Zahlen, die das Robert Koch-Institut nennt, durchgehend als die offiziellen, amtlichen, angeführt werden. Die Daten über die Anzahl der getesteten Infizierten und der Todesfälle, die die Johns Hopkins University in den USA publiziert sind aktueller und liegen deutlich über denen des Robert Koch-Instituts.

Aus diesen Zahlen ergeben sich zwei große Gefahren: Obgleich die Sterblichkeit nicht so hoch wie bei anderen Viruserkrankungen sein mag, entspricht angesichts der zu erwartenden hohen Infektionszahlen auch ein geringer Zehntelprozentanteil einer enorm hohen Anzahl an Menschen, die aufgrund der Virusinfektion sterben werden. Angenommen in Österreich und Deutschland infiziert sich in den kommenden Monaten die Hälfte der Bevölkerung, so könnte dies im schlimmsten Fall rein rechnerisch bei der derzeitig beschränkten Datenlage bis zu 35.000 Todesfälle in Österreich beziehungsweise 330.000 in Deutschland in kürzester Zeit bedeuten. Auch wenn die tatsächliche Letalität voraussichtlich deutlich niedriger sein wird als derzeit angenommen (aufgrund obig geschilderter Untererfassung), wird die Zahl erschreckend hoch sein.

Der Verlauf schwerer Fälle wird zugleich maßgeblich davon bestimmt werden, wie gut gerüstet das entsprechende Gesundheitssystem ist. Insbesondere der Anteil an vorhandenen Intensivbetten inklusive Beatmungsmöglichkeit ist ausschlaggebend. Bereits einfache Rechenbeispiele machen deutlich, dass selbst in den gemeinhin überdurchschnittlich gut ausgestatteten deutschsprachigen Ländern die Kapazitätsgrenze schnell erreicht sein wird (vgl. Abbildung 1 und Tabelle 1). Schlagzeilen wie „Italienische Verhältnisse können wir händeln” in der FAZ7 sind Ausdruck blinder Überheblichkeit. Beispielsweise sind die Krankenhäuser im wohlhabenden Straßburg und im Kanton Tessin in der reichen Schweiz bereits um den 16. März an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangt.8 Entscheidend ist zudem: ist das Gesundheitssystem erst einmal überlastet, sterben Menschen auch aufgrund anderer Erkrankungen oder Notfälle, die nicht mehr ausreichend oder früh- bzw. rechtzeitig behandelt werden können.

Folgendes Rechenbeispiel bezieht sich auf Österreich, trifft aber mit dem Faktor 10 hochgerechnet auch ziemlich gut die deutsche Realität: In Österreich gibt es rund 2.260 Intensivbetten, die im Jahresmittel sowie überregional berechnet eine Auslastung von 80% aufweisen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass „im Normalfall“ österreichweit rund 465 freie Intensivbetten vorhanden sind. Bereits hier wird sichtbar wie begrenzt die Kapazitäten angesichts einer Epidemie sind, die in kürzester Zeit rund 60% der Bevölkerung infizieren kann. Nehmen wir an, die Krankenhäuser können sich ausgesprochen gut und rechtzeitig wappnen und schaffen es einerseits durch Aufschieben nicht-akuter Operationen, sowie massiver Personalaufstockung die Anzahl der Intensivbetten (mit Beatmungsgeräten) zu vervierfachen (ob dies möglich ist, bleibt fraglich). Dann würde die maximale Kapazität 1850 Intensivbetten österreichweit betragen. Dazu wurde unterstellt, die durchschnittliche Belegdauer je Patient*in betrage je eine Woche (eine eher optimistische Annahme, Studien aus China geben 10 Tage, die WHO gar 3-6 Wochen an).

Abbildung 1: Akutkrankenhausbetten auf 100 000 Einwohner*innen

Alle Länder Europas erlebten seit den späten 1980er Jahren einen drastischen Rückgang der Krankenhausbetten auf 100 000 Einwohner*innen. Das ist ein Ergebnis der neoliberalen und neokonservativen Gegenreformen. Die Gesundheitsinfrastruktur erfuhr in vielerlei Hinsicht einen regelrechten Aderlass. Wir zeigen hier nur eine Auswahl der Länder, auf die wir uns im Text beziehen.

Quelle: WHO Europe, European Health Information Gateway

https://gateway.euro.who.int/en/indicators/hfa_478-5060-acute-care-hospital-beds-per-100-000/

Tabelle 1: Intensivbetten je 100 000 Einwohner*innen

Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur vermittelt ein unübersichtliches Bild. Die Definitionen und Erhebungsmethoden von intensiven Pflegeeinheiten (ICU) unterscheiden sich von Land zu Land. Die USA weisen eine vergleichsweise gute Ausstattung auf. Es lässt sich nicht sagen, ob diese beispielsweise dem Standard in der Schweiz entspricht, die überraschend schlecht ausgestattet zu sein scheint. Ungeachtet dieser technischen Fragen, ist in jedem Land entscheidend, wer aufgrund der Versicherungsausstattung und finanziellen Möglichkeiten überhaupt die Chance bekommt, sich auf einer Intensivstation pflegen zu lassen. Vergleiche bieten somit nur eine Annäherung an die reale Situation. Im Sinne eines ersten Überblicks begnügen wir uns mit einer gut dokumentierten Tabelle in Wikipedia.

Quelle: Wikipedia <https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_hospital_beds>

Vor dem Hintergrund der Bettenkapazität müssen wir uns den Anstieg der Fallzahlen ansehen. Zeitweise betrug die Verdoppelungsrate der getesteten Infizierten drei Tage. Dann hätte Österreich bereits Ende März bis Anfang April wöchentlich mehr schwere, intensivmedizinisch zu betreuende Erkrankungsfälle erreicht als entsprechende Betten vorhanden sind. Mit den durchgeführten Maßnahmen gelang es die Verdoppelungsrate bis Ende März auf rund sieben Tage zu verlängern. Wenn es nicht gelingt, die Verdoppelungsrate weiter zu verlangsamen, würden die intensivmedizinischen Kapazitäten erstmals gegen Ende April überlastet. Ein Höhepunkt mit rund einer Million Infizierter könnte etwa Anfang Juni erreicht werden.9 Aufgrund der hohen Dunkelziffer, die derzeit von Epidemiolog*innen mit Faktor 4,5 -11 berechnet wird, könnte dann die Anzahl der Neuinfektionen zu sinken beginnen, da die zunehmende Immunität in der Bevölkerung die Ausbreitung abbremst. In beiden Szenarien würden aufgrund der absoluten Überlastung des Gesundheitswesens viele Tausende schwer erkrankte Patient*innen keine angemessene intensivmedizinische Behandlung mehr erhalten können. Was dies bedeutet, möchten wir uns an dieser Stelle nicht ausmalen. Diese Zahlen sind jedenfalls absolut alarmierend.


Was die Basisreproduktionszahl R0 bedeutet

Die relevante Größe für die Ausbreitung eines Virus ist die Basisreproduktionszahl R0. Dieser Wert gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person am dem Beginn einer Epidemie im Durchschnitt ansteckt, bevor sie entweder wieder genesen oder aber verstorben ist. In die Berechnung von R0 fließen mehrere Faktoren ein, darunter die Kontagiosität, Populationsdichte und Durchmischung der Bevölkerung. Für Covid-19 berechnen eine Vielzahl bisheriger Studien einen Wert zwischen 2 und 3,3.10

Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie, wie beispielsweise Ausgangsbeschränkungen, können diesen Wert senken (man spricht hier dann von der Nettoreproduktionszahl R). Beträgt R0 zwei, so steckt jede*r Infizierte im Schnitt zwei weitere Personen an. Aus einer infizierten Person werden also 2, dann 4, dann 8, dann 16, usw. Angenommen dies geschieht im Abstand von nur jeweils einem Tag, gäbe es nach etwas mehr als zwei Wochen 100 000 Infizierte. Erst mit zunehmender Immunität in der Bevölkerung (also je mehr Leute die Krankheit bereits durchgemacht haben und nun immun sind) schwächt sich dieses Wachstum ab. Zum Stillstand kommt das Wachstum erst, wenn Herdenimmunität erreicht ist (bei R0 2-3 müssten 50-66% der Bevölkerung immun sein). In einigen asiatischen Ländern ist es gelungen R mittels Maßnahmen auf einen Wert unter 1 zu drücken, wodurch die Ausbreitung zum Erliegen kommen kann.

Häufig wird jedoch als eingängigerer Wert die Verdoppelungszahl angegeben, also jene Anzahl an Tagen innerhalb derer sich die Anzahl an infizierten Personen verdoppelt. Diese Zahl lässt sich aus der aktuellen Reproduktionszahl ableiten, in welche – wie oben gezeigt – eine Vielzahl an Faktoren und empirischer Werte einfließen. Vielfach wird (insbesondere in den Medien) jedoch schlicht berechnet in welchem Zeitabstand sich die nachgewiesenen, also positiv getesteten, Infektionen in einer Region verdoppeln. Diese Berechnung kann unterschiedlich ausfallen (z. B. je nachdem ob die Zahl eines einzelnen Tages oder ein über gewisse Tage hinweg gemittelter Wert verwendet wird). Zudem kann dieser Wert, insbesondere zu Beginn einer Pandemie, auch davon beeinflusst sein, wie sich das Testwesen in einem Land entwickelt. So geben die aktuellen dramatischen Anstiege der positiv getesteten Infizierten in den USA wohl vorrangig ein Bild davon ab, dass nach langem politischem Versagen, nun endlich umfangreich getestet wird. Gleichzeitig breitete sich das Virus zuvor vermutlich bereits viel schneller aus, auch wenn dies aufgrund mangelnder Tests nicht abgebildet wurde. Die tatsächliche Ausbreitung der Infektion in der Bevölkerung vollzieht sich unabhängig davon, ob viel oder wenig getestet wird.

Fiktiv weitergedacht, würde erst ab einer Verlangsamung der Verdoppelungsrate auf 14 Tage der Höhepunkt in den Sommer geschoben und wertvolle Reaktionszeit gewonnen werden. Doch auch hier würde die Kapazität des Gesundheitssystems aufgrund des exponentiellen Charakters der Ausbreitung zu stark beansprucht werden. Ob eine Abschwächung des Virus beispielsweise aufgrund der wärmeren Temperaturen zu erwarten sein wird, ist derzeit zweifelhaft, aber nicht ausgeschlossen.

Tatsächlich scheint eine Verdoppelungsrate von 14 Tagen ohnehin nur möglich unter Setzung ausgesprochen einschneidender Maßnahmen, die letztlich zur gänzlichen Abbremsung der Ausbreitung führen könnten (siehe China). Die Maßnahmen müssten allerdings neben Ausgangsbeschränkungen für die gesamte Bevölkerung auch die weitgehende Stilllegung des Wirtschaftslebens einschließlich Industrie, Personenverkehr und nicht erforderlicher Dienstleistungen umfassen.

Die Abschätzungen bleiben vorerst ungenau. Dennoch vermitteln sie eine Grundlage, um die Tragweite der Situation zu erfassen und auch dramatische Einschätzungen und Konsequenzen in unseren Köpfen nicht als bloße Weltuntergangsszenarien und Panikmache zu verbuchen. So wie die Menschheit weit in der Zukunft liegende Gefahren schlecht erfassen kann (wir denken an die drohende Klimakatastrophe), so tut sie sich schwer damit, exponentielle Prozesse als wahrscheinlich einzustufen.

Nun ist anzunehmen, dass den europäischen Regierungen deutlich ausgefeiltere und akkuratere Modellrechnungen für ihre jeweiligen Länder zur Verfügung stehen, und dass in diesen, trotz unterschiedlicher Voraussetzungen in den Ländern, ähnliche Konsequenzen skizziert werden. Dennoch lassen sich in der Reaktion deutliche Unterschiede festmachen. Bevor wir die Politik einiger Regierungen in Europa und der EU einer Kritik unterziehen (dazu mehr in Abschnitt Sehenden Auges in das herbeigeführte gesellschaftliche Desaster), stellen wir hier kurz die Strategie der chinesischen Behörden in der Stadt Wuhan und der Provinz Hubei vor. Das ist wichtig, um die Dimensionen der Herausforderung zu erfassen.


2.2 Was in Hubei geschah

In China beschlossen die Regierung und die Behörden am 23. Januar 2020 den totalen Lockdown der Stadt Wuhan mit 11 Millionen Einwohner*innen und innerhalb kürzester Zeit der gesamten Region Hubei, die mit knapp 60 Millionen ähnlich groß ist wie Italien oder Frankreich. Zu diesem Zeitpunkt wurden um die 400 Neuinfektionen an einem Tag festgestellt. Allerdings war die Dunkelziffer zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich höher – eine Tatsache, die jedoch für alle Länder gilt. Zum Vergleich: Italien überschritt diese Zahl von 400 gemessenen Neuinfektionen am 3. März. Deutschland, Frankreich und die Schweiz übertrafen diesen Wert zwischen dem 11. und 14. März (Abbildung 2). Am 19.3 wies Italien bereits 5322, Deutschland (je nach Quelle) 2801- 5781, Spanien 3308 und Frankreich 1358 Neuinfektionen auf. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie „zurückhaltender“ – und wohl auch: wie ungenügend und unangemessen – die Regierungen dieser Länder seit Beginn der Infektionswelle reagieren.

Abbildung 2: Ausbreitung und Eindämmung der Ausbreitung der SARS-CoV-2 Virus und der Convid-19 Erkrankungen in China.

Die Abbildung zeigt deutlich, dass es gelungen ist, die Ausbreitung des Virus ab dem 4. Februar (Linie), rund zwei Wochen später die Erkrankungen ebenfalls und schließlich die Todesfälle zu reduzieren.

Quelle: Wikipedia https://en.wikipedia.org/wiki/2019%E2%80%9320_coronavirus_pandemic_in_mainland_China#/media/File:2020_coronavirus_patients_in_China.svg CC BY-SA 4.0

Der Lockdown beinhaltete die komplette Abschottung der Stadt Wuhan sowie nachfolgend der Region Hubei. Sämtliche Verbindungen per Bahn, Bus oder Flugzeug wurden gekappt, auch mit dem Auto durfte niemand mehr ein- oder ausreisen. Innerhalb von Wuhan wurde eine Ausgangssperre verhängt. Die Menschen durften ihre Wohnung nur mehr verlassen, um nötige Lebensmittel zu besorgen oder in medizinischen Notfällen. Auch der individuelle Autoverkehr sowie der Nahverkehr wurden unterbunden, und damit die Mobilität der Menschen sehr engräumig begrenzt. Schulen, Geschäfte, Gastronomie, Parks, Öffentliche Plätze wurden geschlossen. Auch der eigentliche Wirtschaftssektor -. Büros und Fabriken – wurde so gut wie komplett stillgelegt. Diese Maßnahmen wurden ausgesprochen restriktiv – und, wie in einer Reihe von im Internet dokumentierten Protesten beschrieben: autoritär – überwacht: teils digital über Handyüberwachung, teils mittels Sicherheitsdiensten, die Straßen und Nachbarschaften sicherten. Diese massive soziale Abschottung war zwar ein wesentlicher Faktor bei der Eindämmung des Virus in der Provinz Hubei, jedoch – so ist sich eine Expert*innenkommission der WHO in der aktuellen Beurteilung einig – war sie nur erfolgreich aufgrund zahlreicher Begleitmaßnahmen. So wurde weiterhin und beinah lückenlos getestet: Freiwillige Helfer*innen gingen von Tür zu Tür und haben kategorisch die Bevölkerung nach ihrem Gesundheitszustand befragt, Fieber gemessen und vielfach Tests durchgeführt. Erkrankte Personen wurden augenblicklich in Quarantäne-Einrichtungen, die massenhaft in Sportstätten, Messehallen etc. eingerichtet wurden oder sogar in 16 neue, in nur zwei Wochen errichtete Krankenhäuser verlegt und isoliert. Zudem waren 1800 Teams mit jeweils mindestens fünf Personen im Einsatz um jeweils zehntausende Kontakte der Infizierten aufzuspüren und unter Quarantäne zu stellen und somit die Übertragungsketten einzudämmen.

Diese umfangreichen und harten Maßnahmen wurden bisher über rund acht Wochen hinweg durchgesetzt. Damit gelang es China relativ rasch, die Epidemie einzudämmen und die unkontrollierte Ausbreitung des Virus auf das weitere Land, insbesondere die Metropolen Schanghai, Beijing und das Pearl River Delta bei Guangzhou zu verhindern. Seit Mitte März kommen kaum mehr Neuinfektionen hinzu. Angesichts der positiven Entwicklungen erfolgte Ende März in der Region die Lockerung der Ausgangssperren und die schrittweise Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit. Jedoch droht einigen asiatischen Ländern eine zweite Infektionswelle – von außen. Nun ist es China, das sich vor dem Rest der Welt und insbesondere Europa in Acht nehmen muss und strikte Einreisekontrollen durchführen wird. Mehr als ein Dutzend Provinzen steckt nun ausländische Reisende in Quarantäne unabhängig von ihrem Gesundheitszustand. In der südkoreanischen Stadt Daegu führen die Behörden erneut Massentests durch. Taiwan schließt die Grenzen für fast alle Ausländer*innen und intensiviert die Quarantänemaßnahmen in den Städten.11 Das zeigt, dass die Erfolge erst vorläufig sind.

Wir weisen auf die Erfahrungen in Wuhan und Hubei hin, nicht, weil wir die autoritäre Politik der bürokratischen staatskapitalistischen Diktatur gutheißen, ganz im Gegenteil, wir stellen uns auf die Seite derjenigen, die für demokratische und soziale Rechte kämpfen. Wir wollen damit zeigen, dass entschlossenes, großräumig koordiniertes und geplantes Handeln wirksam sein kann und eine wichtige gesellschaftliche Dimension im Dienste der Menschen einnimmt. Zu bedenken ist, dass die chinesischen Behörden ein umfangreiches Testprogramm initiierten und rasch die nicht unmittelbar erforderlichen Produktionsbereiche stilllegten. Die Versorgung wurde durch andere Regionen in China gewährleistet. Ein vergleichbares Vorgehen wäre innerhalb Europas nach dem Ausbruch der Epidemie in Italien vorstellbar gewesen (siehe unten). Vor allem sind wir davon überzeugt, dass ein vergleichbar erfolgreicher Kampf gegen die Epidemie mit vergleichbaren Maßnahmen auch in einer offenen, demokratischen Gesellschaft dann vollzogen werden kann, wenn die gewählten Repräsentanten moralisch integer sind, wenn diese – begleitet von kompetenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – klare Ansagen machen und wenn auf diese Weise die gesellschaftlichen Instinkte der Solidarität aktiviert werden. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass sich eine emanzipatorische und demokratische Orientierung mit gesamtgesellschaftlicher Planung verbinden muss. Dazu entwickeln wir in Abschnitt Die kapitalistische Ökonomie umgestalten durch Konversionen – das Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen und ökosozialistische Perspektiven zur Sicherstellung unserer Gesundheit und unseres Lebens erste Vorschläge.

3 Sehenden Auges in das herbeigeführte gesellschaftliche Desaster

3.1 Prioritäten gesetzt: Aufrechterhaltung der Wirtschaft und der Profiterzielung

Die Ausbreitung des Coronavirus offenbart den totalen politischen und moralischen Bankrott der neoliberalen Gesundheitspolitik, wie sie in allen Ländern, zwar mit Unterschieden, jedoch ungeachtet der jeweiligen Regierungskonstellation, vollzogen wird und wurde. Das zögerliche Krisenmanagement in nahezu allen Ländern Europas und vor allem der Europäischen Union führte dazu, dass Europa zum Zentrum der Pandemie wurde. Bei Missachtung der Erfahrungen aus China und Südkorea und den Warnungen von vielen Expert*innen, nicht zuletzt der Ratschläge der WHO, ergriffen die Regierungen über mehrere Wochen hinweg keine wirksamen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus. Wertvolle Zeit – und zwar sechs bis acht Wochen! – verstrich. Jetzt drohen überstürzte, nicht sachgemäße und von Panik getriebene autoritäre Entscheidungen. Die Regierungen haben zu Beginn der Ausbreitung des Virus in Italien eine bewusste Wahl getroffen: die Aufrechterhaltung der Wirtschaft – also der Mehrwertproduktion und der Profiterzielung – steht vor dem Schutz der Bevölkerung. Diese Politik setzen sie bis heute fort, allerdings fragmentiert, unkoordiniert, bisweilen in Konkurrenz zueinander und chaotisch. Vielfach erst unter dem Druck der öffentlichen Meinung begannen sie, entschlossener zu handeln. Es war also der Druck aus der Bevölkerung und die sich dramatisch entfaltende Realität, die sie zum Handeln zwingen, nicht der Wille, einen autoritären Großversuch durchzuführen.

Die EU hat die Menschen in Italien alleine gelassen. Sie hätte Italien dazu drängen können, sofort zu Beginn der Virusausbreitung Anfang Februar das gesellschaftliche Leben und insbesondere die Wirtschaft in der Lombardei für rund einen Monat stillzulegen. Gleichzeitig hätte sie dem Land die Garantie geben können, für alle Ausfälle im Sinne einer Solidargemeinschaft aufzukommen. Die EU sandte nicht das geringste unterstützende Signal – und schon gar keine praktische Hilfe – aus. Chinas Vorgehen in Hubei, das mit 60 Millionen Einwohner*innen mit Italien vergleichbar ist, hätte eine wichtige Orientierung sein können. Mit entschlossenem Handeln wäre es möglich gewesen, die Ausbreitung des Virus in Italien frühzeitig massiv zu verlangsamen und letztlich sogar einzudämmen. Nun breitet sich in ganz Europa eine riesige und teilweise vorhersehbare Gesundheitskatastrophe aus. In ihrer Weigerung, von den Erfahrungen in China und in anderen asiatischen Ländern zu lernen – damit meinen wir nicht deren Methoden kopieren – spielte sicherlich auch eine eurozentristische Überheblichkeit eine Rolle. Vielfach nahmen die Regierungen, auch Expert*innen und Medienschaffende an, die europäischen und insbesondere die deutschsprachigen Länder seien den asiatischen Ländern oder auch den südeuropäischen überlegen und vor einer Krise gefeit.

Die Krise nimmt in vielen Ländern einen ähnlichen Verlauf wie in Italien, nur um rund 10 Tage verzögert. Doch obwohl die Regierungen und die Öffentlichkeit in Europa die zunehmend dramatischere Entwicklung in Norditalien verfolgen konnten, haben weder die Regierungen noch andere gesellschaftliche Kräfte angemessen reagiert.

Die Gewerkschaften haben nicht einmal ansatzweise die Dynamik erkannt. Viele linken Organisationen und die Aktivist*innen in sozialen Bewegungen sahen die Krise nur unter dem Gesichtspunkt der Einschränkung individueller Freiheitsrechte. Auch sie gingen vielfach davon aus, dass unsere reichen Länder mit ihrer vorzüglichen technischen Infrastruktur eine solche Herausforderung schon meistern würden. Einige tun das immer noch, womit sie sich ähnlich verhalten wie die sogenannten „Klimaleugner*innen“. Das ist Ausdruck einer völligen Verkennung der Ausbreitungsdynamik des Virus, der beschränkten Leistungsfähigkeit unserer Gesundheitsinfrastruktur sowie der ökonomischen und sozialen Konsequenzen, die diese Krise mit sich bringen wird.

Diese Katastrophe läutet eine Zeitenwende historischen Ausmaßes ein. Die Gesellschaften Europas erleben das erste Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 eine derartige Zäsur. Sie durchleben gerade einen unermesslichen Bruch aller bisherigen Gewissheiten.

Alle europäischen Regierungen stellen ihre Maßnahmen unter die Prämisse, die kapitalistische Produktion, also die gesamte Arbeitswelt und damit die Mehrwert- und Profiterzielung, möglichst gering einzuschränken und soweit es geht aufrechtzuerhalten. Die Regierungen konzentrieren sich in ihrer Eindämmungsstrategie auf die Bereiche der Reproduktion, der Zirkulation von Menschen und der Verhaltensweisen der Individuen (Hygiene, 1-2 Meter Abstand auf den Straßen usw.). Das ist eine politische Wahl und nicht Ergebnis einer epidemiologischen Abwägung. Wenn die Eindämmung der Ausbreitung der Krankheit das oberste Ziel wäre, müssten die Regierungen anders handeln und auch große Teile der gesellschaftlich nicht unmittelbar notwendigen Produktionsprozesse und Verkehrsinfrastruktur für eine gewisse Zeit stilllegen. Welchen Sinn ergibt in dieser Zeit der akuten Gesundheitskrise die Rüstungsproduktion? Welchen Sinn macht es, Werbung für unnötige Dinge zu konzipieren?12 Warum müssen in Turin, in Vitoria-Gasteiz, in München, in Wolfsburg weiter neue Autos produziert werden? (Die Autokonzerne fahren gerade ihre Produktion runter, allerdings, weil sie befürchten, ihre PKWs nicht mehr los zu werden.) Warum will der faktisch staatliche Konzern Airbus seine Fertigung Ende März wiederaufnehmen – um Flugzeuge zu fertigen, die auf Halde liegen, oder um Rüstungsgüter zu produzieren, deren Einsatz neue Flüchtlingswellen in Bewegung setzt? Warum müssen in Zürich weiterhin komplexe Finanzprodukte zur Spekulation konzipiert werden? Warum wollte man in Österreich so lange wider besseren Wissens die Skiorte mit Tourist*innen füllen und auf diese Weise in ganz Europa hunderte neue Fälle von Corona-Infizierten schaffen? Warum wurde in Schweden beschlossen oder zugelassen, dass in den Skigebieten die Lifts noch bis einschließlich den 5. April ohne Einschränkungen betrieben werden? Das hat mit dem Schutz der Menschen und der Gesellschaft nichts zu tun. Diese Priorität gilt alleine der Profiterzielung, ganz besonders in den exportorientierten Sektoren.

Weil die Regierungen nicht angemessen handeln, stiegen die Zahlen der Infizierten dramatisch an (Abbildung 4). Seit der ersten Märzwoche überschlagen sich die Ereignisse. Städte, Kantone, Provinzen und Bundesländer erließen in größter Eile ihre eigenen Bestimmungen, in der Hoffnung, sie könnten auf diese Weise die unmittelbaren Notlagen lindern. Zugleich häufen sich die Appelle von Wissenschafter*innen und Ärzt*innen, die sich selbst direkt per Youtube mit dramatischen Appellen an die Bevölkerung wenden, zu Hause zu bleiben und ihr Verhalten zu ändern. Doch diese individualisierten Appelle übersehen, dass der Zickzack der Verantwortlichen in den Regierungen dazu geführt hat, dass diese Appelle nicht ernst genommen werden. Vor allem wird grundsätzlich ignoriert, dass die meisten Menschen strukturellen Zwängen unterliegen: Sie müssen zur Arbeit gehen, um ihr Einkommen zu erhalten und ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Und sie müssen zu Familienangehörigen, um diese zu pflegen. In der Westschweiz zwang beispielsweise der Einzelhandelskonzern Coop seine Angestellten, ungeachtet allfälliger Vorerkrankungen und der Notwendigkeit, Kinder aufgrund von Schulschließungen zu Hause zu betreuen, zur Arbeit zu erscheinen. Andernfalls würden sie fristlos entlassen werden. Selbst in Norditalien werden Ende März noch hunderttausende Lohnabhängige gezwungen, ihre Arbeit in Fabriken und Büros fortzusetzen – obgleich es in den Betrieben Corona-Infektionen gab und die gesamte Region als Corona-Notstandsgebiet identifiziert wurde. Längst gab es „wilde“, spontane Streiks gegen diese unverantwortliche Unternehmerwillkür.

Notwendig wären eigentlich entschlossene Maßnahmen und ein kollektives Handeln der großen gesellschaftlichen Organisationen wie beispielsweise der Gewerkschaften, um organisatorische und materielle Antworten auf die Nöte der Bevölkerung zu bieten. Die ökonomischen Folgen konsequenter, die Wirtschaft umfassender Eindämmungsmaßnahmen dürfen nicht auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden.

3.2 Maßnahmen und Strategien im Vergleich

In diesem Abschnitt skizzieren wir kurz den Verlauf und die ergriffenen Maßnahmen einiger Länder. Wir erarbeiten eine Kategorisierung, anhand derer sich die Strategien der jeweiligen Regierungen analysieren lassen. Wir zeigen auf, dass der öffentliche Druck die Regierungen oftmals zu weitergehenden Maßnahmen zwingt, als von ihnen selbst angestrebt.

Wie bereits in Abschnitt 2.2. gezeigt, haben die chinesischen Behörden vergleichsweise früh die Millionenstadt Wuhan und andere Städten isoliert, die Wirtschaft runtergefahren und weitere wichtige Maßnahmen ergriffen. Damit ist es gelungen, die Anzahl der Erkrankungen massiv zu reduzieren. China fährt damit nicht nur hinsichtlich der konkreten Zahl der Todesfälle und der schweren Erkrankungen, sondern vermutlich auch ökonomisch besser als die europäischen Regierungen mit ihrem Desaster.

In Italien blieb die Ausbreitung des Virus zunächst verborgen. Auch nachdem das Ausmaß der Verbreitung in Norditalien sichtbar wurde, wurde nicht konsequent gehandelt. Nur zögerlich und Schritt für Schritt wurden zunächst einige lombardische Kleinstädte, dann die Lombardei und 14 weitere Provinzen, schließlich das ganze Land zur Sperrzone erklärt. Doch da war es bereits zu spät. Insbesondere die Lombardei einschließlich der Millionenstadt Mailand sind schwer betroffen. Die Kapazitätsgrenzen von Krankenhauspersonal, Krankenbetten, medizinischer Schutzausrüstung wurden bereits Mitte März überschritten. Es können nicht mehr alle Menschen behandelt werden. Die Ärzt*innen müssen entscheiden, wen sie noch behandeln. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen ist weiterhin hoch und die Infektionszahl verdoppelt sich weiterhin alle 3,6 Tage. Der Anstieg der Toten ist dramatisch und traumatisch (Abbildung 3). Die am 10. März getroffenen Maßnahmen bewirkten keine ausreichende Abschwächung der Virusausbreitung. Darum legte die Regierung am 21. März eine umfangreiche Liste von Wirtschaftssektoren vor, die strategisch nicht erforderlich sind und ab dem 24. März stillgelegt werden sollten. Doch der Industriellenverband Confindustria widersetzte sich diesem Vorhaben zunächst erfolgreich und verwässerte den Beschluss. Darauf riefen die großen Gewerkschaftsverbände für den 25. März zu einem Generalstreik auf. Die Regierung musste diesem Druck der Beschäftigten teilweise nachgeben und beschloss die Stilllegung weiterer Wirtschaftsbereiche. Dieser wichtige, aber auch verzweifelte, Kampf der Lohnabhängigen für die eigene Gesundheit sollte auch in anderen Ländern zum Vorbild genommen werden.13

Italien zählte bis zum 31. März 2020 bereits 12 428 Tote. Die ersten Menschen starben am 21. Februar. Das heißt, in etwas mehr als fünf Wochen vollzog sich ein Massensterben, dessen Ende nicht abzusehen ist. Im gleichen Zeitraum (41 Tage) sterben in ganz Italien normalerweise etwa 61 500 Menschen (1 500 pro Tag). Das heißt, dass die Corona-Toten die üblicherweise zu erwartende Anzahl Tote deutlich erhöhen (Übersterblichkeit). Dazu ist anzumerken: Erstens dürfte die durchschnittliche Gesamtzahl an Verstorbenen in dem Zeitraum bereits deutlich überschritten sein (wobei uns dazu exakte Zahlen nicht vorliegen). Zweitens gibt es eine enorme zeitliche Verdichtung des fatalen Massensterbens, wobei dieses bereits mehr als 5 Wochen anhält und auch noch im April weiterzugehen droht. Drittens gilt es, die enorme regionale Zusammenballung zu berücksichtigen.

In der gesamten Region Lombardei gab es bis zum 31. März 7 199 Tote – mehr als doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Keine Stadt wurde bislang so hart wie Bergamo, eine Stadt mit 120 000 Einwohner*innen, getroffen. Im März 2019 starben 125 Menschen in der Stadt, ein Jahr später, im März 2020 starben 553 Menschen. Aber von diesen 553 Toten werden aber nur 201 Tote offiziell im Zusammenhang mit einer Covid-19 Erkrankung gezählt. Gemäß offiziellen Angaben verstarben seit dem Ausbruch der Pandemie bis Ende März 2020 in Bergamo 2 060 Menschen und in Brescia 1 278 Menschen. Doch eine Befragung bei Ärzt*innen, Friedhöfen und Bestattungsunternehmen und Vergleiche mit der Anzahl Toter in früheren Jahren lässt vermuten, dass die wirkliche Anzahl Toter doppelt so hoch sei wie die offiziell publizierten Zahlen.14.

Der in manchen linken Debatten in einer früheren Phase wiederholt angeführte Vergleich der Corona-Toten mit der Zahl der Straßenverkehrstoten – der grundsätzlich problematisch ist – ist faktisch hinfällig: Im angegebenen Zeitraum starben in Italien bereits mehr als dreimal so viele Menschen in Folge einer Corona-Infektion wie in einem gesamten Jahr im italienischen Straßenverkehr Menschen den Tod finden.15

Nun häufen sich Berichte, wonach die Anzahl der Toten unterfasst würden. So sterben in Pflegeheimen viele alte Menschen, die nicht getestet würden. In der Stadt Coccaglio nahe Brescia sei ein Drittel der Einwohner-*innen rasch verstorben. Keine der verstorbenen 24 Personen sei getestet worden. Das sei kein Einzelfall. Das Wall Street Journal berichtet, dass in Norditalien Tausende von Toten, die vom Sars-CoV-2-Virus infiziert wurden, in der Statistik nicht erfasst würden. Das heißt, dass bislang mehr Menschen an der Pandemie gestorben seien, als die Abbildung 3 zum Ausdruck bringe. Sowohl aus Italien wie auch aus Spanien gibt es mittlerweile zahlreiche Berichte, dass viele alte Menschen in Pflege- und Altenheimen völlig isoliert und verlassen dahinsterben. 16

Abbildung 3: Anzahl Tote durch Erkrankung an Covid-19 in Italien.

Am 22. Februar wurden die ersten beiden Toten bekannt gegeben. Vom 4. März bis 31. März, also in vier Wochen starben mehr als 12 300 Personen. Die Hälfte dieser Menschen starb in de letzten Woche (Quellen siehe Anhang).

Die österreichische Regierung handelte bis zum 13. März so, wie alle Regierungen in der EU: hinhaltend, wenig verantwortlich. Sie ließ das Entstehen von Infektionscluster in den Skitourismusorten St. Anton und Ischgl zu und verdrängte oder ignorierte die Warnungen, die ihr darüber seitens der Regierung in Reykjavik bereits am 3. März zukam. Damit ließ die zu, dass sich Hunderte von Einheimischen und Tourist*innen auf einem halben Dutzend Ländern infizierten und letztere die Krankheit exportierten und in ihren Heimatländern weiterverbreiteten. Am 13. März gab es diesbezüglich eine Wende – hin zu einer neuen Entschlossenheit. Die Maßnahmen kommen seit dem 15. März einer Ausgangssperre für nicht unbedingt erforderliche Tätigkeiten gleich. Bemerkenswert ist, dass die Regierung nunmehr eine vergleichsweise offene und klare Kommunikation praktiziert. Am 19. März tritt in Tirol eine weitere massive Verschärfung in Kraft. Alle 279 Gemeinden des Bundeslandes stehen unter Quarantäne. Die Menschen dürfen die eigene Gemeinde nur noch für die Arbeit und für die vor Ort nicht verfügbare Grundversorgung verlassen. Zudem darf nur noch nach Tirol einreisen, wer dort zu Hause ist. Offen erklärte Gesundheitsminister Anschober, dass Beschränkungen im Alltag mehrere Monate dauern müssten, um die Ansteckungskurve so flach zu halten, dass das Gesundheitswesen nicht überlastet werde.17 Ab 31. März müssen die Menschen in den Einkaufsläden Masken tragen. Diese Maßnahme orientiert sich an den positiven Erfahrungen in einigen asiatischen Ländern.

In Österreich scheint Sebastian Kurz seine Chance erkannt zu haben und sich zum starken politischen Führer in dieser herausfordernden Zeit zu stilisieren. Er agiert rhetorisch geschickt, spricht zu den Menschen und vermittelt Verantwortungsbewusstsein, Führungsstärke, (nationalen) Zusammenhalt und Empathie. Er redet die Krise nicht klein, und macht sie den Menschen in ihrer Dramatik deutlich. All dies kann dazu führen, dass er politisch gestärkt aus der Krise hervorgeht und seinen Regierungsanspruch auf viele Jahre sichert. Das hat durchaus fatale Folgen. Kurz stärkt auf diese Weise ganz nebenbei seinen seit Jahren praktizierten autoritären Politikstil, dessen Kernbereich auch die neoliberale Aushöhlung von Solidarstrukturen (der Arbeiterkammer, des kommunalen Wohnungsbaus und kommunalen Wohnungsbestands usw.) und das Vorantreiben der Privatisierungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch im Gesundheitssektor, ist. Hier wie in anderen Ländern mit vergleichbarer Entwicklung (siehe z.B. Ungarn und Polen) ist der Aufstieg dieser Art von Krisen-Zampanos nur durch die Abwesenheit einer glaubwürdigen linken Partei und durch das weitgehend flächendeckende Versagen der Gewerkschaften möglich.

Nachdem der Schweizer Bundesrat bereits Ende Februar alle größeren Sportanlässe und die Basler Fasnacht absagte und zumindest symbolisch Entschlossenheit markierte, zögerte er in Folge weitere einschneidende Maßnahmen hinaus. Zumindest teilweise gaben es die Schweizer Behörden frühzeitig auf, die vermutlich infizierten Menschen systematisch auf Corona zu testen. Zielgerichtete Maßnahmen werden damit unmöglich. Am 13. März beschloss die Regierung weitere Beschränkungen für Veranstaltungen, die aber weniger konsequent waren als die Maßnahmen in Österreich. Teilweise unabgesprochen riefen etliche Kantone den Notstand aus und beschlossen härtere Einschränkungen. Am 16. März gab der Bundesrat in einer dramatischen Medienkonferenz den Notstand bekannt, der einer Stilllegung des zivilen Lebens – allerdings erneut abseits der Berufstätigkeit – gleichkommt. Am selben Tag machen Meldungen die Runde, dass Krankenhäuser im Tessin die Grenzen ihrer Belastbarkeit bereits erreicht haben. Der Kanton Tessin ist von einer raschen und starken Ausbreitung der Covid-19-Erkrankungen betroffen. Bereits gegen Ende der dritten März Woche hatten die Krankenhäuser die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht. Darum wollte die Kantonsregierung weitere Teile der Wirtschaft, beispielsweise den Bausektor, stilllegen. Das wurde ihr vom Bundesrat untersagt. Namentlich in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz fordert ein großer Teil der Bevölkerung von der Regierung, entschlossener zu handeln und die Wirtschaft in die Maßnahmen einzubeziehen. Der Bundesrat machte mehrfach deutlich, dass das unverhältnismäßig sei.

Geradezu verantwortungslos verhielt sich lange Zeit die deutsche Regierung. Maßnahmen wurden schleppend, unkoordiniert und in teils geringerem Ausmaß als in den anderen betroffenen Ländern ergriffen. Trotz Warnungen konnte im Februar der Karneval mit dem Höhepunkt der Rosenmontagsumzüge am 24. Februar mit der Beteiligung von mehr als einer Million Menschen vor allem im Rheinland (von NRW), in Rheinland-Pfalz (vor allem Mainz) und in Baden-Württemberg ohne jegliche Einschränkungen stattfinden. Es war dann fast logisch, dass sich dann binnen weniger Wochen diese Regionen zu Corona-Hochburgen entwickelten. Das betrifft vor allem das Bundesland Nordrhein-Westfalen. Am 26. März wurden hier erstmals mehr als 10 000 mit Corona infizierte Menschen registriert; bis zum 4. April waren es 19.405 bestätigte Infektionen und 250 Todesfälle. Als Hotspot entwickelte sich dabei der Kreis Heinsberg mit bis zum 3. April 1436 bestätigten Corona-Infizierten und 42 Todesfällen. Ausgangspunkt war hier eine Karnevalsfeier am 15. Februar mit mehr als 300 Beteiligten. Trotz extremer Steigerung der Corona-Fälle wurde am 7. März nur 10 Kilometer von Heinsberg entfernt ein Fußball-Bundesliga-Kassenschlager-Spiel – Borussia Dortmund gegen Borussia Mönchengladbach – vor einem 55.000-Personen-Publikum durchgeführt. Bundeskanzlerin Merkel priorisierte bei ihrer Pressekonferenz am Mittwoch, dem 11. März, die Gewährleistung der Arbeit von Polizei und Armee, bevor sie nur ganz kurz die notwendige Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens thematisierte. Anschließend fokussierte sie gänzlich auf die Hilfen für die Wirtschaft und Forschungsgelder und die angebliche Solidarität in der EU. „Deutschland wird das, was notwendig ist, tun, um seine Wirtschaft zu schützen.” Das ist ehrlich und direkt. In ihrer ganzen Kommunikation demonstrierte die deutsche Regierung bis zu diesem Zeitpunkt unmissverständlich, dass sie den wirtschaftlichen Interessen den Vorrang gibt. Diese Regierung opferte bewusst Hunderte Menschen der alten Generation. Es war dann der sprunghafte Anstieg der Infiziertenzahlen – Mitte März erst 4000, am 17. März 8.084, am 19. März 13.979 und am 25.März 35.714 (hier jeweils die Angaben des Robert-Koch-Instituts) – was die Regierenden auf Trab brachte. Zuvor allerdings galt es noch das Großereignis Kommunalwahl in Bayern am 15. März durchzuführen, bei der rund fünf Millionen Menschen sich in den Wahllokalen versammelten, um – welch eine absurde Sicherheitsmaßnahme! – möglichst „mit dem eigenen Stift“ ein Kreuz an der richtigen Stelle zu setzen. CSU und SPD, beide Koalitionspartner in der Berliner Regierung, erzielten dabei jeweils das schlechteste Ergebnis in ihrer Geschichte; der bisherige laissez-faire-Kurs in Sachen Corona wurde also nicht belohnt.18 Das dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass in Bayern bereits am Tag darauf, am 16. März, und Deutschland-weit dann eine Woche später, weitreichende Maßnahmen („Kontaktsperre“) zur Einschränkung des zivilen Lebens ergriffen wurden. Begleitet ist dies von massiven Finanzspritzen und Abfederungsmaßnahmen für Klein-, Mittelstands- und vor allem große Betriebe und sozialen Hilfen für unterschiedliche Wirtschaftssektoren. Wobei immer wieder der peinliche Hinweis auf das „starke Deutschland“ fällt – so Finanzminister Olaf Scholz, SPD, in der Bundestagsdebatte am 25. März: „Wir können uns das leisten“ – man habe ja „in der Vergangenheit solide gewirtschaftet“. Was kaum verhüllt durchscheinen lässt, dass andere Länder dies nicht getan hätten und völlig in Vergessenheit geraten lässt, dass die finanzielle Stärke durch Leistungsbilanzüberschüsse erreicht wurde und damit die deutsche „Stärke“ logischerweise viele Handelspartner schwächen musste.

Bemerkenswerterweise fällt der Partei DIE LINKE, in all diesen Debatten nichts Gescheiteres ein, als der Regierung die Unterstützung der Partei zu versichern. Am 25. März 2020 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein 156-Milliarden-Euro Corona-Hilfspaket, das zu einem großen Teil der Wirtschaft zu Gute kommt. Die LINKE stimmte dem einstimmig zu; eigene Anträge wurden nicht eingebracht. Dass in Reden und Pressemitteilungen Richtiges (z.B. eine Sonderabgabe auf Vermögen) gefordert wird, geht im Dröhnen der Krise unter. Hoffentlich versetzt sich die Partei DIE LINKE bald in die Lage, mit eigenen Vorschlägen zur Bekämpfung der Pandemie auf die Menschen zuzugehen. Mit der Unterstützung wachstums- und wettbewerbsorientierter Konjunkturpakete würde sie ihre eigene Rhetorik für eine sozial-ökologische Wende als simple Lippenbekenntnisse abtun. Damit würde sich die Partei Die Linke gerade in einer Zeit höchster Dringlichkeit überflüssig machen. Bemerkenswert ist auch, dass kein*e Exponent*in der Linkspartei Vorschläge eingebracht hat, wie die Bevölkerung sofort zu schützen ist beziehungsweise sich selber schützen kann. Mittlerweile mehren sich dramatische offene Briefe und Appelle von Beschäftigten im Gesundheitswesen, von fahrlässigen Entscheidungen abzusehen und endlich die nötigen Mittel bereitzustellen.19 Sie zeugen davon, dass sich aktuell akute Fahrlässigkeit mit der jahrelangen strukturellen Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Gesundheitswesen paart.

Ab dem 14. und 15. März verschärfte sich die Lage auf dem europäischen Kontinent dramatisch. In nahezu allen Ländern zeigte sich eine beschleunigte Ausbreitung des Virus; die Zahl schwerer und tödlicher Verläufe steigt (Abbildung 4). Besonders Spanien verzeichnet einige explosionsartig wachsende Infektionscluster. Die betroffenen Regionen erleben dieselbe katastrophale Situation wie eine Woche zuvor die Lombardei. Am 14. März gab die Regierung Sanchez ausgesprochen einschneidende Maßnahmen einschließlich einer Ausgangssperre in ganz Spanien bekannt. Das zivile Leben, allerdings nur abseits von Büro und Fabrik, kommt zum Erliegen. Auch in Frankreich geraten in einigen Regionen, wie im Elsass, die Krankenhäuser bereits an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Auch Frankreich führte am 15. März unverantwortlicherweise noch die Gemeinderatswahlen mit unzähligen Wahlveranstaltungen durch. Schon am 14. März verkündete Präsident Macron einschneidende Beschränkungen für das öffentliche Leben und tags darauf Maßnahmen, die einem Ausgehverbot in der Freizeit gleichkommen.

Abbildung 4: Kumulierte Anzahl Menschen, die positiv auf den Corona-Virus getestet wurden vom 19. Februar bis 31. März 2020 in Italien, Deutschland, Österreich, Schweiz.

Die Zahlen sind äußerst vorsichtig zu beurteilen. Das Testwesen ist sehr lückenhaft und kaum zwischen den Ländern zu vergleichen, nicht einmal zwischen Bundesländern und Kantonen. Die Behörden testen unterschiedlich dicht. Verschiedene Behörden vernachlässigen wegen mangelnder Kapazitäten das Testwesen. Bislang wurden schon mehrfach im Nachhinein die Zahlen nach oben korrigiert. Darüber hinaus gilt es spezifische Sachverhalte zu beachten. Beispielsweise steckten sich in dieser Frühphase mehrere hundert Personen in österreichischen Wintersportorten an, wurden dann aber in Norwegen, Dänemark, Island und Deutschland positiv getestet. Da die Schweiz und Österreich wesentlich kleiner als Deutschland und Italien sind, stellt sich mit zunehmender Dauer der Pandemie ein Mengeneffekt ein, der die Kurven der kleinen Länder automatisch flacher verlaufen lässt. (Quellen siehe Anhang).

Die britische Regierung vertrat bis zum 25 März die Position, es gehe nicht darum, die Ausbreitung der Krankheit abzuschwächen oder zu stoppen. Die Regierung sah vor, dass sich die Infektionen weitgehend ungebremst ausbreiten und sich in der Bevölkerung möglichst rasch eine Herdenimmunität ausbilden solle. Dieser Plan schloss ein, dass sich 60% der Bevölkerung, das sind 40 Millionen Menschen, in kürzester Zeit infizieren. Der Höhepunkt der Infektionswelle solle im Mai und Juni erreicht werden. Nur alte und chronisch kranke Menschen sollten geschützt werden. Menschen über 70 Jahre sollten sich bis zu vier Monaten weitgehend selbstverantwortlich isolieren oder nötigenfalls zwangsweise isoliert werden. Unternehmen wie Uber und Deliveroo sollten die Versorgung sicherstellen. Weitere Schutzmaßnahmen gab es bis zu diesem Zeitpunkt kaum in Großbritannien. Die offiziellen Zahlen zu den Infektionsfällen waren weit von der Realität entfernt, weil kaum getestet wurde. Johnson kündigte am 12. März unverblümt an, dass sich viele Familien darauf einstellen müssten, „ihre Liebsten vorzeitig zu verlieren“. Richard Horton, Chefredakteur des wichtigen medizinischen Journals The Lancet, warf Johnson und Gesundheitsminister Matthew Hancock vor, sie würden „Roulette mit der Gesundheit der britischen Bevölkerung spielen“ und „schlafwandelnd in einen Hurrikan spazieren“.20

Mit dieser Position gestand Johnson offen ein, dass die Regierung eine schlichte Kosten-Nutzen-Überlegung anstellte. Die wirtschaftlichen Kosten restriktiver Maßnahmen oder gar eines zeitweisen Runterfahrens der Wirtschaft wären für das Kapital, dessen Interessen er vertritt, viel zu kostspielig. Es kommt günstiger, einen Teil der alten Bevölkerung zu opfern. Dies gilt umso mehr als die neoliberale Politik die Altersvorsorge zugunsten privater kapitalgedeckter Pensionsfonds ebenfalls massiv schwächte. Johnson weiß, dass das Nationale Gesundheitssystem nach der brutalen neoliberalen Austeritätspolitik nicht ansatzweise den Anforderungen einer landesweiten Epidemie genügt. Darum rechnete er unverblümt mit dem Tod vieler Menschen. Angesichts der rasch ansteigenden Zahl der Infizierten wird das Nationale Gesundheitssystem (NHS) mit größter Wahrscheinlichkeit aber längst früher als „vorgesehen“ an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gelangen. Mit nur 6,6 Intensivbetten auf 100 000 Einwohner*innen ist Großbritannien noch wesentlich schlechter auf eine große Gesundheitskrise vorbereitet als andere Länder in Europa (Tabelle 1). Auf Druck der Opposition, der empörten Bevölkerung und von zahlreichen Wissenschafter*innen kündigte Johnson am 16. März eine Kehrtwende an. Seit dem 23. März gilt eine dreiwöchige Ausgangssperre. Bereits am 29. März kündigte der Staatssekretär für Kabinettsangelegenheiten, Michael Gove, an, die Ausgangssperre könne „noch geraume Zeit länger“ in Kraft bleiben. Die Rede ist von einem Zeitraum bis Juni. Inzwischen haben sich Boris Johnson und der Gesundheitsminister Matt Hancott selbst mit Covid-19 infiziert; die Handlungsfähigkeit des Kabinetts ist in Frage gestellt. Die Zahl der offiziell an Covid-19 verstorbenen Menschen war bis zum 31. März bereits auf 1789 und bis zum 2. April gar auf 2 921 am hochgeschnellt. Das ist nichts anderes, als eine teilweise bewusst akzeptierte oder sogar herbeigeführte gesellschaftliche und menschliche Katastrophe, die sich leider noch verschärfen wird.

Trotz der zahlreichen, durchaus drastischen Maßnahmen, welche viele Regierungen Europas nun ergriffen haben, ist zweifelhaft, ob sie ausreichend wirksam sind. Es ist zu erwarten, dass in den nächsten Wochen mehrere zehntausend Menschen in Europa an der Covid-19 Erkrankung sterben werden. Ob Maßnahmen wie Schulschließungen, die auf den ersten Blick drastisch wirken, tatsächlich den erhofften Effekt erzielen, wird in Expert*innenkreisen widersprüchlich diskutiert. Ein WHO Epidemiologe, der als Chef eines Expert*innenteam in China war, schildert, dass beim Ausbruch in Hubei die Kinder ohnehin in den Schulferien waren, die Schulen als Teil des absoluten Shutdowns dann weiterhin geschlossen blieben. In Singapur und Südkorea blieben die Schulen jedoch offen, weil man zu dem Ergebnis kam, dass Schulen nicht die treibende Kraft der Virusausbreitung seien. Dennoch haben beide Länder die Ausbreitung weitgehend gestoppt. Die Erfahrungen in diesen Ländern können darauf hindeuten, dass die entscheidenden Maßnahmen zur effektiven Eindämmung oder Verlangsamung, andere sind, als die von den europäischen Regierungen zu Beginn ergriffenen. Zugleich muss zugestanden werden, dass angesichts der in Europa nun viel fortgeschritteneren Ausbreitung des Virus, ohnedies in vielen Ländern nur mehr ein konsequenter Shutdown erfolgreich sein wird. China ging mit dem verordneten Stillstand in Wuhan und anschließend der Provinz Hubei sehr weit und war letztlich erfolgreich. Das ist ein starkes Argument dafür, dass ein temporärer Stillstand der gesellschaftlich nicht unmittelbar notwendigen Sektoren der Wirtschaft erforderlich ist.

Abbildung 5: Anzahl Tote durch Erkrankung an Covid-19 in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Für die Anzahl der Todesfälle in Deutschland zirkulieren stark unterschiedliche Angaben. Das Robert Koch Institut publiziert jeweils zeitverzögert um 0:00 Uhr am Folgetag. Berliner Morgenpost und die Johns Hopkins University in Baltimore publizieren zeitnahere und darum höhere Zahlen. Wir stützen uns hier auf die Zusammenstellung auf der Webseite von Worldometer (https://www.worldometers.info/coronavirus/), die sich stark auf die Daten der Johns Hopkins University, Baltimore, abstützt.

Die USA entwickeln sich zum Epizentrum der Corona-Pandemie (Abbildung 6). In rasender Geschwindigkeit ist die Zahl der getesteten infizierten Personen ab Mitte März und bis Ende dieses Monats auf 188 530 hochgeschnellt. Das liegt sowohl an der raschen Ausbreitung des Virus als auch an der nun endlich aufgenommenen Testtätigkeit. Doch die Dunkelziffer der Infizierten muss enorm sein. Bis zum 31. März fielen der Pandemie bereits 4053 Personen zum Opfer, davon alleine rund 2000 im Großraum New York (in den Staaten New York und New Jersey). Präsident Trump verharmloste die Herausforderung wochenlang. Einige Bundesstaaten setzten rigorose Ausgangsbeschränkungen durch. Das Gesundheitssystem kann die Herausforderung nicht mehr meistern. Dennoch kündigte Trump noch Ende März an, die Ausgehbeschränkungen ab Ostern zu lockern oder aufzuheben. Das Wall Street Journal forderte laut ein Ende der Einschränkungen für die Wirtschaft. Am 31. März stimmte Trump dann die Bevölkerung auf eine extrem harte Zeit ein und gab die Schätzung seiner Epidemiologen wieder, wonach 100 000 bis 240 000 Menschen in den USA sterben könnten, auch wenn alle Regeln des social distancing eingehalten würden.21 Bereits bahnt sich eine ähnliche Entwicklung in New Orleans und Detroit an. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen eines derartigen Desasters sind nicht abzusehen. Diese Gesundheitskrise drückt nicht nur das Scheitern der neoliberalen Austeritätspolitik und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens aus, sondern zeigt auch, dass die politische Führung nicht in der Lage ist, die elementarsten menschlichen Bedürfnisse einigermaßen zu garantieren.

Trotz der Testoffensive besteht die Möglichkeit einer massiven Untererfassung der infizierten und erkrankten Personen. Das Wall Street Journal zitiert Gesundheitsexperten in den USA, die berichten, dass nahezu ein*e von drei infizierten Patient*innen ein negatives Testresultat erhielten. Diese Aussage beruhe allerdings nur auf eigenen Erfahrungen, belastbar sei diese Aussage noch nicht. Dennoch stelle das die Glaubwürdigkeit der neuen Tests der Industrie und des U.S. Centers for Disease Control and Prevention in Frage. Die meisten Hersteller arbeiteten ohne robuste Überprüfung ihrer Tests. Bereits in Wuhan habe es viele Patient*innen mit negativen Testergebnissen, aber ähnlichen Beschwerden gegeben.22

Die Corona-Pandemie betrifft vor allem die urbanen Großräume (Abbildung 7). Die mangelnde und mangelhafte gesellschaftliche Infrastruktur im Bereich des Gesundheitswesens kombiniert sich mit der Ausdehnung der Covid-19-Erkrankungen zur existenziellen Bedrohung von Millionen von Menschen. Die wohlhabende Lombardei, eine Großstadt wie Madrid, eine reiche Metropole wie New York sind nicht mehr in der Lage, mit der Herausforderung umzugehen. Was wird geschehen, wenn die Pandemie die Armen in Detroit und New Orleans trifft? Wie werden die Menschen in Mexico, Sao Paulo, Istanbul, Lagos, Algier, Kairo, Mumbai, Jakarta …. mit der gigantischen Herausforderung umgehen.? Alleine die Möglichkeit einer solchen globalen Dynamik der Pandemie nimmt uns die Pflicht auch hier in den reichen Ländern alles zu tun, um die Ausbreitung des Sars-CoV-2 -Virus so lange und stark wie möglich zu bremsen.

Abbildung 6: Entwicklung der Corona-Pandemie einigen stark betroffenen Ländern

Die waagrechte Ache zeigt die Anzahl Tage seit das Land 20 Tote in einer Woche verzeichnete. Die senkrechte Achse zeigt die Anzahl Tote auf einer logarithmischen Skala eingetragen. Die Abbildung offenbart, dass in China die Dynamik der Pandemie nach etwa einem Monat gebrochen werden konnte. In Italien dürfte das ansatzweise Anfang April der Fall sein. Doch in Spanien hält die Dynamik an. In den USA breitet sich die Pandemie ungebrochen aus. Quelle Financial Times, 31. März 2020 < https://www.ft.com/coronavirus-latest>

Abbildung 7:Entwicklung der Corona-Pandemie in einigen urbanen Großregionen

Die Pandemie hat einen stark urbanen Charakter. Urbane Großräume sind überdurchschnittlich stark betroffen. Die waagrechte Ache zeigt die Anzahl Tage seit das Land 20 Tote in einer Woche verzeichnete. Die senkrechte Achse zeigt die Anzahl Tote auf einer logarithmischen Skala eingetragen. Die Abbildung informiert über die rasche Ausbreitung in fast allen urbanen Großräumen mit Ausnahme von Daegu in Südkorea. Die Pandemie bedroht die Menschen in New York wesentlich mehr als in den anderen urbanen Großregionen.

Quelle Financial Times, 31. März 2020 < https://www.ft.com/coronavirus-latest>

3.3 Unterschiedliche Pandemie-Strategien – bei gleichem strategischem Ziel: Aufrechterhaltung der Produktion

Im Grunde haben die meisten Regierungen der EU und der Schweiz wie folgt auf die Ausbreitung Pandemie reagiert: Zunächst praktizierten sie ein verantwortungsloses laissez-faire. Das traf in Italien bis Anfang März und in Deutschland, Schweiz, Österreich, Frankreich und Spanien bis Mitte März zu. Großereignisse wie Karneval, Fußballspiele (BRD, Italien) oder touristischen Großereignisse konnten zumeist uneingeschränkt stattfinden und wirkten als internationale Virenschleudern. Erst danach setzte eine Kehrtwende mit massiven Einschränkungen im Privatleben, nicht aber im Arbeitsbereich, ein. Und bald danach begannen sich die Bedenkenträger aus der Wirtschaft in Szene zu setzen, die argumentieren, die Medizin sei gefährlicher als die Krankheit. In den meisten Ländern kommunizieren die Regierungen beispielsweise in Bezug auf die Wirksamkeit von Masken komplett widersprüchlich. Das ist wohl der Tatsache geschuldet, dass die Behörden es schlicht verpasst haben, die Krankenhäuser und öffentlichen Einrichtungen mit Masken zu versorgen.

Dennoch lassen sich mehrere Strategien erkennen, wie die Regierungen mit der Ausbreitung des Coronavirus umgehen beziehungsweise umgehen wollten.

Die erste Strategie besteht darin, die Ausbreitung des Virus zu verhindern und dieses gewissermaßen auszuhungern und einzudämmen. Entsprechend wird von Containment gesprochen. Taiwan, Singapur, Hongkong, Japan, Südkorea und China, aber auch Länder wie Vietnam und Thailand verfolgen diese Strategie mit vergleichsweise großem Erfolg. Doch die internationale Ausbreitung des Virus stellt den Erfolg dieser Strategie in Frage. Italien verfolgte diese Strategie zu Beginn ebenfalls, allerdings zaghaft und mit völlig ungenügenden Schritten. Eine gemeinsame und auf viele Wochen oder Monate ausgelegte gemeinsame Aktion der europäischen Länder hätte aber durchaus erfolgreich sein können.

Die zweite Strategie will die Verbreitung des Virus bremsen und damit die Geschwindigkeit der Erkrankungszunahmen vermindern, um den Höhepunkt der Erkrankungen abzuschwächen und hinauszuzögern. Hier wird von Mitigation gesprochen. Der Hashtag #flattenthecurve erfasst bildlich den Kern dieser Strategie. Es wird das Ziel verfolgt, die gleichzeitige Belastung der Gesundheits- Infrastruktur zu reduzieren. Diese Strategie wenden in unterschiedlichen Ausprägungen die meisten Regierungen in Europa mehr oder weniger konsequent an. Unter dem Druck der Bevölkerung wollen sie die Gesellschaft zusammenhalten.

Die dritte Strategie beschränkt sich auf die nur schwach abgebremste Durchseuchung eines Großteils der Bevölkerung. Die damit erreichte Herdenimmunisierung führt dann zur Abschwächung der Ausbreitung. Das ist die Strategie, wie sie von der britischen und der niederländischen Regierung bis Ende der dritten Märzwoche verfolgt wurde.23 Interessanterweise setzt auch die mehrheitlich sozialdemokratische Regierung in Schweden auf diese Strategie. Sie entspricht der hyperliberalen Orientierung und nimmt wissentlich den Tod von noch mehr Menschen in Kauf als diejenigen, die die zweite Strategie eingeschlagen haben. Bis Anfang April galt „das schwedische Modell“ viele als ein alternativer Weg. Doch auch hier scheint es, unter dem Druck der Öffentlichkeit und vor dem Hintergrund der schnell steigenden Zahlen von Infizierten und Toten (bis zum 3. April waren es 6440 positiv Getestete und 373 Todesfälle), zu einer Wende zu kommen. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Stefan Löfven gestand am 4. April in einem Interview mit Dagens Nyheter, ein, „dass wir […] mit Tausenden Toten rechnen müssen.“ Nun sind auch in Schweden Ausgangssperren im Gespräch.24

Eine Studie des Imperial College London kommt in einer Modellrechnung zum Schluss, dass die lange Zeit in Großbritannien, in den Niederlanden und bis Anfang April auch in Schweden praktizierte Strategie selbst unter der absolut unwahrscheinlichen Annahme, dass alle Patient*innen ausreichend behandelt werden können, innerhalb kürzester Zeit 250.000 Tote in Großbritannien und 1,1 bis 1,2 Millionen Tote in den USA zur Folge haben würde.25 Wobei zur Herdenimmunisierung einzuwenden ist, dass diese bislang im Kontext von Impfkampagnen diskutiert und verfolgt wurde. Sandro Mezzadra, Professor für politische Theorie in Bologna, bezeichnet diese Strategie als malthusianisch und vom Sozialdarwinismus inspiriert, die letztlich einen Teil der Gesellschaft im Sinne einer scheinbar „natürlichen Selektion“ opfert.26

Die zweite und dritte Strategie lassen sich nicht scharf voneinander unterscheiden. Auch Deutschland und die Schweiz verfolgen Elemente der dritten Strategie. Der öffentliche Druck und die länderübergreifende Dynamik brachte sie womöglich ab 14./15. März dazu, stärker auf Maßnahmen zur Abbremsung der Virusverbreitung zu setzen. Wobei die deutsche Regierung, trotz des extrem starken Anstiegs der Infizierten, auch bis zum 19. März weiterhin irritierend wirkungslos reagiert. Wir nehmen an, dass die Dynamik der Ereignisse und Druck aus der Bevölkerung alle Regierungen zu einschneidenderen Maßnahmen bringen wird. In diesem Kontext ist es umso unverständlicher, dass die Partei DIE LINKE nicht energisch kurzfristig wirksame Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung einfordert. Es ist bemerkenswert, dass die nationalkonservativ-grüne Regierung in Österreich sogar Elemente der ersten Strategie anwendet und mit vergleichsweise härteren Maßnahmen bis einschließlich regionaler Quarantänen versucht, die Ausbreitung des Virus massiv abzubremsen.

Boris Johnson, Donald Trump und die Regierung Rutte in den Niederlanden scheinen nun derart unter Druck ihrer Bevölkerung zu geraten, dass sie Elemente der zweiten Strategie zumindest kosmetisch in ihr beschränktes Repertoire einbauen. Die Abbremsung und die (liberale) Herdenimmunisierung lassen sich also nicht streng voneinander abgrenzen. Es zeigt sich, dass der öffentliche Druck und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis die Maßnahmen zur Krisenbewältigung beeinflussen können.

Auch neoliberale Leitmedien wie die Neue Zürcher Zeitung schreiben nun, dass wirksame Maßnahmen zu spät ergriffen wurden27. Doch gleichzeitig nehmen sie die Regierungen vor Kritik in Schutz. Denn niemand habe in Europa bereits solche Erfahrungen gemacht und konnte demnach auch keine Lerneffekte vorweisen wie beispielsweise Taiwan. Das ist richtig. Doch ist es falsch, dass niemand die Ausbreitungsdynamik des Virus hätte erkennen können. Es gab genügend Warnungen und Ausbreitungsmodelle von Epidemiolog*innen. Die deutsche Regierung gab 2012 sogar eine Risikoanalyse zu Einer Epidemie, ausgelöst von einem vergleichbaren Corona-solchen Virus in Auftrag, die Ergebnisse brachte wie diejenigen, mit denen wir uns derzeit konfrontiert sehen. Doch sie zog daraus keine Konsequenzen (siehe unten Abschnitt 4.1.). Und vor allem wäre es möglich gewesen von Erfahrungen aus Asien und der laufend beobachtbaren Katastrophe in Italien zu lernen. Entscheidend ist, dass alle Regierungen von Anfang an von der Prämisse ausgegangen sind, die für die Wettbewerbsfähigkeit relevanten Sektoren der Wirtschaft von den Maßnahmen auszunehmen. Das ist das zentrale Kennzeichen der Strategien aller Regierungen. Das haben alle Regierungen, auch die sozialdemokratisch-linkspopulistische Regierung in Spanien, in den Tagen hektischer Entscheidungen zwischen dem 13. und 16. März nochmals bekräftigt. Allen Regierungen ist zudem gemeinsam, dass sie mit ihrer Politik die Verantwortung individualisieren. Das überrascht nicht. Die Strategie der Individualisierung entspricht dem neoliberalen Dogma, das übrigens auch in der Klimapolitik seinen Niederschlag findet. Kritische Stimmen, die nun den autoritären Staat heraufbeschwören, individualisieren die Herausforderung letztlich ebenfalls. Einige Kreise unter den Eliten erkennen klar die klassenspezifische besondere Betroffenheit der Armen und Prekären. Sie machen sich ernsthafte Sorgen, über die gesellschaftlichen Konsequenzen und fragen sich, ob überhaupt der gesellschaftliche Zusammenhalt noch garantiert werden kann.28

Die dringend erforderliche Verlangsamung der Verbreitung der Erkrankungen unter die Kapazitätsgrenzen der Gesundheitssysteme bedeutet jedoch, dass die nun verhängten Maßnahmen der Ausgangssperren und -beschränkungen über viele Monate aufrecht erhalten bleiben müssen. Verschiedenste Modellrechnungen zeigen dies bereits.29 Die massiven sozialen und ökonomischen Konsequenzen für unsere Gesellschaften sind kaum absehbar. Entscheidend wird in diesem Fall sein, wie hoch die Aussichten auf die rasche Entwicklung, ausreichende Testung, umfangreiche Produktion und Verteilung eines wirksamen Medikaments ist. Einige (bestehende) Medikamente scheinen eine Wirkung zu zeigen und werden bereits in kleinen Studien an Covid-19 Erkrankten geprüft. Doch auch im besten aller Fälle werden etliche Monate vergehen bis ein solches Medikament weltweit einsatzbereit sein wird.

3.4 Exit-Strategie auf Kosten der besonders Gefährdeten – ideologische Kampflinie des Kapitals

Nach einer merklichen Orientierungslosigkeit, begann sich die Kapitalseite spätestens in der dritten Märzwoche, als mehr und mehr europäische Länder und Bundesstaaten in den USA zunehmend einschneidendere Maßnahmen beschlossen, strategisch zu positionieren. Innerhalb weniger Tage rückte ein Diskurs in den Vordergrund, der die „Gesundheit der Wirtschaft“ der „Gesundheit der Menschen” gegenüberstellte. So forderte die Redaktion des Wall Street Journals am 19. März dazu auf, die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zu überdenken, denn „keine Gesellschaft kann die öffentliche Gesundheit lange auf Kosten der ökonomischen Gesundheit bewahren.”30

Ausgehend von Ökonom*innen und der Wirtschaftspresse zog diese Position schnell in der politischen Debatte ein und fand ihren pointiertesten Befürworter im texanischen Vize-Gouverneur Dan Patrick, der offen forderte, die Alten sollen ihr Leben opfern, um die US Wirtschaft zu retten. Es könne nicht sein, dass die Wirtschaft der Coronakrise geopfert werde. Alle müssen in der Krise Opfer bringen, aber die Wirtschaft müsse weiterlaufen. 31  Auch US Präsident Trump griff diese Position auf und twitterte am 23. März in Großbuchstaben: “WE CANNOT LET THE CURE BE WORSE THAN THE PROBLEM ITSELF”.

Ähnlich unverblümt offenbart sich auch in den deutschsprachigen Ländern diese ideologische Kampflinie des Kapitals. So wirft Alexander Dibelius, einflussreicher Finanzmanager, ehemaliger Mediziner und einstiger Deutschlandchef von Goldman Sachs im Interview mit dem Handelsblatt die Frage auf: „Ist es richtig, dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden?“32 Die Handelsblatt-Redaktion kommentiert dazu, dass diese „schmerzhafte und kontroverse“ Diskussion in „verantwortungsvoller Weise“ geführt werden müsse. Täglich lassen sich nun ähnliche Äußerungen, mal mehr, mal weniger offen zugespitzt, von liberalen, wie reaktionären Politiker*innen, Ökonom*innen, Mediziner*innen, Medienschaffenden und vielen anderen Meinungsführer*innen vernehmen:

Wahre Patientin der Krise ist nunmehr die (wahlweise: nationale oder globale) Wirtschaft. Überlegungen zur Eindämmungen des Virus konzentrieren sich auf „was ist unserer Wirtschaft zumutbar“ anstelle von „wie können wir möglichst viele Menschen retten“ oder „was hält unser Gesundheitssystem aus“. Die Befindlichkeit des Kapitals wird zum Gradmesser für Umfang und Dauer jeglicher Eindämmungsstrategie des Virus. Offen wird die Frage aufgeworfen: Wie viel ist uns als Gesellschaft ein Menschenleben wert?

Mit erstaunlich wenig Zurückhaltung offenbart sich vor den Augen der breiten Öffentlichkeit der Charakter der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ökonomie ist nicht zum Wohle der Menschen da, sondern umgekehrt, das Leben der Menschen wird geopfert, um weiterhin unaufhaltsam die Profitmaschine in Gang zu halten. Etwas das viele Menschen zwar längst spüren, aber nun ganz unmittelbar ihr eigenes Leben und das ihrer Familien angreift. Der Kapitalismus lässt seine Maske fallen. 

Das Bürgertum hat seine ideologische Kampflinie gefunden und kann mittels seiner mächtigen Ressourcen die öffentliche Debatte in großem Ausmaß beeinflussen. Jegliche Verharmlosung der Pandemie – wie sie von manchen Linken hierzulande selbst angesichts der immer mehr eskalierenden Realität in vielen Ländern betrieben wird – kann dieser Argumentation Vorschub leisten.

Angesichts der beispiellosen Wirtschaftskrise, die sich nun ankündigt, sind es jedoch auch die Menschen selbst, die zunehmend mehr um ihre Arbeitsplätze, denn um ihre Gesundheit fürchten. Alleine in Österreich wurden in der Zeit vom 15. März bis zum 29. März 179.000 Menschen arbeitslos, das entspricht einem Zuwachs um rund 45% im Vergleich zur Zahl der Arbeitslosen Ende Februar. Viele Solo-Selbstständige und Freiberufler*innen verloren ihre Einkommensgrundlage. Etliche Beschäftigte werden in unbezahlten Urlaub geschickt.33 Angesichts der Ankündigung, dass Schulen und andere Betreuungseinrichtungen noch viele Wochen geschlossen bleiben, stehen zudem insbesondere Frauen vor der Frage, wie sie die Betreuungspflichten und neu hinzugekommen Bildungsarbeit mit ihrer Lohnarbeit vereinbaren können. Viele dieser Menschen fragen sich, was ihnen ihre Gesundheit bringt, wenn sie sich den Lebensunterhalt bald nicht mehr leisten können. Zumal viele Menschen aufgrund ihres Alters darauf hoffen, dass sie selbst vor einem schweren Krankheitsverlauf verschont bleiben. Entsprechend trifft die Krisenerzählung des Bürgertums auf die Existenzängste der Menschen. Dies führt dazu, dass in einer geschönten Form des “Opferns der Alten und Schwachen” eine Krisenbewältigungsstrategie in den Debatten Einzug hält, die besonders gefährdete Menschen schützen und den Rest der Gesellschaft in einen Normalbetrieb zurückführen will.

Doch was bedeutet dieses Szenario konkret? Große Teile der Gesellschaft müssen sich über viele Monate hinweg isolieren und jeglichen Kontakt zur “Außenwelt” vermeiden. Alle anderen, nicht eindeutig zu einer Risikogruppe gehörenden Menschen, gehen ihrem normalen Leben nach und werden sich unweigerlich innerhalb kurzer Zeit mit dem Coronavirus anstecken und anschließend – so die Hoffnung – immun sein. Dieser Ansatz soll zur Herdenimmunität führen und entspricht der 3. Strategie, wie wir sie in Abschnitt 3.2 skizziert haben.

Warum ist diese Strategie zu hinterfragen? Zu den bekannten Risikogruppen für einen schweren Verlauf von COVID-19 zählen ältere Menschen (mit stetig steigendem Risiko für schweren Verlauf ab etwa 50–60 Jahren) und Menschen mit Vorerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems (z.B. Bluthochdruck), der Lunge (z.B. Asthma, chronische Bronchitis), mit Diabetes, mit chronischer Lebererkrankung, mit Krebs, und mit geschwächtem Immunsystem (z.B. aufgrund einer Erkrankung, die mit einer Immunschwäche einhergeht oder durch Einnahme von Medikamenten, die die Immunabwehr schwächen, wie z.B. Cortison). Zudem haben auch Raucher*innen ein erhöhtes Risiko.34

Übersetzt man diese Aufzählung in Zahlen wird schnell deutlich, dass es sich hierbei nicht um kleine Randgruppen oder ein „paar alte Menschen“ handelt, sondern große Teile der Gesellschaft direkt und indirekt (beispielsweise Familienangehörige, aber auch Pfleger*innen) betroffen wären.

In Deutschland sind heute 22 Millionen Menschen 60 Jahre oder älter. Das entspricht mehr als einem Viertel der Bevölkerung. 

Viele Menschen sind von Risikofaktoren betroffen – wenngleich folgende Zahlen lediglich einen oberflächlichen Anhaltspunkt geben können, da sie etwaige Mehrfacherkrankungen und die Altersverteilung nicht korrekt berücksichtigen: Fast jeder dritte Erwachsene (zwischen 20- 30 Millionen) in Deutschland hat einen bekannten und ärztlich diagnostizierten Bluthochdruck. Das betrifft nicht nur alte Menschen: rund jeder fünfte Mann im Alter von 40 bis 49 Jahren weist zu hohe Werte auf. Auch rund 700.000 Kinder haben gemäß Schätzungen Bluthochdruck.35 In Deutschland gibt es aktuell mehr als 7 Millionen Menschen mit Diabetes. Rund ein Drittel der Erkrankten ist unter 65. Etwa 32.000 Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren sind davon betroffen.36 Etwa 10 bis 15% der Kinder und etwa 5-7% der Erwachsenen in Deutschland erkranken an Asthma – das sind rund 8 Millionen Menschen. Vor allem Kinder sind betroffen – etwa jedes 8. Kind unter 10 Jahren und jedes 10. Kind unter 15 Jahren leidet in Deutschland unter Asthma.37 Im Jahr 2016 lebten 1,67 Millionen Krebskranke in Deutschland, gemäß Zahlen zur Erstdiagnose für das Jahr 2014 waren immerhin rd. 37% der Patient*innen jünger als 65 Jahre.38 39 Zusätzlich sind rund 28% der Deutschen Raucher*innen.40

Diese Zahlen zeigen, dass von einer Selbstisolation über Monate hinweg, nicht eine kleine gesellschaftliche Gruppe, sondern jedenfalls mindestens ein Viertel, womöglich gar ein Drittel der Bevölkerung betroffen sein wird. Völlig offen bleibt, wie die Versorgung dieser “Risikogruppe” aussehen soll. Wer pflegt die Menschen im Pflege- und Altersheim? Muss sich hier das Personal über Wochen hinweg ebenfalls in Quarantäne begeben? Wie soll eine Familie ihren Alltag organisieren, um ihr asthmakrankes Kind nicht zu gefährden, wenn alle anderen Eltern und Geschwister zur Arbeit und in die Schule gehen müssen? Wie können sich betroffene Menschen mit Lebensmitteln und anderen wichtigen Gütern versorgen, ohne in Kontakt mit dem Virus zu kommen? Wie kann eine Studentin, die an Diabetes leidet, planmäßig studieren, wenn der Lehrbetrieb an der Universität wieder in den Präsenzmodus übergeführt wird? Aber auch: wie soll die alleinerziehende Krankenpflegerin, die auf die Kinderbetreuung durch die Großeltern angewiesen ist, zukünftig ihre 12-Stunden Dienste absolvieren?

Eine entscheidende Frage stellt sich auch für berufstätige Menschen, die zu einer Risikogruppe gehören: wer kommt für den Einkommensausfall auf, wenn diese nicht mehr in die Arbeit gehen können? Bleibt ihr Arbeitsplatz über Monate hinweg erhalten? Und was bedeutet diese Zwangspause für ihr berufliches Fortkommen? 

Es besteht die große Gefahr, dass sobald sich für eine Mehrheit der Bevölkerung das Leben normalisiert und vor allem die Wirtschaft wieder reibungslos läuft, die Sorgen und Nöte vieler Menschen ungehört bleiben und mit weniger Nachdruck an guten und schnellen politischen und medizinischen Lösungen gearbeitet wird. 

Zudem muss eine solche Vorgangsweise solange aufrechterhalten bleiben, bis eine wirksame Therapie oder Impfung verfügbar wird. Denn auch wenn ein Großteil der Bevölkerung nach durchgemachter Erkrankung gegen das Virus immun ist, wäre es niemand aus der Gruppe der gefährdeten Personen selbst. So könnte jeder Pensionist*innenausflug, jedes Senior*innen-Kaffeekränzchen, jeder Kirchen- oder Arztbesuch, jede Einschleppung in ein Alters- oder Pflegeheim sofort eine große Anzahl an schwerwiegenden Infektionen bedeuten. Angesichts des geringen Erfahrungswissen mit SARS- CoV-2 ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal hinreichend geklärt, ob und wie lange eine Immunität nach durchgestandener Krankheit besteht. 

Fraglich bleibt zudem, ob nicht auch die ungebremste Verbreitung des Coronavirus unter jungen und gesunden Menschen zu einer Überlastung der Kapazitäten unserer Gesundheitssysteme führen kann. Dann steht zu befürchten, dass auch unter dieser unvorbelasteten Gruppe die Verläufe schwerer, weil schlechter behandelbar, sein werden. So zeigt zwar die bisherige Datenlage, dass die tödlichen und besonders schweren Verläufe besonders Risikopatient*innen betreffen, jedoch häufen sich auch Berichte, wonach unter den hospitalisierten Personen ein hoher Anteil jüngerer Menschen sei (zu Vorerkrankungen wird hier nichts angegeben). Für Frankreich gab Gesundheitsminister Jerome Salomon am 25. März an, dass unter den 11.500 Personen die landesweit in Krankenhäusern an COVID-19 behandelt werden, rund ein Drittel der Patient*innen jünger als 60 Jahre sei.41 Eine Auswertung unter allen bis zum 16. März gemeldeten schweren Coronavirus-Infektionen in den USA zeigt, dass von 508 Patient*innen, welche mit schweren Krankheitsverläufen im Krankenhaus behandelt werden mussten, rund 20 Prozent zwischen 20 und 44 Jahre alt sind.42

Insbesondere gilt es auch die Frage des Schutzes des Gesundheitspersonals zu bedenken: in den stark betroffenen Ländern Italien, Spanien und Frankreich ist ein hoher Anteil an medizinischem Personal erkrankt. Menschen, die bei einem ungehinderten Verlauf aufgrund ihres Berufes, Alters, ihres Familienstandes und ihres Soziallebens an vielen Orten einer Ansteckung ausgesetzt sein könnten. Geschieht dies in relativ schneller Zeit, dann kann das Gesundheitssystem erst recht zusammenbrechen. In diesem Fall kann es dann stets auch bei anderen Krankheiten, Unfällen oder aber auch beispielsweise bei Geburten zu einer eingeschränkten Versorgung kommen. Entsprechend stellt sich die Frage, wie sich das medizinische Personal im Alltag vor der Ansteckung schützen soll, wenn sich das Virus in der Bevölkerung ungebremst ausbreiten kann. Beispiele der vergangenen Wochen zeigten, wie schnell die Infektion einer einzigen Ärztin, eines einzelnen Pflegers die Quarantäne für dutzende Kolleg*innen oder gar die Schließung ganzer Stationen oder Krankenhäuser bedeuten kann. Eine Variante in der sich dieses Personal ebenfalls wochen- oder monatelang selbst isolieren muss, ist schwer vorstellbar.

Neben all diesen Fragen zur konkreten Organisation dieses selektiven „Pandemie-Managements“, gilt es einige grundsätzliche politische Überlegungen anzustellen. Dies gilt umso mehr, als dass diese vom Kapital favorisierte Strategie bereits in den Überlegungen der klassischen Linken angekommen und teilweise gar bereits als alternativlos angesehen wird. Das ist auch ein Ergebnis der klassischen Gewerkschaftspolitik. Die Gewerkschaften versuchen es nicht einmal ansatzweise, eine Strategie zu Eindämmung der Pandemie zu entwerfen, die vom fundamentalen Interesse der Lohnabhängigen ausgeht, ihr eigenes Leben und ihre Gesundheit bedingungslos zu verteidigen. Zugleich ist es auch nicht mehr sinnvoll, in diesen so wichtigen Fragen auf die Gewerkschaften zu vertrauen. Umso wichtiger sind eigenständige und unabhängige Organisierungsversuche von Beschäftigten, Betroffenen und Interessierten jenseits der traditionellen Linien von Berufsgruppen und Industriebranchen. Die Gesundheit am Arbeitsplatz, die Qualität und der Sinn der Arbeit, die Löhne und die Umweltbelastungen sind gemeinsam zu erfassen und anzupacken.

Die Krise ist nicht der Moment für den Schulterschluss mit den Regierenden, sondern der Zeitpunkt, indem eine emanzipatorische Linke mit einer eigenen Erzählung wirkmächtig werden muss. Es ist ihre Aufgabe einen Vorstellungsrahmen zu eröffnen, der den Menschen über die vermeintlichen Sachzwänge hinaus aufzeigt, dass es sehr wohl eine Alternative jenseits vom Zwiespalt „Opfern der Alten und Schwachen“ und „Massenarbeitslosigkeit und Verelendung durch eine schwere ökonomische Krise“ gibt. Solange die Menschen abwägen müssen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und in existenzielle Nöte zu geraten, werden sie bereit sein, das Risiko auf einzelne gesellschaftliche Gruppen abzuwälzen. Zumal dieses Szenario als alternativlose und umsichtige Erzählung des „Schutzes besonders gefährdeter Gruppen“ ausgemalt wird. Diesen Schutz gilt es tatsächlich zu forcieren, doch nur innerhalb einer Eindämmungsstrategie, die kollektive Perspektiven entwickelt und die Schwächsten der Gesellschaft in den Blick holt. Eine Individualisierung der Verantwortung ist abzulehnen. Vielmehr gilt es die Solidarität in der Gesellschaft und bei der Krisenbewältigung zu stärken und nicht Risikopatient*innen ihrem eigenen Schicksal zu überlassen.

Wir müssen die Strategien des Kapitals als das entlarven, was sie sind: Knallharte Profitkalkulationen auf Kosten der Leben von Menschen. Dass sich das Kapital eine andere Rechnung nicht leisten will, liegt in der Natur des Systems. Doch für emanzipatorische Bewegungen muss gelten: Solange es aus epidemiologischer Sicht möglich ist, die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, muss dies versucht werden. Auch wenn dies bedeutet, dass jegliche gesellschaftlich nicht notwendige Arbeit stillsteht. Das darf keine Frage der wirtschaftlichen Kosten sein. Es ist genügend Reichtum in unserer Gesellschaft vorhanden, um eine effektive Eindämmungsstrategie so zu organisieren, dass die Menschen weder gesundheitlich noch ökonomisch in ihrer Existenz bedroht werden. Zugleich ist es naheliegend, dass unsere Gesellschaften einen solidarischen Weg finden müssen, die Alten, Schwachen und die Angehörigen der sogenannten Risikogruppen möglichst umfassend vor Erkrankung zu schützen. Solidarisch kann aber nicht bedeuten, einen Großteil der Bevölkerung einfach zu isolieren und wegzusperren. Entwickeln wir Forderungen, die es den Menschen ermöglichen, sowohl die Krankheit (the disease), als auch das Heilmittel (the cure) gut zu durchstehen.

3.5 Die europaweite Auszehrung des Gesundheitssektors durch Liberalisierung, Abbau der Zahl der Krankenhäuser, Reduktion der Bettenzahlen und Privatisierungen

Die rasche Ausbreitung der Seuche ist nicht zuletzt ein Ergebnis der jahrelangen Austeritäts- und Kürzungspolitik im Gesundheitsbereich in nahezu allen Ländern Europas. Fast überall herrscht ein bewusst herbeigeführter akuter Personalmangel. Das Gesundheitswesen ist generell unterfinanziert. Nahezu überall haben Privatisierungen und unsolidarische Finanzierungsmechanismen dazu geführt, dass die Krankenhäuser nicht funktionieren, um die Menschen zu pflegen und den Bedürfnissen der Gesellschaft zu entsprechen, sondern um Geld zu erwirtschaften, sei es direkt oder sei es durch Fall pauschalen.

Dabei geht es nicht darum, dass grundsätzlich zu wenig Geld für einen gut ausgestatteten Gesundheitssektor zur Verfügung stehen würde. In Wirklichkeit geht es darum, dass spezifisch für Gesundheit zu wenig investiert wird, dass dieser Bereich der privaten Profitwirtschaft geopfert und dadurch geschwächt wurde. Wenn argumentiert wird, die Krankenhäuser schrieben „rote Zahlen“, weswegen viele von ihnen geschlossen werden müssten, so gilt dieselbe Logik keineswegs im Rüstungsbereich, der ja zu so gut wie 100 Prozent „rote Zahlen“ schreibt – und der großzügig und EU-weit ausgebaut und gestärkt wird. Dabei gibt es auch eine direkte Einflussnahme der Rüstungsmaßnahmen auf die Corona-Krise: Das Großmanöver Defender 2020 mit dem Transport von vielen Tausend Soldaten aus den USA und aus einem halben Dutzend EU-Ländern über ein mehrere Ländergrenzen hinweg wurde Ende Januar 2020 – drei Wochen nach Ausbruch der Corona-Epidemie in China – gestartet und bis zum 12. März 2020 durchgeführt – ohne dass es dazu größere öffentliche Proteste und Einschränkungen seitens der Gesundheitsbehörden und Regierungen gab. Diese Daueransammlung Tausender Personen fand zu Zeitpunkten statt, wo die Ansammlung weniger Personen im Zivilleben in einigen Ländern bereits strikt untersagt war.

Die Tabelle 2 zeigt am Beispiel Deutschland, wie einschneidend der Abbau bei der Zahl der Krankenhäuser und der Krankenbetten im Zeitraum 1994 bis 2020 war – bei gleichzeitig explosionsartig ansteigenden Ausgaben für Rüstung.

Es ist einzugestehen, dass auch gut funktionierende Gesundheitssysteme in der aktuellen Krise an ihre Grenzen stoßen würden. Allerdings gäbe es ohne den beschriebenen Abbau im Gesundheitssektor deutlich bessere Voraussetzungen, die Krise zu bekämpfen – und beispielsweise die Bettenzahl im Bereich der Intensivstationen binnen Kürze massiv zu erhöhen.

Tabelle 2: Gesundheitssektor in Deutschland und Rüstungsausgaben in Deutschland und in der EU – 1994-2019


1994 2010 2020 2020 gegen 1994

Ziel 2030
absolut in %
Bevölkerung 81,5 Mio. 81,7 Mio. 83,1 Mio. +1,6 Mio. +2%
Gesundheitssektor in Deutschland
Zahl der Krankenhäuser 2337 2064 1938 -399 -17,1% 950***
Zahl aufgestellte Betten 615.000 500.000 490.000 -125.000 – 20,3% 400.000
Krankenbetten je 100.000 Einwohner 754,6 612,0 589,7 -164,9 -21,8%







Rüstungsausgaben Deutschland und in der EU Ziel: 2% des BIP
Rüstungsausgaben Deutschland in Mrd. Euro 25,0 31,11 50,32 (45,10)* + 25,32 Mrd. Euro 201,3 % 90-100 Mrd Euro
Rüstungsausgaben EU 150 Mrd. Euro 242 Mrd. Euro + 92,0 Mrd. Euro** 161,3% 480 Mrd. Euro

Quellen: Statistische Jahrbücher // reimbursementinstitute // SIPRI; Bundesverteidiungsminiusterium; Broschüre „Militärmacht Europa – explodierende Rüstungsausgaben, Informationsstelle Militarisieruing (IMI), herausgegeben von GUE/NGL und DIE LINKE (Europaparlament) // Fred Schmidt, isw, Oktober 2019; isw // * Zahl 50,32 Mrd Euro = die seitens der Bundesregierung gegenüber der Nato genannte Höhe der Ausgaben , einschließlich der Beteiligung an den Kosten der Stationierung der US-Einheiten in Deutschland und einschl. der „friedenschaffenden und friedenerhaltenden Maßnahmen“ im Budget des Auswärtigen Amtes. // ** Wachstum 2020 gegenüber 2010. // *** Das Ziel von 950 Krankenhäusern – einer weiteren Halbierung – bezieht sich auf eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, die im Juli 2019 vorgestellt wurde und zu der es seitens der Bundesregierung keinen grundsätzlichen Widerspruch gab.

3.6 Klasse, Geschlecht und Virusbekämpfung

Das Corona-Virus diskriminiert nicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen es auftritt, jedoch umso mehr. Die Strategien der Regierungen haben einen Klassencharakter und wirken geschlechtsspezifisch. Die strategische Entscheidung, die Mehrwertproduktion um jeden Preis aufrechtzuerhalten, dient den Kapitalinteressen in den jeweiligen Ländern. Durch die Aufrechterhaltung des Arbeitszwangs werden die Lohnabhängigen bewusst dem Ansteckungs- und Krankheitsrisiko ausgesetzt. Da Lohnfortzahlung und Unterstützungszahlungen für Prekäre und kleine Selbständige zumeist nicht geregelt sind, erfahren die betroffenen Menschen einen ungeheuren Druck, sich weiterhin dem Ansteckungsrisiko auszusetzen. Daran ändern auch die individualisierten Appelle, man möge doch zu Hause bleiben, nichts.

Reiche Menschen können sich ihre gut ausgerüsteten Plätze in den Krankenhäusern und sogar eigene Diagnostik- und Beatmungsgeräte kaufen. Teure private Zusatzversicherungen mit erweitertem Leistungsumfang erhöhen in der Krise die Wahrscheinlichkeit auf bevorzugte Behandlung. Aus Orten mit Yachthäfen in Italien, Frankreich und in den USA wird berichtet, dass Dutzende Luxusboote, bepackt mit Proviant für viele Wochen, ausgelaufen wären. In vielen Ländern, insbesondere den USA, stellt sich überhaupt die Frage der Krankenversicherung und ob jemand sich jegliche Behandlung, aber auch bereits den Test auf die Infektion leisten kann. Auf die Krankenversicherungen werden zusätzliche Belastungen zukommen. Antworten diese mit Prämienerhöhungen und Leistungsabbau, treffen sie die arme Bevölkerung weit überdurchschnittlich. Menschen mit hohem Einkommen haben eine deutlich höhere Lebenserwartung. Menschen, die unter schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen leiden, sterben früher.43 Die Quarantänemaßnahmen haben einen Klassencharakter. Sie treffen eine vielköpfige Familie in einem Wohnblock ungleich härter, als Menschen mit eigenem Haus und Garten. Senior*innen mit Mindestrente können sich keinen teuren Lieferservice leisten und bleiben gezwungen sich bei alltäglichen Besorgungen einem erhöhten Ansteckungsrisiko auszusetzen. Migrant*innen arbeiten häufiger unter schlechten Bedingungen und wohnen eher in beengten Verhältnissen. Sie sind daher wesentlich härter von einschneidenden Quarantänemaßnahmen betroffen, als diejenigen, die sich durch Homeoffice im schönen Eigenheim wesentlich leichter und bequemer abschirmen können.

Im Gesundheits- und Pflegesystem und im Lebensmittel-Einzelhandel sind überdurchschnittlich viele Frauen beschäftigt. Diese Menschen werden in den kommenden Wochen vielfach über ein vorstellbares Maß hinaus sowohl physisch als auch psychisch belastet werden. Sie stehen im Kampf gegen Corona an der Frontlinie, ständig dem Risiko der eigenen Ansteckung ausgesetzt. Umso mehr als adäquate Schutzbekleidung knapp werden kann, wie sich bereits an manchen Orten in Italien zeigt.

Die Schließungen von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen haben zur Folge, dass vielfach die Frauen die Kinder zu Hause betreuen müssen. Sie werden vor der Herausforderung stehen, Berufstätigkeit, Kinderbetreuung, und Haushaltsführung unter erschwerten Bedingungen zu bewältigen. Alleinerzieherinnen sind hiervon besonders hart betroffen. Noch keines der deutschsprachigen Länder hat die Schulschließungen mit ausreichenden Maßnahmen im Bereich von Anspruch auf Betreuungsurlaub, Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung etc. flankiert. So können in Österreich etwa Lohnabhängige mit Betreuungspflichten für Kinder unter 14 Jahren von den Betrieben und Unternehmen bis zu drei Wochen Sonderbetreuungszeit bekommen. Die Entscheidung darüber trifft allerdings das Unternehmen. Ein Drittel der Lohnkosten für diese Zeit übernimmt der Staat.

Frauen sind zudem mehrheitlich zuständig für die Pflege und Sorge der älteren Generation, für die Einkäufe und andere Unterstützung geleistet werden muss. Auch von den Schließungsmaßnahmen und Einschränkungen im Tourismus, in der Gastronomie, im Handel, in der Kinderbetreuung etc. sind Frauen deutlich stärker betroffen, da all diese Bereiche überdurchschnittlich viele weibliche Arbeitskräfte aufweisen. Vielfach ist noch unklar, welche arbeitsrechtlichen Regelungen getroffen werden. Die Unternehmen drängen bereits auf die Möglichkeit zur augenblicklichen Kündigung der Mitarbeiter*innen.

Verschärfend kommt der zu erwartende Anstieg häuslicher, männlicher Gewalt gegenüber Frauen hinzu. Die Statistik zeigt seit Jahren einen massiven Anstieg rund um die Feiertage, wenn die Familien zusammen sind. Unter den verschärften Voraussetzungen von Isolation oder Ausgangsbeschränkungen werden Gewalttaten von Männern gegenüber Frauen in ihren eigenen vier Wänden womöglich stark zunehmen. Studien über die Situation in Wuhan ergaben eine Verdreifachung der Gewalt gegen Frauen in den Zeiten der Corona-Krisen-bedingten Isolation.44

Die Regierungen kalkulieren mit ihren Strategien zur Abbremsung der Ausweitung der Infektionen und Neuerkrankungen bewusst die höhere häusliche Belastung der Frauen ein und setzen zugleich die Berufstätigen bewusst einem höheren Ansteckungsrisiko aus. Sie tun dies, um die Schlüsselsektoren der Wirtschaft und die Position der Konzerne im internationalen Wettbewerb nicht zu schwächen.

Eine besondere Krisensituation gibt es dabei dort im Bereich der häuslichen Pflege von Seniorinnen und Senioren, wo sich Personal aus anderen Ländern, vor allem aus Osteuropa, bislang im Einsatz befindet. Allein in Deutschland sind dies mehr als 350.000 Menschen – fast ausschließlich Frauen. 90 Prozent von ihnen sind schwarz beschäftigt. Diese Frauen leisten aktuell in den Zeiten der Corona-Krise eine besonders belastende Arbeit. Fast alle von ihnen haben zu Hause Familien, in denen jetzt in dem Maß, wie die Corona-Epidemie diese Länder selbst erreicht, verstärkt Arbeit anfällt und es Bitten zur Rückkehr gibt. Bei einem erheblichen Teil dieser Familien gibt es seinerseits ältere Personen, die nun verstärkt der Betreuung bedürfen. Hinzu kommen die Reisebeschränkungen, die geschlossenen Grenzen. In dieser Krise wird deutlich, wie unverantwortlich es war, überhaupt ein solches westeuropaweites System zuzulassen, in dem die Betreuung von Seniorinnen und Senioren zu einem großen Teil ausländischen Arbeitskräften und hier zu 90 Prozent von Frauen aus Osteuropa geleistet wird.

4 Kapital, EU, Nationalstaat und Corona

4.1 Sie wissen, was sie tun und lassen. Oder: Der Raubtierkapitalismus am Beispiel der Nase-Mund-Masken

Ganz offensichtlich ist die aktuelle Krise vom Kapitalismus und den Regierenden hausgemacht. Das wurde oben am Beispiel der massenhaften Schließung von Krankenhäusern und dem Abbau der Bettenzahl in Kliniken dokumentiert. Das betrifft aber auch die konkrete Form dieser Pandemie. Wie oben bereits kurz erwähnt, gab die deutsche Bundesregierung im Jahr 2012 eine Risikostudie in Auftrag, die am 3. Januar 2013 mit dem Titel „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ veröffentlicht wurde (Bundestagsdrucksache 17/12051). Federführend beteiligt war das Robert Koch-Institut. Die Analyse beschreibt ein „außergewöhnliches Seuchengeschehen“, verursacht durch einen „neuartigen Erreger“ des Typs SARS. Er kommt aus Asien und wird von Reisenden nach Deutschland eingeschleppt. O-Ton: „Obwohl die laut Infektionsschutzgesetz und Pandemieplänen vorgesehenen Maßnahmen […] schnell und effektiv umgesetzt werden, kann die rasche Verbreitung des Virus aufgrund des kurzen Intervalls zwischen zwei Infektionen nicht effektiv aufgehalten werden. Zum Höhepunkt der ersten Erkrankungswelle nach ca. 300 Tagen sind ca. 6 Millionen Menschen in Deutschland an Modi-SARS erkrankt … […] Bei einem Auftreten einer derartigen Pandemie wäre […] mit immens hohen Opferzahlen […] zu rechnen.“ Aufgeführt werden „bis zu 7,5 Millionen Tote“. Und: „Das Gesundheitssystem wird vor immense Herausforderungen gestellt, die nicht bewältigt werden können.“ Der damalige Gesundheitsminister, Daniel Bahr (FDP), der die Studie in Auftrag gegeben hatte, wechselte bald darauf nahtlos zur Allianz Private Krankenversicherung, wo er heute noch im Top-Management ist. Die Bundeskanzlerin von damals ist die heutige. Seither wurden in Deutschland mehr als 120 Kliniken geschlossen und mehr als 10.000 Krankenbetten abgebaut. Da stand aber wörtlich, dass das damalige Gesundheitssystem vor Herausforderungen gestellt sein würde, „die nicht bewältigt werden können.“ Wie verträgt sich ein solches Verhalten damit, dass die Kanzlerin (und vergleichbar alle Minister) bei jedem neuen Amtsantritt das Gelöbnis leisteten: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen […] Schaden von ihm wenden […] meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ 45

Seit einem Vierteljahr praktiziert ein großer Teil der chinesischen Bevölkerung und seit zwei Monaten ein größerer Teil der Menschen in Südkorea, in Taiwan und in Singapur das Tragen von Nase-Mund-Masken als einen gewissen Schutz vor neuen Covid-19-Infektionen. Es war dort nach wenigen Wochen möglich, den gigantischen Bedarf an solchen Masken abzudecken – zu einem größeren Teil durch Konversion (etwa im GM-Werk in China; siehe unten). In Europa erleben wir hingegen eine wochenlange Debatte darüber, inwieweit das Tragen solcher Masken einen Schutz darstellen würde. In Österreich ist dann das Tragen solcher Masken beim Einkauf seit Anfang April Pflicht. In Deutschland haben zum gleichen Zeitpunkt erste Städte – so Jena – vergleichbare Auflagen erlassen. Zum gleichen Zeitpunkt erklären allerdings die obersten deutschen Behörden noch, das sei eine nicht sinnvolle Schutzmaßnahme und begründen dies wortreich im elaboriertem, medizinischen Jargon. Dabei ist das Ganze leicht zu durchschauen: Solange es nicht ausreichend Masken gibt, solange wird behauptet, diese zu tragen sei nicht sinnvoll, nicht wirksam, überflüssig usw. Sobald ausreichend Masken zur Verfügung stehen, gibt es Auflagen, wann diese verpflichtend zu tragen seien. Gleichzeitig entwickelt sich auf diesem Gebiet ein mit harten Bandagen ausgetragener Konkurrenzkampf. Anfang April warfen französische Politiker den USA vor, für Frankreich bestimmte Lieferungen von Schutzmasken in China aufzukaufen. Renaud Muselier, Präsident der Region Provence-Alpes-Cote d’Azur, erklärte gegenüber dem Fernsehsender BFMTV am 2. April, dass für Frankreich bestimmte Maskenlieferungen „auf dem Rollfeld chinesischer Flughäfen“ weggekauft worden seien. Und dass „der Täter“ dabei die USA gewesen seien. Seinen Angaben zufolge wurde der dreifache Preis für die Sendung bezahlt.46 Vergleichbares ereignete sich kurz darauf auf dem Flughafen von Bangkok: Ein Flugzeug, beladen mit 200.00 Masken, die der Berliner Senat bestellt hatte, um damit die Polizisten der Stadt auszustatten, wurde in die USA umdirigiert. Nachdem der Innensenator der Stadt, Geisel (SPD), dies öffentlich machte und erklärte, dass es sich hier um eine „Akt moderne Piraterie“ und um „Wildwestmethoden“ handle, was „unter transatlantischen Freunden“ nicht akzeptabel sei, erhielt er schnell Kontra. Ein US-Regierungssprecher behauptete, all das sei „komplett falsch“. Und die der transatlantischen Partnerschaft besonders verpflichtete CDU – im Berliner Abgeordnetenhaus in der Opposition befindlich – forderte, Geisel müsse sich „bei der Regierung in Washington entschuldigen“.47

Eine Maske mittlerer Qualität hat einen Produktionswert von 20 bis 50 Cent. Eine bei der süddeutschen Textilfirma Trigema – die seit vielen Jahren ihre Vaterlandsliebe damit unterstreicht, dass sie weiterhin ihre Produkte ausschließlich in Deutschland herstellen würde – gestellte bescheidene Anfrage nach einer Lieferung von 10 Masken wird Anfang April wie folgt beantwortet: 10 Masken würden 120 Euro kosten – lieferbar Anfang Mai 2020. Das sind eine Verzwanzigfachung der Kosten und wohl eine Steigerung des Gewinns je Maske um mehr als das Hundertfache. Man muss davon ausgehen, dass die öffentliche Hand und hunderte Krankenhäuser, an die dieses Unternehmen (und Dutzende andere) Masken liefern, im Großen und Ganzen diese Preise bezahlen. Ist das eben so, weil es das Marktgesetz von Angebot und Nachfrage gibt, dem man sich beugen müsste? Nein. Es gibt in allen Ländern gesetzliche Regelungen, die ein derartiges Verhalten untersagen. In Deutschland ist dies das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) und dort der § 138 „Sittenwidriges Rechtsgeschäft; Wucher“, wo es heißt: „(1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.(2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen.“ In Österreich kommt der ABGB § 879 und in der Schweiz der Artikel 21 des OR bzw. StGB 157 in Betracht, um Derartiges auszuschließen.

Doch diese Gesetze gelten natürlich nur abstrakt. Im Konkreten kommt diese Krise zwar viele teuer zu stehen. Sie ist für einige aber auch ein deftiges Geschäft.

4.2 Bankrott der EU – Nationalstaat gegen Nationalstaat

Eric Gujer, Chefredakteur der NZZ, schreibt am 16. März in der NZZ: „Europa stünde besser da, wenn es koordiniert gehandelt hätte. Das wäre keine Solidarität mit den zuerst betroffenen Italienern gewesen, kein Altruismus, sondern wohlverstandenes Eigeninteresse. Was Italien durchmacht, rollt nun auch auf das Tessin zu, das nun einmal zur Großregion Mailand gehört. Weil jeder Staat alleine handelte, drohen nun alle dieselbe Überwältigung zu erleben – nur zeitlich versetzt.“48 Diese Feststellung ist zweifellos korrekt. Als überzeugter Liberaler kann er jedoch keine weitergehenden Schlüsse ziehen als auf die künftigen Lerneffekte der Regierungen und liberalen Demokratien zu setzen.

Die EU hat moralisch und politisch komplett versagt und zwar nicht nur, weil die führenden Politiker*innen den Ernst der Lage nicht erkannten, sondern weil die EU eben hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer vertraglichen Basis (EGW-Gründungserklärung, Maastricht-Vertrag; Lissabon-Vertrag) keine Solidargesellschaft, sondern eine Organisation zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Stärksten in Europa ist. Die EU war zu keiner Zeit willens und in der Lage, die Strategien der Regierungen zu koordinieren. Sie war weit davon entfernt, den Menschen in Italien entschlossen beizustehen. Noch bis Anfang 2020 hielt sie konsequent an den neoliberalen Dogmen der Austeritätspolitik und des freien Kapital- und Warenverkehrs fest. In diesen dramatischen Tagen beschließen die EU, die EZB und die Regierungen Rettungspakete in bislang unvorstellbarer Höhe für die Wirtschaft und den Finanzsektor. Sie treiben damit die Staatsverschuldung sprunghaft in die Höhe. Doch wie in früheren Krisen ist zu erwarten, dass sie nach einer Beruhigung der Lage, alles daransetzen werden, die Rechnung auf die Masse der Lohnabhängigen, Prekären, Scheinselbständigen und Armen abzuwälzen. Ein Mittel werden dabei die dann nochmals höheren Schuldenquoten sein. Zumal angekündigt wurde, dass die Schuldenbremsen und die Orientierung an der „schwarzen Null“ nur zeitweilig ausgesetzt werden würden. Nach der Krise wird argumentiert werden, nun müsse verstärkt „gespart“ werden.

Die EU kündigte am 10. März 2020 ein mit 25 Milliarden Euro dotiertes Sonderpaket zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgewirkungen der Coronakrise und zur Stützung der Wirtschaft an. Das Geld solle vor allem Klein- und Mittelbetrieben (KMU) helfen und Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit unterstützen.49 Die EU stellt klar, dass das keine zusätzlichen Mittel sind. Es gebe keinen „Corona-Fonds“. Die Gelder würden aus anderen Bereichen umverteilt. Auf einer nächtlichen Konferenz der EU-Regierungschefs am 26. und 27. März kam es zu einer Neuauflage dieses EU-Beschlusses, wobei es nun ein Hilfspaket „im Kampf gegen die Coronakrise“ in Höhe von 37 Milliarden Euro sein soll – erneut mit dem Hinweis, dass es sich nicht um neue Gelder, sondern in erster Linie um die Umwidmung von Geldern aus anderen Fonds handeln würde. Wer am Ende dieses Geld für welche Zecke bekommen wird, wird die Öffentlichkeit wohl erst im Nachhinein erfahren. Zumindest in dieser Hinsicht ist US-Präsident Trump ehrlicher, wenn er ganz offen mit seinen „Deals“ mit Großkonzernen prahlt. Doch auch die Präsidentin der EU-Kommission von der Leyen äußert sich unmissverständlich: „Wir werden alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, damit die europäische Wirtschaft diesem Sturm widersteht.“50

Die Länder im Zentrum der EU drücken die südlichen EU-Ländern an die Wand. Deutschland und die Niederlande wollen keine EU-Anleihen, um Italien und Spanien zu helfen. Mit der totalen Lähmung der Wirtschaft stehen die hoch verschuldeten Volkswirtschaften Italiens und Spaniens vor dem Abgrund. Das Angebot von Bundeskanzlerin Merkel und dem niederländischen Ministerpräsidenten Rutte besteht indirekt darin, dass Spanien und Italien ein Memorandum unterzeichnen, das jenem ähnlich ist, zu dem Griechenland im Sommer 2015 – nach dem Referendum, in dem mehr als 60 Prozent der Griechinnen und Griechen mit „ochi“ (Nein) votierten – gezwungen wurde. In einem solchen Fall würde die Troika (EU-Kommission, EZB und IWF) die Kontrolle über die Finanzen Italiens und Spaniens übernehmen und den Ländern bereits in wenigen Monaten die Einführung von einschneidenden Sparmaßnahmen aufzwingen.51

Die rasante Verschlechterung der Situation und die Maßnahmen der getriebenen nationalen Regierungen können nun allerdings in Widerspruch zu den Prinzipien des freien Warenverkehrs in der EU geraten. Deshalb nimmt von der Leyen die Situation zum Vorwand, um nochmals in aller Deutlichkeit den freien Warenverkehr zu verteidigen. Gesundheitsschutz dürfe nicht dazu führen, dass wichtige Güter und Personal blockiert würden. „Wenn wir jetzt nicht handeln, werden Läden Schwierigkeiten bekommen, ihre Lager mit bestimmten Produkten zu füllen“, meinte von der Leyen in einem Video vom 15. März 2020 auf Twitter. „In diesem Moment der Krise ist es von äußerster Wichtigkeit, unseren gemeinsamen Binnenmarkt am Laufen zu halten.“52 Das ist pure Heuchelei, wo doch ausgerechnet Deutschland Transitlieferungen von medizinischem Material an die Schweiz und an Österreich im Hamburger Hafen blockierte. Ganz offen und brutal will die EU die Lieferung medizinischer Hilfsmittel an Drittstaaten unterbinden. Die Schließung der EU-Außengrenzen ist an Zynismus kaum zu überbieten. Die EU selbst ist Epizentrum und Herd der Pandemie und zentral mitverantwortlich für die laufende gesellschaftliche Katastrophe. Die Probleme kommen nicht von außen, sondern sie entstehen und vermehren sich ausgehend vom Zentrum der EU.

Die EU hätte Anfang bis Mitte Februar Zeit gehabt, mit einer Garantie der solidarischen Übernahme aller Kosten der erforderlichen rund ein- bis zweimonatigen Wirtschaftspause in den betroffenen Gebieten Norditaliens entscheidend zur Ausbremsung der Seuche beizutragen. Das hat sie bewusst nicht gemacht und im Gegenteil die Menschen in Italien alleine gelassen. Sie trägt Mitschuld am Tod von bereits als 15.000 Toten in Italien (Stand am 4. April 2020) und Abertausenden von Toten in anderen Ländern Europas und auf der Welt.

Diese Krise zeigt einmal mehr, dass die EU ein wesentliches Hindernis für jegliche Art solidarischer und ökologischer Politik ist. Nun sind Ärzt*innen aus China und Kuba mit Hilfslieferungen (31 Tonnen medizinischer Güter inklusive tausende Beatmungsmaschinen) in Norditalien zur Unterstützung der Bevölkerung eingetroffen. Auch aus Russland gibt es Hilfslieferungen. Selbst sogar Albanien – wohl eines der ärmsten Länder überhaupt in Europa – sandte Ende März Hilfe nach Italien: „Heute sind wir alle Italiener: Die Albaner lassen einen Freund in Schwierigkeiten nicht im Stich´“. Mit diesen Worten verabschiedete der albanische Premier Edi Rama am 31. März auf dem Mutter-Theresa-Flughafen in Tirana die Entsendung von 30 freiwilligen Ärzten und Krankenschwestern in das von der Pandemie massiv betroffene norditalienische Städtchen Bergamo.53

Abgesehen vom unmittelbaren Nutzen, vermitteln diese Hilfsmaßnahmen eine ungeheure Symbolwirkung. Die EU lässt Italien im Stich, wohingegen es Hilfeleistungen auf China, Kuba, Russland und Albanien gibt. Gegen Russland richtete sich das Großmanöver Defender 2020. China wurde 2019 von den USA und der Nato als zukünftiger militärischer Gegner identifiziert. Kuba unterliegt seit Jahrzehnten massiven westlichen Sanktionen. Und Albanien taucht in unseren Medien am ehesten im Zusammenhang mit Mafia-Strukturen auf. Die EZB-Chefin Christine Lagarde verlautbarte in einer Zeit höchster Not und Dringlichkeit in einer Pressekonferenz am 12. März, dass es nicht Aufgabe der EZB sei, die Haushaltsprobleme und die Herausforderung der stark ansteigenden Zinszahlungen Italiens zu lösen. Zwar gab es eine Woche später EZB-Beschlüsse, die auch Unterstützungsmaßnahmen für Italien und Griechenland vorsehen. Diese dürften jedoch vor allem aus der Angst heraus entstanden sein, eine schnelle Zuspitzung der Krise in Italien könne massive Rückwirkungen auf die gesamte EU und dabei vor allem auch auf Deutschland und Frankreich haben. Die grundsätzliche Haltung der EU im bisherigen Verlauf der Krise trägt jedenfalls dazu bei, dass sich Italiens wirtschaftliche Situation verschärft und der politische Handlungsrahmen zur Bewältigung der Krise sich erheblich verkleinert. Die EU ist in ihrem Kern eine unsolidarische, undemokratische und autoritäre Organisation, die sich gegen eine wirkliche Kooperation zwischen den Gesellschaften in Europa und auf globaler Ebene richtet. Die EU ist nicht reformierbar. Es gilt das Bewusstsein zu schärfen, dass die EU grundsätzlich in Frage zu stellen ist. Mit ihr lässt sich keine solidarische und ökologische Wende einleiten.

Die nationalen Regierungen haben einen absurden Wettlauf eingeleitet und schließen sich gegenseitig die Grenzen – paradoxerweise auch für dringend nötige Arbeitskräfte. EU-Länder halten sich gegenseitig medizinische Schutzausrüstung, Medikamente, aber auch Personal vor. Die Schweizer Regierung fürchtet, dass Frankreich auf die vielen Tausend französischen Beschäftigten im Schweizer Gesundheitswesen zugreift und sie zwingt, im Heimatstaat zu arbeiten. Allein in Österreich sind sechzigtausend Pfleger*innen aus Osteuropa in der 24-Stunden-Pflege tätig. Können (oder wollen) diese nicht mehr einreisen, stellt das die österreichische Regierung, aber auch viele Familien vor akute Herausforderungen. In der deutschen und österreichischen Landwirtschaft arbeiten in der Hauptsaison mehr als dreihunderttausend Erntehelfer*innen aus den Balkan-Ländern und dem übrigen Osteuropa. Am 25. März erließ die deutsche Regierung ihrerseits ein Einreiseverbot für Erntehelfer aus Furcht vor neuen Corona-Infektionen. Dagegen gibt es massive Proteste der Interessenvertretungen der Landwirtschaft. Tatsächlich wird die Landwirtschaft unter den gegebenen Bedingungen nicht wie üblich funktionieren können, was rasch zu Versorgungsengpässen führen kann. Werden deshalb (arbeitslose) Arbeitskräfte in den Ländern (zwangs)rekrutiert oder werden die Grenzen doch wieder selektiv geöffnet? Schon wird in Deutschland vorgeschlagen, es Asylbewerbern zu ermöglichen, saisonale Erntearbeit zu leisten. Dabei handelt es sich dann oft um Menschen, die von Abschiebung bedroht sind. Jetzt also sollen diese in Angst lebenden Menschen vor einer möglichen Abschiebung nochmals ein paar hundert Euro beim Spargelstechen oder Erdbeeren-Ernten verdienen dürfen – wofür? Um sich an den Flugkosten für die Abschiebungen zu beteiligen? Ein rundum perverses Wirtschafts- und Repressionssystem. Auch die Speditionsfirmen kommen nun in Bedrängnis, weil sie auf billige Arbeitskräfte aus Osteuropa setzen und diese nun nicht mehr einreisen dürfen oder wollen. Ungarn hat den Arbeitskräftekorridor zwischen Ost- und Westeuropa geschlossen. Diese geradezu grotesk und verrückt anmutenden Vorgänge offenbaren, wie sich die Widersprüche in Europa dermaßen zugespitzt haben, dass ein Wettlauf gemäß der Maxime „rette-sich-wer-kann“ eingesetzt hat. Wenn die Regierungen und die EU nicht in der Lage sind, diese Widersprüche zu lösen oder zumindest zu moderieren, entsteht ein weiterer Krisenprozess, der schließlich in das teilweise Zerbrechen der EU münden kann.

4.3 Das Ausmaß der Wirtschaftskrise und die fatale Verbindung von Corona-Pandemie und internationale ökonomische Krise

Die Weltwirtschaft hatte sich im zweiten Halbjahr 2019 dem Ende eines langen Zyklus, der 2009 eingesetzt hatte, genähert. Die industrielle Produktion auf Weltebene lag Anfang 2020 bereits auf Stagnationsniveau. Die deutsche Industrieproduktion war 2019 bereits um vier Prozent rückläufig. Die Weltautofertigung lag Ende 2019 um 9 Prozent unter dem Höchststand von Ende 2017. Auch in China gab es in einzelnen industriellen Sektoren nur noch ein bescheidenes Wachstum. Vor diesem Hintergrund hätte es unter „normalen“ Bedingungen 2020 den Beginn einer weltweiten Rezession mit unklarem Entwicklungspotential gegeben. Seit Februar 2020 hat sich dieser Abwärtstrend beschleunigt – in erster Linie durch die Corona-Epidemie und die Stilllegung größerer Teile der Weltwirtschaft. Inzwischen – Stand Anfang April – spricht viel dafür, dass sich die aktuelle Krise in Kombination mit der Corona-Pandemie zu einer neuen Weltwirtschaftskrise entwickeln wird. Alle wichtigen Institutionen – Weltbank, IWF, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, Wirtschaftsforschungsinstitute, die westlichen Regierungen und die EU gehen davon aus, dass es 2020 einen Rückgang des Welt-Bruttoinlandsprodukts, einen noch stärkeren Rückgang des Welthandels und eine von Land zu Land unterschiedlich stark ausgeprägte Wirtschaftskrise geben wird. Dabei sind die offiziellen Erwartungen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den Ländern Österreich, Schweiz und Deutschland noch eher zurückhaltend. Für Österreich geht das Finanzministerium in Wien von einem BIP-Rückgang 2020 von 2,5 Prozent aus. Das Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) erwartet für die Schweiz im laufenden Jahr nur ein BIP-Einbruch von 1,5 Prozent. Die „Wirtschaftsweisen“ – der offizielle Sachverständigenrat der Berliner Regierung – gehen von einem 5,4 Prozent-BIP-Rückgang der deutschen Wirtschaft aus. Wobei das, was für Deutschland offiziell erwartet wird, bereits eine Krise vom Ausmaß 2008/2009 wäre.

Wirft man einen Blick auf die Börsen, dann spricht einiges dafür, dass es deutlich schlimmer kommen wird. Alle wichtigen europäischen und US-Börsenindizes haben – mit Stand 31. März 2020 – im ersten Quartal 2020 zwischen einem Viertel und einem Drittel ihres Werts eingebüßt. Siehe Tabelle 4.

Tabelle 3: Entwicklung der Börsenindizes wichtiger Länder im ersten Quartal 2020

Land bzw. Stadt Index Einbruch zwischen dem Höchststand im 1. Q. 2020 bis 31. März 2020
Deutschland DAX 26 %
Schweiz SMI 13,0%
Österreich ATX 38%
Großbritannien FTSE 25%
Frankreich CAC40 27%
Spanien/Madrid IBEX 30%
Italien/Milano FTSE-MIB 29%
Russland/Moskau RTS 35%
USA New York Dow Jones Industrial 24%
Japan Nikkei 19%
Hongkong Heng Seng 17%
VR China Shanghai Composite 10%
Süd Korea Kospi 19%
Brasilien Bovespa 36%

Eine Ausnahme bildet dabei der Shanghai Composite, der wichtigste Börsenindex der VR China, mit nur 10 Prozent Minus. Darin spiegelt sich die Tatsache wider, dass in China die Corona-Epidemie eingegrenzt erscheint und Ende März die Produktion in den meisten Fabriken, auch in der Corona-Ursprungs-Region Hubei, wieder aufgenommen wurde. Sehr hohe Einbrüche gibt es in Italien (-29%) und Spanien (-30%), was vor allem auf die aktuelle Dramatik der dort wütenden Corona-Epidemie zurückzuführen ist. Der Einbruch in Moskau (-35%) bringt die Problematik des Ölpreiseinbruchs, unter dem Russland besonders leidet, zum Ausdruck. Das 36-Prozent-Minus in Brasilien reflektiert die Kombination aus der dortigen inländischen Wirtschaftskrise und dem extrem verantwortungslosen Umgang mit der Corona-Epidemie, wie sie von dem faschistoiden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro praktiziert wird.

Dabei ist die beachten: Die Tabelle dokumentiert die Börsen-Stände am 31. März. Zuvor gab es zeitweilig Einbrüche an fast allen aufgeführten Börsenplätzen von 40 und teilweise 45 Prozent. Bis Ende des ersten Quartals hatten sich die meisten Indices (die ja in der Regel einen Durchschnittswert der wichtigsten Aktienkurse des jeweiligen Landes darstellen) wieder leicht erholt und einen Teil des Einbruchs wettgemacht. Dies hat handfeste Gründe: Im Zeitraum Mitte März bis Ende März ergriffen die Zentralbanken und Regierungen in Westeuropa und in den USA massive Maßnahmen zur Eindämmung der Krise. Dabei regnete es (und regnet es noch) aus einem Füllhorn staatlicher Institutionen bislang unvorstellbare Summen. Weltweit dürften allein im Monat März 2020 mehr als vier Billionen US-Dollar an öffentlichen Geldern als Stützen für Konzerne, Banken, kleine Unternehmer und den privaten Konsum zugesagt worden sein.54 Das ist mehr als in der Krise 2007-2009 insgesamt an staatlichen Geldern für Konjunkturstützung und Bankenrettung ausgegeben wurde. In der Schweiz wurde Mitte März ein Paket im Wert von 42 Milliarden Schweizer Franken beschlossen. In Österreich gab es einen vergleichbaren Beschluss im Wert von 38 Milliarden Euro. In Deutschland beziffern sich die entsprechenden Ausgaben bis Ende März auf mehr als 600 Milliarden Euro. Es ist mehr als natürlich, dass die „sensiblen“ Börsen auf diese Art Geldregen positiv reagierten.

Die Arbeitslosenzahlen steigen längst an. In Österreich wurden alleine an den zwei Tagen, die unmittelbar dem Erlass der Ausgangsbeschränkungen folgten, dem 16. und 17. März, 49.000 Menschen neu arbeitslos gemeldet. Das ist ein Zuwachs der Arbeitslosigkeit um über 12% in nur zwei Tagen. Wenn es bis Ende März insgesamt noch keinen sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit gibt, dann hat das vor allem mit den erwähnten weitreichenden Programmen zu tun und mit den massiven Versuchen, durch massiv ausgeweitete Kurzarbeit-Regelungen – also die weitgehende Übernahme der Lohnkosten durch den Staat (bei gleichzeitigen deutlichen Reduktionen der Nettoeinkommen) – den Anstieg der Arbeitslosigkeit zunächst auszubremsen.

Es spricht viel dafür, dass der Härtetest für die Wirtschaft erst noch bevorsteht. Hunderttausende Kleinexistenzen, denen in den ersten sechs bis acht Wochen mit den aktuellen Staatshilfen über die Runden geholfen wird, dürften im Sommer 2020 vor dem Aus stehen. Der für Österreich und die Schweiz und für einzelne deutsche Bundesländer wichtige Tourismus wird 2020 massive Einbrüche mit vielen vernichteten Existenzen erleben. Vielen mittelständischen Unternehmen droht die Insolvenz. Österreichs Baukonzerne stellten die Bauarbeiten an sämtlichen Baustellen ein. Bereits Ende März mussten erste größere Unternehmen zum Konkursrichter gehen – so die Restaurantketten Vapiano und Maredo. Der Handelskonzern Galeria-Karstadt-Kaufhof flüchtete sich Anfang April unter einen staatliches „Schutzschirmverfahren“. Ein weltweit aktiver Autozulieferer mit 95.000 Beschäftigten (Leoni) steht vor dem Aus. Mehrere Airlines (Swiss, AUA, Lufthansa) rufen nach Staatshilfen; die deutsche Regierung plant, „bei der Lufthansa einzusteigen“ (wobei diese Airline bis 1994 eine rein staatliche war und die Kosten eines erneuten „Einstiegs“ wesentlich höher sein werden als die Gewinne aus der damaligen Privatisierung).

Die Behauptungen einiger Keynesianer, dass die massiven staatlichen Hilfen aus dem Nichts zu schaffen seien, dass sie gewissermaßen am Ende „nichts kosten“, sind haltlos. Die staatlichen Programme, die 2008/2009 getätigt wurden, hatten sich in deutlich erhöhten Staatsschulden niedergeschlagen, die die massiv verstärkte neoliberale Sparpolitik beschleunigt und nicht zuletzt zur Euro-Krise 2012-2015, zur dramatischen griechischen Krise 2015 und zum beschriebenen Kaputtsparen des Gesundheitswesens beigetragen hatten. Ohne ein massives Gegensteuern von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen droht Vergleichbares nach der neuen kombinierten Wirtschats- und Corona-Krise (siehe unten Abschnitt 4).

Wobei die Krise längst nicht ausgestanden ist. Bereits heute kann festzuhalten werden: In diese Krise lassen sich vier verschiedene Schauplätze identifizieren, die sich in Wechselwirkung zueinander befinden, und die die gesamte Weltwirtschaft in eine Abwärtsspiraler treiben können. Da ist zunächst die zweitgrößte Ökonomie der Welt. Zum ersten Mal wird China in dieser weltweiten Krise nicht mehr als „Krisendämpfer“ wirken. Diese zweitgrößte kapitalistische Ökonomie – zugleich der weltweit größte Exporteur – ist dieses Mal selbst Zentrum der Krise. 2020 dürfte das erste Jahr sein, in dem das Wachstum der chinesischen Wirtschaft nahe Null absinkt. Wobei eine Wachstumsrate unter sechs Prozent bislang als brandgefährlich galt – unter anderem aufgrund des ständigen Zustroms neuer Arbeitskräfte vom Land in die städtischen und industriellen Zentren. Selbst wenn sich die Lage in China nicht zur offenen Krise mit dem Zusammenbruch großer Unternehmen und einer schnell ansteigenden Massenarbeitslosigkeit entwickelt, so wird es für die Weltwirtschaft nicht mehr, wie 2008/2009 der Fall, eine positive Rückwirkung Chinas auf die Weltwirtschaft und ein entsprechendes Einebnen der weltweiten Krise geben.

Als zweites ist das Zentrum des „fossilistischen Kapitals“ besonders betroffen: Die Airlines, die Flugzeughersteller und die Weltautobranche. Alle großen Airlines bewegen sich 2020 am Rande des Konkurses. Es gibt allerorten ein „Grounding“; der Flugverkehr hat sich im März um 90 Prozent reduziert. Auch die Airports rufen bereits nach Staatshilfen. Die meisten Airlines werden diese Krise nur dann überleben, wenn die Staaten – übrigens wie vielfach 2008/2009 – ihnen massive Staatshilfen zukommen lassen. Die beiden weltweit führenden Flugzeughersteller Airbus und Boeing sind massiv getroffen (Boeing ist Konkurs-bedroht). Beide dürften durch staatliche Aufträge im Rüstungsbereich gestützt werden. Führende Autokonzerne waren bereits mit „Dieselgate“ belastet. Die Branche als Ganzes befindet sich als Resultat der Klimakrise und des Versuchs einer teilweisen Umstrukturierung hin zu Elektroautos in einer Umbruchphase. Es gab 2018 und 2019 den beschriebenen deutlichen Einbruch der Weltautofertigung. Für 2020 droht ein Rückgang um mehr als 15 Prozent. Das muss Folgen für die verbliebenen Konzerne haben. In Japan werden die sechs noch unabhängigen Autohersteller (Toyota, Honda, Mazda, Suzuki, Nissan und Subaru) einen Konsolidierungsprozess erleben. Im neuen gigantisch aufgeblähten Konglomerat PSA (mit Peugeot, Citroen, Opel, Fiat, Chrysler und Alfa Romeo) wird es einen Kahlschlag geben. Insgesamt sind allein in dieser Branche aktuell mehr als eine Million Arbeitsplätze bedroht.

Drittens droht eine neue EU-Krise und eine neue Euro-Krise. Die Entwicklung in Italien dürfte hier entscheidend werden. Dieses Land befindet sich seit 20 Jahren im Krisenmodus; die Staatsschuld lag bereits 2019 mit 130 Prozent auf Rekordniveau. In der aktuellen Corona-Virus-Krise steigen die Staatsausgaben in Italien, während gleichzeitig das Bruttoinlandsprodukt rückläufig sein wird. Damit aber müssen – siehe die Entwicklung in Griechenland 2012-2018 – die Schulden gemessen am BIP nochmals massiv auf 150 und mehr Prozent ansteigen. Das wird die Ratingagenturen auf den Plan rufen und zu neuen Herabstufungen der Kreditwürdigkeit des Landes führen. Was wiederum die Bedienung der gigantischen Staatsschulden massiv verteuern muss. Zum skandalösen Verhalten der EU gegenüber Italien (und Spanien und Frankreich): siehe oben.

Und schließlich – viertens – spricht sehr viel dafür, dass diese Krise auch den Finanzsektor erfassen und beuteln wird. Der Zusammenbruch von großen Finanzinstituten kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Wobei im Fall einer solchen Bankenpleite erneut – wie 2007- 2009 – gelten dürfte: „too big to fail“; das heißt, die Steuerzahlenden werden zur Ader gelassen werden. Ein großer Finanzcrash kann seinen Ausgang nehmen im italienischen Bankensektor, der bereits vor der neuen Krise angeschlagen war. Er kann auch mit einem Platzen der gewaltigen Immobilienblase in Indien starten (ein Subkontinent, in dem sich aktuell ein wahres Corona-Drama entfaltet). Oder bei dem aktuell ablaufenden libanesischen Staatsbankrott. Oder bei einer zu erwartenden argentinischen Staatspleite. Oder beim Zusammenbruch des Systems der chinesischen Schattenbanken. Oder im Rahmen einer neuen Russland-Krise, in der sich der Öl- und Gaspreisverfall und eine neue Bankenkrise bündeln (am 18. März übernahm der russische Staat die Sberbank und investierte dafür satte 28 Milliarden Euro). Oder im Rahmen der umfassenden Insolvenzen-Welle, die noch 2020 als Folge der „Reduktion aller sozialen Kontakte“ und der Schließung hunderttausender Geschäfte zu erwarten ist und die sich im Bereich der Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu kritischen Ausfällen in Höhe einiger Dutzend Milliarden Euro aufaddieren dürfte. Sicher ist, dass der Finanzsektor heute vergleichbar labil ist wie vor der letzten großen Krise. Neue staatliche Banken-Auffangprogramme in der Größenordnung, wie es solche 2008/2009 gab, sind unter den gegebenen Bedingungen kaum zu stemmen. Und auch die Zentralbanken sind ihrer klassischen Waffen beraubt, senkte doch die US-Zentralbank Fed früher in Krisen den Leitzins gern und vier und fünf Prozent – doch heute, nur wenige Wochen nach Eintritt der Stunde X, liegen diese Leitzinsen in New York, Tokio, London, Frankfurt/M., Wien oder Zürich nahe Null.

Das Ensemble dieser Krisenherde kann dazu führen, dass sich diese durch die Weltwirtschaft fressen und dass es zu einer Kernschmelze der Weltökonomie kommt. Vor diesem Hintergrund ist das Organisieren von Gegenwehr von besonderer Wichtigkeit. Diese Gegenwehr muss die Antworten auf die Corona-Pandemie wie auf die neue Wirtschaftskrise bündeln.

Die große Gefahr in dieser Krise besteht zur Zeit nicht darin, dass sich aus dem Crash ein Kapitalismus neuer Qualität („Finanz-Faschismus“ etc.) erhebt. Zumal zu bedenken ist, dass gerade das Finanzkapital bisher – bis April 2020 – massive Verluste in der Krise erlitten hat, dass die Banken-Aktien nochmals deutlich stärker als der Durchschnitt an Wert verloren haben und dass es im Fortgang der Krise gerade im Finanzsektor, auch bei den Hedge Fonds und den großen Vermögensverwaltern, massive Verluste – wenn nicht große Bankrotte – geben dürfte. Die Hauptgefahr besteht eher darin, dass die Regierungen und die internationalen Institutionen (IWF, Weltbank, Zentralbanken, BIZ) alles tun werden, den „alten“ Kapitalismus zu retten und diesen auf „höherem Niveau“ eine neue Runde in neue Katastrophen drehen zulassen: neue Rettung der Autokonzerne, verstärktes Setzen auf die absurde Umwandlung von Teilen der herkömmlichen Autoherstellung in die Fertigung von Elektro-Pkw, neue Rettung der Airlines, neue Rettung der Fracking- und Ölkonzerne, Verstärkung der privaten Pharmakonzerne usw. Was dann – dieses Thema sollten wir nicht vergessen! – auf eine nochmalige Verstärkung der das Klima schädigenden Emissionen und damit auf eine Beschleunigung des Klimawandels hinauslaufen könnte.

5 Globale Krise und Pandemie: Widerstand entwickeln

Der unkontrollierte Shutdown der Wirtschaft, wie er sich nun nach und nach aus einer Mischung von halbherzigen politischen – von der Epidemie her bedingten – Beschlüssen und der Anfälligkeit der just in time Produktionslogik entwickelt, führt nun zu einem größeren volkswirtschaftlichen Schaden und gesellschaftlichen Härten, als die Kosten, die aus einem geplanten Vorgehen entstanden wären.

Die Stilllegung aller gesellschaftlich nicht akut notwendigen Betriebe muss kontrolliert und zielgerichtet für einen überschaubaren Zeitraum stattfinden. Dieser Stillstand der Fabriken und Büros muss als bewusste politische Maßnahme im Rahmen einer umfassenden Strategie gesetzt werden, die das Ziel der Eindämmung des Virus verfolgt. Ein solcher Schritt ist eigentlich nur dann ausreichend wirksam, wenn er zumindest europaweit koordiniert stattfindet. Er muss von politischen Maßnahmen begleitet werden, die sicherstellen, dass die Beschäftigten in dieser Zeit nicht gekündigt werden dürfen und ihre materielle Existenz gesichert ist. Es gilt Lösungen zu finden, die auch kleinen Gewerbetreibenden und Selbstständigen Sicherheit geben. Die Schwäche der Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, sozialdemokratischen und sozialistischen Organisationen macht einen solch geordneten Shutdown unmöglich. Nicht auszuschließen ist mittlerweile, dass ganze Bereiche der Wirtschaft schrittweise, fragmentiert, chaotisch und von Region zu Region unterschiedlich ihre Geschäftstätigkeit massiv reduzieren und damit weitere schlimme Verwerfungen auslösen.

Ein paradoxer Effekt der nun katastrophalen Dynamik dürfte sein, dass es wohl auch zum Vorteil des Kapitals gewesen wäre, wenn die Regierungen und die EU spätestens bis Mitte Februar entschlossen, geplant und solidarisch die Wirtschaft Norditaliens für mindestens einen Monat runtergefahren hätten und gleichzeitig den Menschen und Unternehmen alle Ausfälle garantiert hätten. Das wäre finanziell, technisch und organisatorisch möglich gewesen. Die EU und die Regierungen waren weit von diesem Schritt entfernt. Das verdeutlicht, dass die Herrschenden auch in ihren eigenen Widersprüchen gefangen sind. Die vermeintlichen Sachzwänge der Kapitalakkumulation, des kapitalistischen Wettbewerbs und der „Budgetdisziplin“ beschränken nicht nur den Handlungsrahmen der Regierenden, sondern schränken diese bereits in der Vorstellung des Möglichen ein. Die Nationalstaaten befinden sich seit der zweiten Märzwoche sowohl bei der Bekämpfung der Virusausbreitung als auch bei ihren Antworten auf die anrollende Krise in einer Logik des „rette-sich-wer-kann“. Das wird die globale Dynamik noch stärker negativ beeinträchtigen. Dieser Unwille und die Unfähigkeit sowohl der Staaten als auch der EU angemessen zu handeln, offenbart einen weiteren äußerst weitreichenden und widersprüchlichen Prozess. Das Kapital und die neoliberalen Kräfte haben seit den späten 1970er Jahren mit ihrer Privatisierungs- und Austeritätspolitik die staatliche Infrastruktur dermaßen ausgehöhlt, dass die Staaten nicht einmal die ihnen zugewiesene Funktion des ideellen Gesamtkapitalisten zu erfüllen vermögen. Das heißt, sie sind nicht mehr in der Lage, die grundlegenden Akkumulationsbedingungen für das Kapital aufrechtzuerhalten. Zu diesen Grundvoraussetzungen für kapitalistische Geschäftstätigkeit zählt eben auch, dass die Menschen einigermaßen gesund sind und die Natur nicht allzu stark geschädigt wird. Diese Unfähigkeit der Staaten und der EU bildet ein weiteres Krisenmoment. Diesen Aspekt haben all jene zu bedenken, die nur auf den Aspekt der autoritären staatlichen Maßnahmen blicken. Es gilt beide Aspekte miteinander verschränkt zu verstehen.

Die Gewerkschaften sind leider ausgesprochen schlecht auf diese gigantische Herausforderung vorbereitet. Da es aufgrund des grassierenden Virus nicht möglich ist, zu großen Versammlungen aufzurufen, müssen die Gewerkschaften umgehend herausfinden, wie sie auf telefonischem und digitalem Weg (u.a. Videotelefonie, Videositzungen, digitale strukturierte Diskussionsplattformen) mit den Beschäftigten in Kontakt treten können. Entscheidend ist es, Informationen über die Situation in den Betrieben einzuholen und die Beschäftigten mit konkreten Ratschlägen zu unterstützen. Kreative Streikformen abseits von Massenversammlungen müssen erdacht und erprobt werden. Zudem gilt es, allen Versuchen der Unternehmen und der Regierungen, die Krise zu nutzen, um weitgehende Flexibilisierungen der Arbeit durchzudrücken, einen Riegel vorzuschieben. Das gilt auch für den Gesundheitssektor, wo beispielsweise die deutsche Regierung bereits im Vorfeld – also noch ohne größere Not – beschlossen hat, die Personaluntergrenzen in der Pflege auszusetzen. Damit wird das naheliegende Instrument, massiv neue Kräfte anzuwerben und einzustellen, umgangen. Die Gleichzeitigkeit der Krisen wird zur gigantischen Herausforderung.

In der enorm zugespitzten Situation wehren sich zahlreiche Arbeiter*innen in Fabriken Norditaliens gegen die Bedrohung für ihre Gesundheit. Sie sehen nicht ein, warum sie trotz der Gefahren in der Fabrik zusammenkommen müssen und führen spontane und wilde Streiks durch. Sie protestieren dagegen, dass die Produktion trotz der schlimmen Ausbreitung des Coronavirus nicht gestoppt wird. „Wir sind kein Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird“. Diese spontanen und selbstorganisierten Streiks offenbaren die Stimmung unter den Menschen. Die Menschen müssen sich und ihre Familien vor Ansteckung schützen können. Von Brescia bis Mantova wird von spontanen Streiks berichtet. Die Gewerkschaften sind in Alarmbereitschaft, um die Gesundheit der Beschäftigten zu gewährleisten. Die Gewerkschaften betonen, dass „die Arbeiter*innen das Recht darauf haben, besorgt zu sein“, und warnen, dass sie „bereit sind, wenn nötig zu streiken“.55

Auch die Beschäftigten des Mercedes-Werks im baskischen Vitoria-Gasteiz haben am 16. März die Produktionslinien gestoppt. Das Unternehmen mit 5.000 Beschäftigten hatte sich geweigert, den Betrieb zu schließen und erhielt so die Ansteckungsgefahr aufrecht.56 Mittlerweile hat auch die Daimler-AG europaweit den Großteil ihrer Produktion aufgrund von Lieferschwierigkeiten und des zu erwartenden Nachfrageeinbruchs ausgesetzt.

Die Frage wird auch nördlich der Alpen rasch akut werden. Es gilt sofort darüber zu diskutieren und zu entscheiden, welche Produktionsbereiche eine Pause einlegen können und welche Bereiche für die Gesundheit der ganzen Bevölkerung wichtig sind. Die Menschen im Gesundheits- und Pflegesektor brauchen massive Unterstützung. Leben geht vor Profit!

Ein spezifischer Irrsinn der kapitalistischen Rivalität zeigt sich derzeit in der Erforschung und Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen gegen das SARS-CoV-2 Virus. Mehrere universitäre und staatliche Forschungseinrichtungen erarbeiten wichtiges Grundlagenwissen. Pharma- und Biotechfirmen in Europa, Nordamerika und Asien wetteifern nun darum, um mit ihren Projekten als Erstes die klinischen Studien erfolgreich zu durchlaufen. Die Arzneimittelzulassungsbehörden setzen dabei übliche Standards aus, um die Prozesse zu beschleunigen. Die US-Regierung spitzt den Irrsinn noch zu. Gemäß Medienberichten soll sie der Heidelberger Firma Curevac eine hohe Geldsumme für exklusive Vermarktungsrechte in den USA für einen künftigen Impfstoff angeboten haben. Die Firma hat ein Übernahmeangebot dementiert, allerdings nicht ein exklusives Lizenzangebot. Eine vernünftige Strategie sähe ganz anders aus. Die Forscher*innen, Institute und Unternehmen teilen weltweit ihre Kenntnisse und Ergebnisse und wägen gemeinsam ihre nächsten Forschungs- und Entwicklungsschritte ab. Eine derartige Vernunft widerspricht allerdings den Grundmechanismen der kapitalistischen Produktionsweise.

Die Diskurse können sich rasch verschieben und zugleich voller Widersprüche bleiben. Der französische Präsident Macron kündigte am 16. März an, die umkämpfte Rentenform vorerst auszusetzen. Zugleich sprach er von einer Kriegssituation und versprach blumig niemanden zurückzulassen und die Arbeitslosenhilfe massiv aufzustocken. Nicht mehr der Markt solle alles regeln, vielmehr brauche es eine starke öffentliche Infrastruktur. Am selben Tag informierte der spanische Ministerpräsident Sanchez, dass fortan auch private Krankenhäuser unter staatliche Kontrolle gestellt würden. Da die Covid-19-Erkrankungen in Spanien seither nur wenig gebremst in die Höhe schnellten und der Druck aus der Bevölkerung und von Teilen der Gewerkschaften massiv anstieg, kündigte Premierminister Sanchez am 28. März die Stilllegung aller nicht-essentiellen Bereiche der Wirtschaft bis zum 9. April an. Einen solchen Schritt unternimmt die Regierung eines kapitalistischen Landes nur in höchster Not.57 Allerdings zeigen gerade Macron und Sanchez, aber auch Kurz in Österreich, dass sie die Situation zu nutzen wissen, um sich der Bevölkerung direkt als starke Männer jenseits der Parlamente und sogar der Koalitionspartner in der Regierung anzubieten. Darin offenbart sich, dass Teile der herrschenden Klassen durchaus mit autoritären „starken bonapartistischen Lösungen“ liebäugeln und damit die parlamentarische Demokratie schwächen wollen.

Niemand kann den Verlauf dieser Krise voraussehen. Doch es gibt Anhaltspunkte dafür, dass jene Länder und Kräfte, die ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Koordination und Planung aufweisen, sich am ehesten der Abwärtsspirale entgegenstellen können. Sofern es China gelingt, die Ausbreitung der Covid-19 Erkrankungen im Zaum zu halten und es gleichzeitig schafft, die Produktion nicht einbrechen zu lassen, die gesellschaftliche Nachfrage einigermaßen zu stabilisieren und die enorme Verschuldung von Unternehmen und regionalen Regierungen zu meistern, wird es seinen Einfluss als aufstrebende imperialistische Macht stärken. Doch gerade die Verschuldung könnte sich auch in China als großes Problem erweisen. Auf der anderen Seite erweisen sich die EU und vor allem die USA als komplett unfähig, die Herausforderungen zu meistern. Im Gegenteil, der marode Zustand der gesellschaftlichen Infrastruktur und vor allem der Gesundheitsinfrastruktur in den USA, deuten leider stark darauf hin, dass sich in der einzigen militärischen Supermacht gesellschaftliche Dramen unermesslichen Ausmaßes ereignen werden. Die EU tritt angesichts der Entwicklungen, die wir in Abschnitt Kapital, EU, Nationalstaat und Corona skizziert haben, und der Verwerfungen die sich bei der Bearbeitung der ökonomischen Krise abzeichnen, in eine massive Destabilisierung. Ein Bruch erscheint möglicher denn je. Diesen Bruch so zu gestalten, dass er nicht mit einer weiteren Erosion sozialer Rechte und ökologischer Standards einhergeht, wird eine umso dringlichere Aufgabe emanzipatorischer Kräfte.

Hinter der Gesundheitskrise und der nun anrollenden Wirtschaftskrise verbirgt sich auch eine Führungskrise des US-Kapitals und nicht minder der verschiedenen nationalen Kapitalfraktionen in Europa. Sie alle schaffen es nicht mehr, eine gemeinsame Strategie zur Krisenbearbeitung zu entwickeln und zu verfolgen. Sollten die USA wirklich in eine Gesundheitskrise und menschliche Tragödie ungeahnten Ausmaßes abgleiten – eine Krise, die vor allem die urbanen Großräume und wirtschaftlichen Zentren trifft – dann könnte das weitreichende geopolitische und geoökonomische Konsequenzen haben, die wir uns noch gar nicht ausmalen können. Sollten die Regierungen in Europa nicht in der Lage sein, die Herausforderung der Corona-Pandemie, der Wirtschaftskrise und der Erderwärmung einigermaßen in Griff zu kriegen, ist es möglich, dass breite Teile der Bevölkerung das Vertrauen in die führenden Kräfte nachhaltig verlieren.58 Umgekehrt ist es aber möglich, dass jene Regierungen und Kräfte, die das Desaster einigermaßen begrenzen können, auf lange Zeit politisch gestärkt hervorgehen können. Insgesamt können wir aber die Hypothese wagen, dass nicht nur das Vertrauen in die neoliberalen Konzepte, sondern in das kapitalistische System überhaupt sich erschüttern. Das heißt jedoch nicht, dass der Neoliberalismus oder gar der Kapitalismus an ihr Ende kämen. Entscheidend ist, ob es gelingt eine programmatische, gesellschaftliche und politische Alternative aufzubauen. Nur wenn sich die Menschen massenhaft in Bewegung setzen, können sie die Verhältnisse wirklich umwerfen. Hierzu wollen wir mit der im nächsten Kapitel Die kapitalistische Ökonomie umgestalten durch Konversionen – das Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen und ökosozialistische Perspektiven zur Sicherstellung unserer Gesundheit und unseres Lebens vorgeschlagenen Perspektive einen Beitrag leisten.

6 Die kapitalistische Ökonomie umgestalten durch Konversionen – das Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen und ökosozialistische Perspektiven zur Sicherstellung unserer Gesundheit und unseres Lebens entwickeln

Um auf die Bedrohung unseres Lebens und unserer Gesellschaft durch die Ausbreitung der Covid-19 Erkrankung zu reagieren, unterbreiten wir hier einen programmatischen Vorschlag. Dieser stützt sich auf das Grundprinzip, dass unsere Gesundheit und unser Leben mehr wert sind als die Profite der Unternehmen und die geopolitischen Interessen der Staaten. Mit diesem Vorschlag wollen wir zu einer europaweiten Diskussion über ein solidarisches Dringlichkeitsprogramm zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus anregen. Der geschäftsführende Vorstand der Partei DIE LINKE hat am 16. März 2020 ein Aktionsprogramm zur Bewältigung der Gesundheitskrise beschlossen.59 Allerdings genügt dieser Beschluss den akuten Herausforderungen nicht. Er erwähnt mit keinem Wort die dringend notwendigen Maßnahmen, um die Virusausbreitung sofort wirksam abzubremsen. Das ist entscheidend, um eine solidarische Politik glaubwürdig zu entwickeln. Welche Bereiche können sofort gestoppt werden, um die Menschen und die gesamte Gesellschaft zu schützen? Alle gesellschaftlichen Bereiche der Reproduktion, Zirkulation und Produktion sind zu überprüfen. In dieser akuten Notlage ist es auch unverzeihlich, dass der Parteivorstand der LINKEN die privaten Kliniken nicht in seine Überlegungen einbezieht, geschweige denn die private Profitmacherei auf Kosten der Kranken in Frage stellt. Die Zeiten der Routineantworten sind vorbei!

Angesichts der ineinandergreifenden Gesundheits-, Umwelt- und Wirtschaftskrise rücken wird die Pflege für den Menschen und die Pflege für die Natur ins Zentrum unserer Überlegungen. Wir stellen dieses Dringlichkeitsprogramm in den Rahmen unserer Vorstellungen über den dringend erforderlichen ökosozialistischen Umbau unserer Gesellschaften in Europa. Wir wollen mit der Logik des Profits brechen. Dieser Bruch erschöpft sich nicht in abstrakten und akademischen Analysen, sondern muss sich in konkreten Kampf- und Widerstandsperspektiven und gemeinsamen Aktionen zur Stärkung der Solidarität von unten äußern.

6.1 25 Forderungen, um Leben zu retten, um die Gesundheit der Menschen sicherzustellen, um ein neues Umverteilungsprogramm von unten nach oben in der Krise zu stoppen und um mittels Konversion von Teilen der Industrie die nötigen Hilfsmittel im Kampf gegen die Pandemie bereitzustellen

Die folgenden 25 Maßnahmen dienen der unmittelbaren Eindämmung der Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus. Sie sollen dazu beitragen, die Anzahl der Toten möglichst zu beschränken und zugleich die gesellschaftliche Solidarität zu stärken.

  1. Flächendeckendes Testwesen // Es muss eine möglichst umfassende Informationsbasis über den Ausbreitungsverlauf des Virus geschaffen werden. Die Gesundheitsbehörden müssen sofort ein flächendeckendes Testwesen für SARS-CoV-2 herstellen. An vielen Orten wurde konsequentes Testen wegen Kapazitätsmängeln aufgegeben. Das ist unverantwortlich. Die Tests müssen für die Menschen kostenlos, einfach zugänglich und bei der Übermittlung der Ergebnisse schnell sein. Die regionalen und nationalen Regierungen müssen unverzüglich die erforderlichen Mittel bereitstellen, um in der Lage zu sein, umfangreiche Tests auf SARS-CoV-2 Viren durchzuführen. Dezentral organisierte Teams, die zu den Menschen nach Hause und an die Arbeitsplätze gehen und auch im öffentlichen Raum Tests anbieten, können ein sinnvoller Ansatz sein. Die erfolgreiche Eindämmung der Covid-19-Erkrankungen in Südkorea und Taiwan beruht in starkem Maß auf umfangreichen Tests und der zügigen Auswertung der Testergebnisse. Das ist Grundlage, um gezielte Maßnahmen durchzuführen. Die Organisationen der Beschäftigten (Gewerkschaften und Berufsverbände) und Patientenverbände müssen die Testorganisation kontrollieren, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung korrekt informiert wird.
  2. Mehrsprachige Informationen // Die Informationen für Gesundheitsdienste und materielle Unterstützungen sind in allen erforderlichen Sprachen bekannt zu geben. Das ist unabdingbar, um alle Menschen, die in einer Region leben, in die Maßnahmen einzubeziehen und der Tatsache gerecht zu werden, dass es in allen EU-Ländern eine multikulturelle Gesellschaft und eine große Zahl von „Menschen ohne Papiere“ („sans papiers“) gibt.
  3. Die Produktions- und Büroarbeit flächendeckend einstellen // Die Fachleute verlangen, dass die direkten sozialen Kontakte aufs Nötigste reduziert werden. Konsequent und angemessen umgesetzt heißt das, dass nicht nur Schulen und Universitäten ihren Präsenzlehrbetrieb einstellen, sondern auch die Betriebe und Unternehmen, die nicht unmittelbar gesellschaftlich wichtige Güter und Dienstleistungen anbieten, die erforderliche Pause einlegen müssen. Aus Sicht der Bekämpfung der Epidemie gibt es keinen Grund dafür, die Schulen zu schließen, nicht aber Büros, Institutionen und Unternehmen. Das gilt für alle Bereiche der Produktion, Zirkulation und Reproduktion. Selbstverständlich sind alle für die Versorgung und die Gesundheit der Menschen notwendigen Tätigkeiten auszuführen und nötigenfalls sogar massiv auszubauen. Das gilt auch für notwendige medizinische Güter, die exportiert werden und wichtig für die Versorgung der Bevölkerung in anderen Ländern sind.
  4. Die Belastung der Frauen reduzieren – den Schutz von Frauen stärken // In den aktuellen Krisenzeiten wachsen, wie beschrieben, die Belastungen für Frauen auf unterschiedlichen Ebenen. Es muss Maßnahmen geben, um dem gerecht zu werden und zu verhindern, dass im Rahmen der Krise die patriarchalen Strukturen verstärkt und die Gewalt gegen Frauen zunimmt. So muss es auch in der Krise Frauenhäuser geben, in denen Frauen bei häuslicher Gewalt Zuflucht finden (aktuell gibt es Beispiele, dass diese geschlossen wurden). Ein umfassender Ansatz zur Bekämpfung der Virusausbreitung, der die Produktion einschließt, ermöglicht auch Maßnahmen zur Entlastung der Frauen von ihrer noch intensiveren und umfangreicheren Sorge- und Pflegearbeit durch die Männer. Menschen, die aufgrund der Schulschließungen Betreuungspflichten oder andere Pflegeaufgaben erfüllen müssen, darf ihre Arbeitszeit nicht einfach im Home-Office abverlangt werden, sondern müssen bei vollem Entgelt freigestellt werden.
  5. Elementare Schutzmittel bereitstellen // Die Regierungen müssen sofort Maßnahmen ergreifen, um die gesamte Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Dazu zählen die Beschaffung und die Beschlagnahmung medizinischer Güter. Die öffentliche Hand muss Schutzkleidung, Operationsmasken, Kittel, Schutzbrillen, Handschuhe, usw. zum Schutz des medizinischen Personals bereitstellen. Dabei sind die Lagerbestände von medizinischen Geräten, Schutzkleidung und Material sind generell der öffentlichen Kontrolle zu unterstellen. Alle erforderlichen Medikamente, Geräte und Einrichtungen sind den Patient*innen kostenlos bereitzustellen. Die Beschäftigten übernehmen in Kooperation mit Patient*innenverbänden die Verwaltung der Materialien. Private Hortung und Spekulation mit solchen Gütern sind hart zu bestrafen. Die gesamten Lieferketten für wichtige Güter im Gesundheitswesen sind unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Allerdings besteht bereits das Problem, dass sich die nationalen Regierungen strategisch wichtige medizinische Güter gegenseitig vorenthalten. Ein international solidarisches Beschaffungswesen ist im Rahmen der kapitalistischen und imperialistischen Rivalität unmöglich. Dennoch können Gewerkschaften und soziale Bewegungen dafür sorgen, dass allfällig blockiertes medizinisches Material an jene geliefert wird, die es dringend brauchen. Darüber hinaus muss die Fertigung von solchem Material im Rahmen von Konversion erfolgen (siehe unten Programmpunkte 11 und 12).
  6. Alle privaten Krankenhäuser sind sofort unter öffentliche Kontrolle zu stellen und anschließend in gesellschaftliches Eigentum zu überführen. Notwendig ist ein einheitlicher Gesundheits- und Kliniksektor unter öffentlicher Kontrolle // Erforderlich ist ein Sofortprogramm zur Stärkung des Gesundheitssektors. Das erfordert auch, dass zunächst jede Privatisierungstendenz auf diesem Gebiet gestoppt werden muss und dass – analog zu der in Berlin mit viel Zustimmung in der Bevölkerung durchgeführten Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ – als Ziel gelten sollte: der gesamte Gesundheitssektor muss wieder unter öffentlicher Kontrolle gestellt werden. Die Finanzierung der Krankenhäuser über Fallpauschalen, die zu perversen und unsozialen Strategien mit einem Abbau von Kapazitäten geführt hat, ist sofort zu beenden. Private Konzerne, die ein Geschäft mit Krankheit und Gesundheit machen, haben in diesem Sektor nichts zu suchen. Sie sind zu enteignen – wofür es in der Regel in allen Ländern entsprechende Notstandparagrafen gibt (in Deutschland ist die Überführung in Gemeineigentum explizit in den Grundgesetzartikeln 14 und 15 geregelt). Völlig inakzeptabel ist jede weitere Schließung eines Krankenhauses. Siehe dazu den Aufruf der Nichtregierungsorganisation Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB).60
  7. Ausweitung der Infrastruktur des Krankenhaus-Bereichs und der ambulanten Pflege // So schnell wie möglich ist zusätzliches Gesundheits- und Pflegepersonal anzulernen und einzustellen und mit der erforderlichen Ausrüstung zu versehen. In Deutschland fehlen in den „Krankenhäusern und der Altenpflege jeweils mindestens 150 000 Pflegekräfte. Wir brauchen ein Sofortprogramm, das allen Pflegekräften – und denen, die in den Beruf zurückkommen – 500 Euro im Monat Zulage zahlt. Damit die Reserven mobilisiert werden. Damit sich die Arbeitsbedingungen endlich verbessern. Damit die Gesundheit von Pflegekräften und Patientinnen und Patienten geschützt wird.“61 Da die Krankenhäuser ihre Kapazitätsgrenzen bereits im Vorfeld der offenen Krise erreicht haben, sind in Abstimmung mit Ärzt*innen, Gesundheitspersonal, Gemeinden und Gewerkschaften geeignete Gebäude und Betten, beispielsweise Hotels, zu beschlagnahmen und in den Dienst der Pflege der Kranken und der Gesundheitsversorgung zu stellen. Grundsätzlich dürfte eine Requirierung von Hotels (die aktuell zu 95-100 Prozent Leerstand aufweisen) ein sinnvoller Ansatz dafür sein, Bettenkapazitäten nebst elementaren Versorgungsmöglichkeiten für solche Patienten zu erreichen, die keiner intensiven Pflege bedürfen.62 Die schnellstmögliche Erhöhung der Bettenzahl um mindestens 50 Prozent und der Zahl der Intensivstations-Betten um 100 Prozent erscheint angebracht. Nötigenfalls sind Bau- und Ingenieurunternehmen dazu zu verpflichten zusätzliche Notfallkrankenhäuser zu bauen. Kommen sie dieser Aufforderung nicht nach, können sie unter öffentliche Kontrolle und direkte Verwaltung der Beschäftigten gestellt werden. Viele der in jüngerer Zeit geschlossenen Krankenhäuser gibt es noch; viele stehen leer. Andere werden für andere Zwecke genutzt. Es sollte geprüft werden, eine größere Zahl von ihnen wieder in ihre alte Funktion zu versetzen. Auswertungen der WHO im Zusammenhang mit Ebola haben gezeigt, dass zur Eindämmung einer Epidemie eine gute regionale Gesundheitsversorgung gehört. Die absolute Zahl der Betten allein reicht nicht aus, wenn etwa Kliniken zu weit entfernt liegen.
  8. Die Reinigungsdienstleistungen und anderen wichtigen Dienstleistungen in den Krankenhäusern sind unter öffentliche Kontrolle zu stellen. // Engpässe in den Bereichen Reinigung und Wäsche im Kliniksektor und im Bereich der Altenpflege zeichnen sich bereits jetzt ab. Dies auch deshalb, weil diese Sektoren einem besonders starken Outsourcing unterlagen und hier besonders viel Personal aus anderen Ländern (das in der Krise oft zurück in die Heimatländer zu gehen wünscht) beschäftigt ist. Es ist erforderlich, Unternehmen dazu zu verpflichten, ihre Produktionsinfrastruktur umzubauen und medizinische Güter zum Selbstkostenpreis im öffentlichen Interesse herzustellen. Weigern sich Unternehmen, sich in den Dienst der Gesellschaft, also dem Gemeinwohl, zu stellen, sind sie zu vergesellschaften.
  9. Die Kapazitäten des Militärs heranziehen und auf ziviler Basis im Kampf gegen Corona einsetzen; das Militär zumindest in diesen Bereichen entmilitarisieren // Die Armeen in der Schweiz („Schweizer Armee“), in Österreich („Österreichisches Bundesheer“) und in Deutschland („Bundeswehr“) unterhalten große Sanitätsbereiche. In Österreich und in der Schweiz sind in diesen Armeebereichen jeweils rund 2200 Mann und Frau tätig. Der Sanitätsbereich der Bundeswehr umfasst knapp 20.000 Soldatinnen und Soldaten. Diese Sektoren sind in Gänze dem Kampf gegen Corona zur Verfügung zu stellen. Dies sollte umgehend und außerhalb der militärischen Strukturen – in der Form einer Zuordnung zum allgemeinen Gesundheitssektor – erfolgen. Auf alle Fälle muss es das Ziel sein, eine Entmilitarisierung des Bundeswehr-Sanitätswesens zu erreichen. Darüber hinaus ist zu prüfen, inwieweit die übrigen Soldatinnen und Soldaten (in der Schweiz weitere rund 100.000, in Österreich rund 50.000 und in Deutschland 150.000 Personen) in den Kampf gegen die Corona-Krise eingesetzt werden können. Dies muss jedoch strikt auf Bereiche und Aufgaben beschränkt sein, die zivilen Charakter haben. Es handelt sich ersichtlich bei dem Militär um ein riesiges Potential von oft gut ausgebildeten Personen, deren Gehälter bereits jetzt zu 100 Prozent von den Steuerzahlenden finanziert werden, die also ohne größere zusätzliche Kosten im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus eingesetzt werden können.
  10. Stopp aller Auslandseinsätze von Militärs //Alle Kontingente von deutscher Bundeswehr und österreichischem Bundesheer im Ausland sind unverzüglich abzuziehen. Die damit freiwerdenden Mittel sind den Gesundheitssektoren der entsprechenden Länder (Mali, Afghanistan, Bosnien, Kosovo usw.), in denen die Einheiten stationiert waren, als Schenkung zur Verfügung zu stellen.
  11. Umstellung der Produktion in unterschiedlichen Wirtschaftssektoren auf die Herstellung von Materialien, Geräten usw. für Gesundheitsschutz und für die Corona-Krisen-Vorsorge. Notwendig in diesem Sinn sind insbesondere die Konversion von Autoindustrie und Rüstungsbranche. Es gilt: „Autos zu Atemgeräten – Bomben zu Betten“ // Die hochindustrialisierten Länder in Europa, insbesondere Deutschland, die der Schweiz und in Österreich verfügen über gewaltige Produktionskapazitäten, die unterschiedliche Produkte für unterschiedliche Zwecke herstellen können. Aufgrund des hohen Automatisierungsgrads und vielfachen Robotereinsatzes sind diese Produktionsanlagen auch enorm flexibel. Aktuell liegen riesige Produktionskapazitäten brach – selten wegen Corona-Infizierten, in der Regel, weil die Unternehmenszentralen keine ausreichende Nachfrage für ihre Produkte sehen oder weil Lieferketten unterbrochen wurden. Notwendig ist, dass ein größerer Teil dieses produktiven Kapitals dafür eingesetzt wird, Produkte des dringenden Bedarfs im Kampf gegen die Corona-Epidemie herzustellen. Viele dieser Unternehmen beziehen bereits im Produktionsalltag große Summen an Subventionen – also an Steuergeldern (beispielsweise für „Elektromobilität“). Es ist also auch aus diesem Grund nachvollziehbar, dass diese Kapazitäten im Kampf gegen Corona einzusetzen sind. Da die in Deutschland und Österreich stark vertretene Autoindustrie ohnehin unter anderem aufgrund der Klimakrise eine ungewisse Zukunft vor sich hat, ist dies der richtige Zeitpunkt, um eine Konversion der Autoindustrie-Produktionskapazitäten in Angriff zu nehmen – weg vom Auto, hin zu Produkten der Verkehrswende und der Gesundheitsvorsorge. Analog zu dem Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“ sollte gelten: „Autos zu Atemgeräten“.63
  12. Konversion der Rüstungsindustrie // Die Rüstungsproduktion, die in Deutschland, Österreich und in der Schweiz gewaltige Produktionspotentiale hat und in der zusammen mehr als 100.000 Menschen Beschäftigung finden, gehört zu den am höchsten industrialisierten Bereichen dieser Länder. Dabei finanziert sich die Rüstungsbranche zu mehr als 90 Prozent aus Steuergeldern – seien es diejenigen, des eigenen Landes, seien es solche aus den Ländern, in die exportiert wird). Rüstungsexporte unterliegen zu fast 100 Prozent staatlicher Kontrolle. Die Resultate von Rüstungsproduktion und Rüstungsexporten sind Vernichtung, Zerstörung, Kriege, Flüchtlinge und nicht zuletzt auch Freisetzung riesiger CO2-Emissionen und damit massive Beiträge zur Klimaerwärmung. Die Schlussfolgerung in diesen Krisenzeiten liegt nahe: Die gesamte Rüstungsproduktion (und damit auch alle Rüstungsexporte) ist einzustellen; die gesamte Fertigung auf sinnvolle Produkte im Kampf gegen Corona und für andere sinnvolle Produkte und Dienstleistungen z.B. auf den Gebieten der Energiewende und Verkehrswende umzustellen.
  13. Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr // Der öffentliche Verkehr findet in Zeiten der Corona-Krise in vielen Regionen nur noch in ausgedünnter Form statt. Die Zahl der Fahrgäste ist deutlich reduziert. Das Personal arbeitet unter stark erschwerten Bedingungen und ist oft bereits durch Infektionen und andere Krankheiten ausgedünnt. Die Einnahmen durch Ticketverkaufs und Abos decken nur noch 10 bis 25 Prozent der tatsächlichen Kosten. Diejenigen, die weiter auf die Nutzung des ÖPNV angewiesen sind, setzen sich ohnehin größeren Ansteckungsgefahren aus. Unter diesen Bedingungen sollte der öffentliche Verkehr zumindest im Nahbereich zum Nulltarif stattfinden – eine Forderung, die ohnehin Grundbestandteil eines Verkehrswende- und Klimaschutzprogramms ist. Die öffentliche Hand ist dafür verantwortlich, dass den Betrieben im öffentlichen Verkehr die entsprechenden Kosten in Gänze erstattet werden (was in Deutschland bei einem Normalbetrieb monatlich rund 2 Milliarden Euro entspricht; in Österreich und in der Schweiz rund 250 Millionen Euro respektive rund 300 Millionen Schweizer Franken).
  14. Die Finanzkraft und Politikfähigkeit der Kommunen erhalten // Die Krise belastet die Gemeinden und Kommunalverwaltungen in dreifache Weise. Zum einen kommen auf sie vermehrt Sonderausgaben zu aufgrund der ansteigenden Arbeitslosigkeit, der wachsenden Zahl von sozialen Notfällen, der Zunahme von Einsätzen kommunaler Dienste wie Feuerwehren. Viele Gemeinden / Kommunen haben noch – glücklicherweise – eigene Krankenhäuser, was wiederum in diesen Krisenzeiten mit Mehrbelastungen verbunden ist. Schließlich brechen den Gemeinden / Kommunen derzeit die klassischen Einnahmen weg aufgrund der Krise von kleinen und größeren Unternehmen und des Rückgangs der Steuermittel, die der Gemeindefinanzierung dienen. Geschwächte Kommunen heißt zugleich schwächere Möglichkeiten der Gegenwehr in der Krise und eine Aushöhlung der Demokratie auf dieser Ebene. Unter diesen Bedingungen müssen die übergeordneten staatlichen Instanzen (Bundesländer, Kantone, Bundesstaaten) dafür Sorge tragen, dass die Ausfälle in den kommunalen Finanzen komplett ausgeglichen und dafür umgehend ausreichend ausgestattete Fonds eingerichtet werden.
  15. Telearbeit – und ihre Regelungen // Wo immer möglich, sind die Unternehmen und Betriebe, in denen weitergearbeitet wird, zu Telearbeit zu verpflichten. Die Beschäftigten dieser Bereiche müssen aber weiterhin ihre Löhne erhalten. Die tarifvertraglichen Vereinbarungen und Schutzbestimmungen für die Lohnabhängigen dürfen deshalb nicht aufgeweicht werden.
  16. Schutzmaßnahmen an den Arbeitsplätzen umsetzen // Alle Unternehmen sind zu verpflichten, umgehend die erforderlichen materiellen und organisatorischen Arbeits- und Gesundheitsschutzmaßnahmen für die Beschäftigten umzusetzen, die arbeiten müssen. Aufgabe der Gewerkschaften ist es, sich bedingungslos für die Gesundheit aller Arbeitenden und der gesamten Bevölkerung einsetzen. Sie müssen zusammen mit den Beschäftigten Sofortpläne zur Gewährleistung der Gesundheit der Arbeitenden, ihrer Angehörigen und der Gesellschaft ausarbeiten. Sie müssen alle Beschäftigten unterstützen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können.
  17. Einführung einer Grundsatzregelung bei krisenbedingten Einkommensausfällen: in der Krise erfolgt ein kompletter Ausgleich // Aktuell bemühen sich die Regierungen, für alle möglichen Fälle von Einkommensausfällen – oft unzureichende – Teillösungen einzuführen. Das führt zu Chaos und zu Ungerechtigkeit. In der gegebenen Situation sollte hier für die Dauer der Hochphase der Krise eine Grundsatzentscheidung eingeführt werden, die der ehemalige Chefökonom der UN-Handels- und Entwicklungsorganisation UNCTAD, Heiner Flassbeck, wie folgt auf den Punkt brachte: „Man sollte eine furchtbar einfache Regel aufstellen, die da heißt: Jeder Mensch […], der jetzt Corona-bedingt Einnahmeausfälle hat, bekommt vom Staat das, was er in den letzten drei Monaten oder sechs Monaten verdient hat. Das kann man leicht nachweisen. Das kann auch ein Unternehmer nachweisen in der Regel. Das sollte ihm für drei Monate garantiert werden. Dann muss man nicht über Mieten und all das reden. Dann kann man ganz einfache Beschlüsse fassen und die müssen ruckzuck in den nächsten Tagen durchgezogen werden.“64 Das heißt dann beispielsweise, dass Mieten, die krisenbedingt nicht bezahlt werden können, nicht nur gestundet, sondern komplett vom Staat bezahlt werden müssen (inwieweit ein Teil davon auch von den Vermietern getragen werden kann, wäre zu prüfen). Es heißt des Weiteren, dass die Löhne der Menschen, die von Quarantänemaßnahmen betroffen sind oder Kinder betreuen müssen, zu 100 Prozent zu erhalten sind.
  18. Gegen das Gießkannenprinzip zur Verteilung von Milliardensummen an große und grundsätzlich profitable Unternehmen – profitable Unternehmen zur Krisenfinanzierung heranziehen // Viele Unternehmen, die in den letzten Jahren ausgesprochen profitabel waren und von den niedrigen Löhnen profitiert haben, verlangen bereits staatliche Unterstützung – und erhalten diese auch längst in großem Umfang. Die Regierungen haben nahezu unbeschränkte Kreditgarantien und große Unterstützungspakete geschnürt. Diese Maßnahmen sind einer harten Prüfung nach unmittelbarer gesellschaftlicher Notwendigkeit und ökologischer Verträglichkeit zu unterziehen. Jegliche Form der Vergesellschaftung von Verlusten von Unternehmen, die Menschen entlassen, umweltschädlich produzieren oder unsinnige Finanzspekulationen tätigen, ist abzulehnen. Viele Geschäftsmodelle waren bereits vor der Ausbreitung des Coronavirus nicht nachhaltig; weder sozial, wirtschaftlich noch ökologisch. Bereits fordern spekulative Fußballvereine, Fluggesellschaften, Industrie- und Finanzkonzerne staatliche Unterstützung ein. Das kommt einer Verhöhnung jener Menschen gleich, die in existenzielle Notlagen geraten sind. Diesen Bestrebungen ist ein Riegel zu schieben. Viele kleine und mittelgroße Unternehmen sind aufgrund der Corona-Krise und der beginnenden Wirtschaftskrise vom Bankrott bedroht oder nicht mehr weiterarbeiten können. Dennoch müssen die Beschäftigten dieser Unternehmen ihre Löhne erhalten. Dafür sollen die Unternehmen geradestehen, die in den letzten Jahren profitabel waren. So könnten man diese dazu zwingen, nach der Maßgabe ihrer Gewinne der letzten fünf Jahre in einen Fonds einbezahlen, der zur Finanzierung der Löhne in jenen Unternehmen beiträgt, die dazu nicht mehr in der Lage sind.
  19. Kurzarbeitsgeld erhöhen – die Möglichkeiten zur Sondersubventionierung profitabler Unternehmen durch die Kurzarbeitsregelungen abschaffen // Derzeit werden in großem Maßstab Kurzarbeit-Regelungen umgesetzt. Dadurch werden Arbeitsplätze erhalten, was gut ist. Doch die derzeit praktizierten Kurzarbeitszeit-Regelungen haben zwei Haken: Indem auf diesem Weg und der ständig zugunsten der Unternehmen ausgebauten Regelungen immer mehr Steuergelder den Unternehmen – auch solchen mit hohen Gewinnen – zufließen, machen diese davon exzessiven Gebrauch und wälzen die klassischen Kosten der Krise, zu der sie meist selbst mit dem Aufbau von Überkapazitäten und Dumpinglöhnen im Bereich der Leiharbeit beigetragen haben, auf die Steuerzahlenden ab. Zum zweiten bedeutet Kurzarbeit eine massive Reduktion der Nettoverdienste der Beschäftigten (in Deutschland im Normalfall auf 60 Prozent der nominellen Nettolöhne, wobei hier Überstunden und Schichtzuschläge auch noch ausgeschlossen sind, was heißt, es kommt in der Regel zu einer Halbierung der Nettoeinkommen). Seit Ende März kommt in Deutschland hinzu, dass – so eine Mitteilung der Gewerkschaft IG Metall – „die Arbeitgeber nicht nur die Arbeitgeberanteile, sondern auch die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung bei Kurzarbeit erstattet bekommen.“65 Diese Kurzarbeit-Regelungen sind so anzupassen, dass erstens die Reduktion der realen Nettoeinkommen der Beschäftigten bei maximal 20 Prozent liegt und dass zweitens Unternehmen mit Gewinnen einen angemessenen Teil der Kurzarbeit kofinanzieren.
  20. Maßnahmen zum Erhalt von Kultur und zur Unterstützung der Kulturschaffenden // In den Bereichen Kunst und Kultur sind in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland bis zu 2 Millionen Menschen tätig. In der Krise droht hier ein Kahlschlag, der nach Überwindung der Krise katastrophale Folgen haben könnte. Allein in Deutschland sind laut Angaben des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) in Verdi 1,4 Millionen Menschen, darunter rund 500.000 „Soloselbständige“ beschäftigt. 90 Prozent dieser Menschen leben von Einkommen, die deutlich unterhalb des Durchschnitts und bei netto 1000 Euro monatlich liegen. Einem großen Teil dieser Menschen bricht mit der Corona-Epidemie die Existenzgrundlage zusammen, da Veranstaltungen nicht mehr stattfinden und der Kulturbetrieb faktisch für Monate einen kompletten Shutdown erlebt. Der VS hat einen Forderungskatalog entwickelt (u.a. zur Bildung einer Notfallkasse für existentiell bedrohte Kulturschaffende und -Betriebe; die kurzfristige und bezüglich Beitragszahlungen prozentual an das Einkommen geknüpfte Einrichtung einer Arbeitslosenversicherung für selbständige Künstlerinnen und Künstler), dem die öffentliche Hand gerecht werden muss.66
  21. Hilfsprogramm für die osteuropäischen Hilfsarbeiter in den Fleischfabriken, in der Landwirtschaft, bei der Altenpflege und bei den Zustelldiensten //In Deutschland, Österreich und der Schweiz leben gut vier Millionen Arbeitskräfte aus südost- und osteuropäischen Ländern – vor allem aus Rumänien, Bulgarien, Polen und den Staaten auf dem Balkan. Sie bilden das Subproletariat unserer Gesellschaften. Sie sind überwiegend in den Bereichen der Fleischindustrie, der Landwirtschaft, der häuslichen Pflege und der Zustelldienste beschäftigt. Diese Menschen arbeiten überwiegend unter unmenschlichen Bedingungen. Darüber hinaus leben sie in extrem prekären Wohnverhältnissen, was die Ausbreitung des Corona-Virus enorm begünstigt. In Deutschland hat Pfarrer Peter Kossen, der seit Jahren auf die Situation dieser Menschengruppe aufmerksam macht und – soweit dies in seinen Kräften steht – viele von ihnen betreut, zu dem Thema einen aktuellen Appell verfasst, in dem es unter anderem heißt: „Wenn jetzt die Pandemie auf diese ausgelaugten, angeschlagenen und gedemütigten Menschen aus Ost- und Südeuropa trifft, dann wird dies zahlreiche Opfer fordern. […] Die Totalerschöpfung dieser Menschen ist der Normalzustand. Hinzu kommen [insbesondere im Fleischgewerbe] zahlreiche Schnittverletzungen, aber auch wiederholte und hartnäckige Infekte durch mangelhafte hygienische Zustände in den Unterkünften und durch gesundheitswidrige Bedingungen an den Arbeitsplätzen.[…] Wenn nicht wirklich schnell gehandelt wird, ist eine massenhafte Ansteckung mit zahlreichen schweren und auch tödlichen Verläufen nicht mehr aufzuhalten.“67 Zu fordern sind von den Unternehmen und den Behörden umfassende und wirksame Maßnahmen zum Schutz der Arbeitsmigranten in der aktuellen Corona-Krise.
  22. Arbeitsschutz stärken – das Streikrecht erhalten // Das Streikrecht darf in Zeiten der Krise nicht angetastet werden (in Portugal wurde bereits ein Streikverbot beschlossen). In Italien gab es – wie berichtet – eine Reihe von Streiks aufgrund der nicht zumutbaren Aufrechterhaltung des Arbeitszwangs angesichts von massenhaften Infektionen bzw. nicht einhaltbaren Sicherheitsmaßnahmen vor Infektionen. Die Beschäftigten müssen grundsätzlich das Recht haben, sich von der Arbeitsstelle zu entfernen, wenn eine unmittelbare Gesundheitsgefährdung vorliegt. Die Gesundheitsschutzmaßnahmen in den Betrieben sind zusammen mit den organisierten Beschäftigten zu konzipieren und durchzuführen. Gewerkschaften, Verbände, Vereine und Nachbarschaftsorganisationen informieren die Menschen in ihrem Umfeld sowie die Lohnabhängigen mit und ohne Arbeitsstelle über Schutzmaßnahmen und ihre Rechte. Sie sollten die Träger*innen unmittelbarer solidarischer gegenseitiger Hilfe am Arbeitsort und am Wohnort sein.
  23. Keine Entlassungen von infizierten Menschen // Die Löhne von Menschen, die wegen Infektion ihre Arbeit aufgeben mussten, sind fortzuzahlen, auch bei vorübergehender Arbeitslosigkeit. Die Sanktionen gegen und die Überwachungen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger*innen sind sofort zu stoppen.
  24. Einschränkungen der Grundrechte deutlich begrenzen und zeitlich limitieren // Immer mehr in den Vordergrund drängt sich das Thema der Beschneidung und Abschaffung vieler demokratischen Rechte per Dekret oder Parlamentsbeschlüsse. In Großstädten werden Menschen sogar daran gehindert, sich alleine oder mit engen Bekannten in Parkanlagen aufzuhalten. Dafür gibt es aktuell in der Regel keine überzeugende, medizinische bzw. epidemiologische Gründe. Wichtig ist bei dieser Problematik immer erstens die Respektierung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Zweitens, dass die letzte Entscheidung weiter bei den Parlamenten liegt. Und drittens, dass alle die Grundrechte beschneidenden Regelungen befristet und überwacht werden. Die am 25. März im Deutschen Bundestag beschlossenen Regelungen scheinen hier deutlich zu weit zu gehen.68 Bußgeld-Verordnungen im Fall von Verstößen gegen Auflagen sind in gewissem Umfang erforderlich. Sie müssen jedoch sozial adäquat und in der Höhe grundsätzlich angemessen sind. Es sollte alles dafür getan werden, dass die notwendigen Maßnahmen aus freier Einsicht in die Notwendigkeiten umgesetzt werden.
  25. Finanzierung eines großen Teils der Kosten der Wirtschafts- und Corona-Krise durch ein Programm mit Sondersteuern auf hohe Einkommen, auf Gewinne und auf Vermögen – Aufhebung der „Schuldenbremsen“ // Die neue Krise, die wir derzeit auf wirtschaftlichem und medizinischem, gesundheitspolitischen Gebiet erleben, ist mit erheblichen finanziellen Kosten verbunden. Dass in diesem Rahmen bereits nach wenigen Wochen die „Schuldenbremse“ von den Regierenden und vergleichbare Mechanismen auf EU-Ebene grundsätzlich in Frage gestellt wurde, dokumentiert auch, dass es sich bei der Schuldenbremse und der „schwarzen Null“ um ein rein ideologisch begründetes Konstrukt handelt. Immerhin wurde die Schuldenbremse in die Verfassungen und in das EU-Reglement aufgenommen; sie sollte ja gerade für Krisenzeiten gelten. Nun wird sie ausgerechnet am Beginn einer Krise zur Verhandlungsmasse erklärt. Bislang wirkte die Schuldenbremse als Mittel, um den Sozialstaat weiter zu demontieren. Jetzt wird sie quasi über Nacht in Frage gestellt, um massive Unterstützungsprogramme für die Konzerne und Banken zu ermöglichen. Aktuell besteht die Gefahr, dass die Kosten der neuen Krise erneut, wie 2008/2009, zu einem großen Teil von den kleinen Leuten bezahlt werden sollen – in Form schnell steigender Arbeitslosigkeit, Einkommenseinbußen und Sozialabbau und vermittelt über höhere Staatsschulden. Tatsächlich muss alles getan werden, damit die Krisenkosten von denen gestemmt werden, die in den vergangenen Jahrzehnten auf Kosten der Allgemeinheit riesige Gewinne gemacht und Reichtum angehäuft haben. Notwendig sind Sondersteuergesetze auf Vermögen, hohe Einkommen und Gewinne. In einem Land wie Deutschland könnten diese Sondersteuern ein Volumen von 250 Milliarden Euro haben. Angesichts der Tatsache, dass allein die Gewinne der 100 größten börsennotierten deutschen Unternehmen 2019 bei 81 Milliarden Euro (bei einem addierten Umsatz von 1.300 Milliarden Euro) lagen und dass sich die Zahl der Euro-Millionäre im Zeitraum 2000 bis 2018 auf 1,4 Millionen mehr als verdoppelt hat, erscheint ein solches Programm einer 250-Milliarden-Euro-Corona-Krisen-Steuer für diejenigen, die die Profiteure der Steuerreformen seit Ende der 1990er Jahre sind, mehr als angebracht. In Österreich und in der Schweiz sind entsprechende Steuerprogramme zu beschließen.

6.2 Stärkung der Solidarität von unten

Die Entwicklung solidarischer Verbindungen und Netze sowie der Aufbau von demokratischen Basisorganisationen in den Betrieben, am Wohnort sowie an der Uni und in der Schule ist unabdingbar, um die Krise zu bewältigen und Alternativen auszuarbeiten. Genau diese Organisierung ist angesichts der erschwerten direkten menschlichen Kontakte ausgesprochen schwierig. Dennoch müssen wir darüber nachdenken, wie wir mit herkömmlichen und neuartigen Kommunikationsmitteln diese Herausforderung bewältigen. Diese Solidarität ist die Grundlage, um weitergehende gesellschaftliche Perspektiven zu entwickeln.

  1. Direkte gegenseitige Hilfe und Solidarität sind entscheidend // Darum sollten Menschen aus sozialen Bewegungen und linken Organisationen zur Schaffung von Selbsthilfegruppen anregen. Sie können Kinderbetreuung und Besorgung von Lebensmitteln an die Nachbarn organisieren. Die Aktivist*innen sollten sich kollektiv verantwortungsbewusst verhalten und dabei besonders darauf achten, dass sie das Virus nicht weiterverbreiten. Menschen in Mailand und anderswo in Italien beginnen solche Erfahrungen zu machen. Sie spielen auf den Balkonen Musik und führen gemeinsame Protestaktionen durch, indem sie mit Töpfen Lärm machen. Es lassen sich auch Poster, Wandzeitungen und Collagen anfertigen und die sozialen Netzwerke bieten viele Möglichkeiten sich zu informieren, zu verständigen und gemeinsam zu demonstrieren.
  2. Die besonders prekären Bevölkerungsgruppen brauchen wirksame Unterstützung – Menschen ohne Papiere oder geregelten Aufenthaltsstatus und Obdachlose sind zu schützen // Allein in Deutschland leben mehr als fünf Millionen Menschen von Hartz IV und Sozialhilfe. 2018 hatten laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe 678.000 Menschen keine Wohnung – das war Nachkriegsrekord. In Österreich sind mindestens 25.000 Menschen obdachlos. In der Schweiz hat eine vergleichbar große Zahl Menschen kein Dach über dem Kopf. Corona macht nicht vor den Zelten und übrigen Schlafstätten der Wohnungslosen Halt. Natürlich gebieten bereits Menschlichkeit und christliche Nächstenliebe, diesen Gestrandeten und vom kapitalistischen Betrieb Ausgestoßenen Hilfe zukommen zu lassen. In der gegebenen Situation der Corona-Krise bildet diese große Gruppe von Menschen darüber hinaus ein erhebliches Risikopotential für die Ausbreitung der Epidemie. Ein Sonderprogramm mit den Zielen Schaffung menschenwürdiger Unterkünfte und Garantien für ein menschenwürdiges Leben ist für diese Gruppe in Zusammenarbeit mit den in diesem Bereich aktiven sozialen Verbänden aufzulegen. Bei Einrichtungen für diese Bevölkerungsgruppen sind strenge Gesundheits- und Sicherheitsrichtlinien anzuwenden. Die geschlossenen Zentren sind in offene Aufnahmezentren mit sanitären Einrichtungen umzuwandeln. Undokumentierte Migrant*innen müssen einen legalen Status erhalten.
  3. Hilfsprogramm für die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln // Die Lage auf den griechischen Inseln mit großen Ansammlungen von Geflüchteten hatte sich in den ersten Wochen des Jahres 2020 bereits enorm zugespitzt. Mit der Corona-Epidemie werden die Verhältnisse dort nochmals kritischer. Es ist verantwortungslos in genau dieser Situation die nationalen Grenzen hochzuziehen und die Menschen dort – und nicht zuletzt das EU-Mitgliedsland und Euroland Griechenland – im Corona-Regen stehen zu lassen. Die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel: „Die Bundesregierung und die Europäische Union sind hier in der Pflicht, gemeinsam mit internationalen Hilfsorganisationen sofort Abhilfe zu schaffen. Durch die katastrophale Situation der Menschen in dem Lager gehören viele zu einer Risikogruppe. Eine massive Verbreitung des Corona-Virus auf den griechischen Inseln muss verhindert werden. DIE LINKE teilt den dringenden Appell von ‚Ärzte ohne Grenzen‘, die EU-Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln zu evakuieren, sobald es die Corona-Eindämmung zulässt, damit es nicht zu noch mehr Opfern unter den 42.000 Asylsuchenden auf den griechischen Inseln kommt. Darüber hinaus muss endlich eine gesamteuropäische humane Flüchtlingspolitik umgesetzt werden, die großzügige Resettlement-Programme, rechtsstaatliche Asylverfahren und humanitäre Lösungen beinhaltet.“69 Eine aktuelle Petition ruft dazu auf, ein halbes Dutzend der – inzwischen fast komplett ungenutzten – großen Kreuzfahrtschiffe dafür einzusetzen alle rund 40.000 Geflüchteten, die auf den griechischen Inseln leben, für eine begrenzte Zeit und bis Ende der Corona-Krise bzw. bis eine menschenwürdige Lösung für deren Verbleib gefunden wurde, aufzunehmen.70
  4. Direkthilfe für Italien und Spanien – europäische Solidarität praktizieren // Die Pandemie lässt sich nur international zurückdrängen // Die Länder, die ihre Wirtschaft zur Bekämpfung der Pandemie weitgehend stilllegen oder umfangreiche Quarantänegebiete schaffen müssen, werden von den anderen europäischen Ländern unterstützt. Diese Unterstützung erfolgt nach Maßgabe ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Es ist europäischer Fonds zu schaffen, der so umfangreich ist (mindestens eine Billion Euro), dass mit seinen Mitteln die schlimmsten Notlagen in den am stärksten betroffenen Regionen gelindert werden umfangreiche Investitionen in einen sozial-ökologischen Strukturwandel finanziert werden können. Vor dem Hintergrund der gewaltigen Leistungsbilanzüberschüsse von Deutschland spricht viel dafür, dass insbesondere Deutschland sich finanziell für Italien und Spanien engagiert – und dies als Schenkung.71
  5. Drohende neue Eurokrise, Italien und Spanien im Zwangskorsett der Eurozone // Im Rahmen der sich weiter zuspitzenden Krise könnte sich bald auch die Frage stellen, ob ökonomisch eher schwächere Euro-Länder (wir erinnern daran, dass diese 2015 einmal halboffiziell als PIIGS bezeichnet wurden – für Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien) es sich weiter leisten können und wollen, im Korsett des Euroraums zu verbleiben. Insbesondere in Italien könnte sich eine Situation entwickeln, dass dieses Land auf eigenen Wunsch die Eurozone verlassen will. Die mangelhafte Hilfe auf medizinischem Gebiet und die fortgesetzte Verweigerung akzeptabler finanzieller Hilfen („Corona-Bonds“) durch Deutschland, Niederlande und Finnland und die EU-Kommission könnten eine solche Entwicklung herbeiführen. Kommt es zu einer entsprechenden Entscheidung der italienischen Regierung, dann darf sich die erpresserische Politik der EU und der Berliner Regierung, wie sie 2015 gegenüber Griechenland praktiziert wurde, nicht wiederholen. Vielmehr muss dann eine einvernehmliche, gemeinsam getragene Lösung für eine solchen Eurozonen-Austritt geschaffen werden. Dieses Thema hier zu erwähnen, mag zum aktuellen Zeitpunkt überraschend erscheinen. Doch eine solche Frage kann sich bereits in kurzer Zeit konkret stellen. Schließlich gab es die Euro-Krise 2012 bis 2015 in einer Zeit mit wirtschaftlichem Wachstum. Wir befinden uns aktuell am Rand einer neuen Euro-Krise. Und diese findet in der Zeit einer neuen schweren Wirtschaftskrise statt.72
  6. Umfassende Maßnahmen zur Reduktion der Verschuldung der europäischen Staaten // Viele Staaten in Europa waren als Ergebnis der Rettung des Finanzsektors während der Krise 2008-09 bereits vor der neuen Krise hochverschuldet. Nun stehen gigantische öffentliche Ausgaben an, die höher sein werden als jene zur Dämpfung der letzten Krise. Darum gilt es ein Moratorium für die Tilgung und Zinszahlungen durchzusetzen. Ein Großteil der Verschuldung ist durch fragwürdiges Geschäftsgebaren zugunsten des Finanzsektors und unsinnige Rüstungsgeschäfte zustande gekommen. Darum sind die Schulden öffentlich und demokratisch im Sinne eines Audits durch Gewerkschaften und Bürgerinitiativen zu überprüfen. Noch dringender ist Verschuldung in den abhängigen Ländern des Südens. Die finanzielle Erdrosselung durch den Schuldendienst verunmöglicht jede wirksame Bekämpfung der Pandemie. Ein Moratorium der Tilgung und Zinszahlungen muss der Einstieg in einen weitgehenden Erlass der Schulden sein.
  7. Schaffung eines europäischen Gesundheitsfonds // Die Staaten Europas verzichten auf alle ihre im Jahr 2020 und in den kommenden Jahren vorgesehenen Rüstungsausgaben und finanzieren mit den eingesparten Mitteln einen solidarischen Fonds. Dieser stellt sicher, dass vor allem in den stark von der Seuche betroffenen, armen und hochverschuldeten Ländern und Regionen alle erforderlichen Maßnahmen zur Sicherstellung der Gesundheit der Menschen finanziert werden. Der Fonds unterstützt auch die Menschen und Länder außerhalb Europas. Das kann schon bald dringend werden, wenn die Erkrankungen auch im Mittleren Osten und in Afrika zunehmen. Der Fonds wird gemeinsam von Gewerkschaften, Vertreter*innen sozialer Bewegungen und staatlichen Behörden unter Ausschluss des Finanzsektors geleitet.
  8. Erforschung und Entwicklung von Medikamenten gegen die Corona- (und andere) Epidemie(n) // Die Ausbreitung des Virus ist nur mit internationaler Solidarität und internationaler Kooperation zu stoppen. Dies wird heute bereits negativ verdeutlicht mit dem Versagen der EU hinsichtlich der wechselseitigen Hilfe innerhalb des europäischen Kontinents. Es wird positiv ansatzweise verdeutlicht mit der staatlichen Hilfe, die die VR China, Kuba und Russland gegenüber einzelnen europäischen Staaten (und anderswo) leistet. Dabei bleibt der Schutz der Menschen beine längerfristige Aufgabe. Darum sind die strukturellen Bedingungen zu schaffen, die die Erforschung und Entwicklung von Medikamenten im Dienste der Menschen – und zwar auf der ganzen Welt – ermöglichen. Die Monopolisierung von Wissen durch Patente ist in der medizinischen Forschung abzuschaffen. Stattdessen ist der freie Transfer und freie Export von medizinischen Geräten und Technologien zu ermöglichen, um die am stärksten gefährdeten Länder mit Medikamenten und medizinischen Geräten zu versorgen. Die bereits bestehenden und die neuen Impfstoffe und antiviralen Medikamente müssen kostenlos sein.
  9. Austeritätspolitik stoppen – den Gefahren einer verstärkten „Sparpolitik“ begegnen // Die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus und der Erkrankungen, die Unterstützung der Betreuung und Pflege, die Kurzarbeit, die Stilllegung von Betrieben und Unternehmen verursachen enorme Kosten. Diese Kosten dürfen nicht auf die Armen und Lohnabhängigen abgewälzt werden. Die Kürzungs- und Austeritätspolitik ist sofort zu stoppen. Zugleich gilt es – über die oben erwähnten Krisen-Sondersteuern hinaus – europäisch koordiniert in allen Ländern eine progressiv ansteigende Krisensteuer auf große Vermögen zu erheben. Große Vermögenswerte sind zur Finanzierung der erforderlichen öffentlichen Ausgaben herbeizuziehen. Die Länder müssen Kapitalverkehrskontrollen vorbereiten und durchsetzen.
  10. Corona-Krise und Solidarität mit armen Ländern // Die Corona-Pandemie ist global. Sie wird die Menschen in den abhängigen und peripheren Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika ungleich härter treffen als jene in den imperialistischen Zentren. Wir tragen in den europäischen Ländern auch eine Verantwortung dafür, die Pandemie weltweit zu begrenzen. Die gesellschaftlichen Bedingungen in den Ländern des Südens sind auch direktes Ergebnis davon, wie den Ökonomien in die Hierarchien des Weltmarktes integriert sind. Die Gesundheitssysteme sind vielen Ländern völlig unvorbereitet für eine Pandemie. Die Ausstattung mit Intensivpflegebetten reicht nirgendwo hin. Für die Millionen von Menschen, die im informellen Sektor einer prekären Arbeit nachgehen müssen, um zu überleben, sind die Regeln des social distancing nicht durchführbar. Quarantänemaßnahmen stellen das wirtschaftliche Überleben sofort in Frage.

In vielen Ländern haben sich in den letzten Monaten Millionen von Menschen gegen Diktaturen und korrupte Herrscher erhoben, um demokratische Rechte und gesellschaftliche Teilhabe einzufordern. Unterstützen wir diese Bewegungen. Sie werden in den kommenden Monaten vor riesigen Herausforderungen stehen.

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie muss auf allen geographischen Maßstabsebenen geschehen. Kurzfristige territoriale Quarantänemaßnahmen sind sinnvoll. Zugleich wäre es geradezu absurd zu denken, diese Herausforderung ließe sich auf nationaler Ebene meistern. Es braucht eine solidarische und globale Strategie. Groß ist die Gefahr, dass die Pandemie in den armen Ländern ganze Gesellschaften zerstören kann. Darum müssen wir gleichzeitig mit den Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit und des Lebens in unseren Gesellschaften immer an die globale Dimension denken und überlegen wie wir den Menschen in den Ländern mit schlechter Infrastruktur unter die Arme greifen können. Das beginnt mit Projekten des gegenseitigen Informationsaustausches und dem gemeinsamen Lernen über wirksame Maßnahmen zur Verhinderung der Virusausbreitung und reicht bis zur Durchsetzung umfangreicher materieller Hilfeleistungen.

6.3 Schritte zur gesellschaftlichen Aneignung des Gesundheitssektors und einer ökosozialistischen Umgestaltung

Die kapitalistische Gesellschaft wird auch nach einer Bewältigung oder Abschwächung der Ausbreitung der Covid-19-Erkrankungen nicht in der Lage sein, die elementarsten gesellschaftlichen und gesundheitlichen Bedürfnisse eines Großteils der Menschen zu befriedigen. Darum gilt es umgehend, die Weichen für eine viel weitergehende kreative Umgestaltung unserer Gesellschaften zu stellen.

  1. Demokratische gesellschaftliche Aneignung des Gesundheitswesens // Die öffentliche Beschlagnahmung und Aneignung von privaten Kliniken ist der Einstieg in eine große und langanhaltende Auseinandersetzung zur gesellschaftliche Aneignung aller wesentlicher Bereiche des Gesundheitswesens einschließlich der Krankenversicherungen und schließlich auch der Pharma- und Biotechindustrie sowie der gesamten medizinischen und pharmazeutischen Forschung und Entwicklung. Die Gesundheit der Menschen und der Ausbau einer kostenlosen gesellschaftlichen Infrastruktur für Pflege, Sorge und Gesundheit mit guten Arbeitsbedingungen sind Schlüsselelemente einer emanzipatorischen und ökosozialistischen Perspektive. Gesundheit darf keine Ware sein! Das gilt für alle Gesundheits- und Pflegedienste, für die Dienste der Krankenhäuser und letztlich auch für die Medikamente. Alle Krankenhäuser sind unter öffentliche und direkte Kontrolle der Beschäftigten zu stellen. Das wäre ein erster Schritt zur demokratischen gesellschaftlichen Aneignung des gesamten Gesundheitssektors. Damit sind wir auch bei der Frage, wie wir die Pharmaindustrie und den ganzen Bereich, der Gesundheitsprodukte herstellt, in den Dienst der gesamten Bevölkerung stellen können. Diese Industrien müssen das produzieren, was die Gesellschaft benötigt und nicht das, was die höchsten Profite abwirft.
  2. Solidarische und einheitliche Krankenversicherungen // Die Krankenversicherungen sind zu einer solidarischen öffentlichen und demokratisch kontrollierten Einheitskasse zu fusionieren. Sie sind mittels progressiv ansteigender und paritätisch von den Unternehmen mitbezahlter Lohnbeiträge zu finanzieren. Ihre Aufgabe lautet: die Menschen für die Kosten im Krankheitsfall versichern, nicht Profite erzielen.
  3. Sozial-ökologische Konversion // Nachdem wir die Corona-Pandemie ausgestanden haben, stellt sich weiterhin die Frage, welche Bereiche der Wirtschaft wir aus gesellschaftlichen und ökologischen Erwägungen wieder hochfahren wollen. Das ist der Einstieg in eine Auseinandersetzung, um alle gesellschaftlich nicht notwendigen oder gar schädlichen Bereiche endgültig runterzufahren oder massiv umzubauen. Die Erderwärmung und die mit ihr einhergehenden Klimakatastrophen stellen uns vor eine noch umfassendere Anforderung, unser gesamtes Wirtschaftssystem – also Produktion, Zirkulation und Reproduktion – grundlegend umzubauen. Die Rüstungsindustrie ist abzuschaffen. Ökologisch schädliche Sektoren wie die Luftfahrtindustrie, Automobilindustrie, der Tourismus sowie weite Teile der Unterhaltungsindustrie sind komplett umzubauen. Wir müssen Wege finden, um die Kreativität und die Arbeitskraft der Menschen nützlicheren Bereichen zu Gute kommen zu lassen. Die Gewerkschaften sollten sich zusammen mit den Umweltverbänden überlegen, wie industrielle Produktion und die Dienstleistungen auf sozial und ökologisch sinnvolle Aktivitäten und zwar unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und der gesamten Bevölkerung umzustellen sind.
  4. Demokratische gesellschaftliche Aneignung des Finanzsektors // Die Bewältigung der Gesundheitskrise und der anrollenden Wirtschaftskrise wird unermessliche finanzielle Mittel verschlingen. Spekulationsgeschäfte sind sofort mit hohen Finanztransaktionssteuern zu belegen, allerdings in der Perspektive diese komplett zu unterbinden. Die strategisch wichtigen Banken sind umgehend unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Die Beschäftigten, Gewerkschaften und Wissenschafter*innen erarbeiten gemeinsam konkrete Pläne um die Banken so umzubauen, dass sie den gesellschaftlichen Bedürfnissen zur Bewältigung der Krise, zur Finanzierung gesellschaftlich sinnvoller und ökologisch verträglicher Projekte dienen. Banken sind in den Dienst des ökologischen und gesellschaftlichen Umbaus der Produktion, Zirkulation und Reproduktion zu stellen. Damit werden allerdings bald wesentlich weniger Menschen in diesem Bereich arbeiten. Für diese Menschen müssen gesellschaftlich sinnvolle Jobs in anderen Bereichen geschaffen werden. Wir müssen umgehend die Arbeitszeit radikal verkürzen, damit wir die gesellschaftlich notwendige Arbeit möglichst gerecht auf die Mitglieder der Gesellschaft verteilen können.
  5. Versorgung in der Nähe // Nutzen wir die Krise, um eine Ökonomie der Nähe und Solidarität zu entwickeln. Ändern wir unsere Essgewohnheiten. Kaufen wir von lokalen Bioproduzent*innen. Das umweltschädliche Agrobusiness gilt es zu zerschlagen, während gleichzeitig die biologische Landwirtschaft international massiv ausgeweitet und entsprechend gefördert werden muss. Das ist zu verbinden mit der Selbstbestimmung der indigenen Völker, der Förderung genossenschaftlicher Bauerngemeinschaften und dem Aufbau einer vielfältigen Agrarökologie, die dazu beiträgt, die Ausbreitung von Krankheitserregern einzudämmen. Schließlich sind Schritte einzuleiten, um die Massentierhaltung abzuschaffen und die chemisch und biotechnologisch gestützte Agrarindustrie zu überwinden. Ein System, das sich auf bäuerliche Forstwirtschaft und Agrarökologie stützt wird uns gesunde Lebensmittel bieten, zugleich die Biodiversität wieder steigern, damit die Gefahren neuer Viren vermindern und einen wesentlichen Beitrag gegen die Erderwärmung leisten.
  6. Solidarische internationale Arbeitsteilung // Wir leben in einer globalen Ökonomie mit zahlreichen sinnvollen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verflechtungen. Die internationale Arbeitsteilung und die globalen Wertschöpfungsketten sind so solidarisch und ökologisch wie möglich zu organisieren. Das ist eine langfristige Aufgabe, die wir aber angehen müssen. Die konkreten Maßnahmen und Schritte bleiben zu entwickeln.

Die Corona-Pandemie legt mit aller Deutlichkeit offen, dass die auf Konkurrenz und Kapitalakkumulation beruhende kapitalistische Produktionsweise nicht in der Lage ist, die Gesundheit der Menschen sicherzustellen. Unternehmen im Gesundheitsbereich wollen Gewinne mit der Krankheit der Menschen machen. Aus Profitgründen tätigen Unternehmen Investitionen, die gesellschaftlich nicht vordringlich sind und verzichten zugleich auf nötige Vorsorgemaßnahmen, die teuer sind und keine Gewinne abwerfen. Die Regierungen reagieren allesamt zögerlich und selektiv auf die große Bedrohung, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit der großen Konzerne und die Geschäfte der lokalen Wirtschaft wie dem Tourismus nicht beeinträchtigen wollen. Das ist verantwortungslos und kriminell. Wir erleben in diesen Wochen, dass Hundertausende von Menschen in Europa und in Nordamerika an einer Viruspandemie erkranken und viele Zehntausende sterben. Diese Pandemie wäre politisch, organisatorisch, technisch und wirtschaftlich zu verhindern gewesen. Die Entscheidungsträger, gefangen in ihrer Logik des Kapitals und der Konkurrenz, haben versagt. Nun erleben wir barbarische Prozesse. Handeln wir, bevor sich die Barbarei verallgemeinert. Diese unermessliche Gesundheitskrise – wie übrigens auch die heranziehenden Klimakatastrophen – zeigt uns in aller Dinglichkeit, dass wir umgehend eine komplette Kehrtwende einleiten müssen. Die Gesundheit und das Wohl der Menschen gehen vor Profite – jetzt und später, hier und überall. Darum regen wir zu einer internationalen Debatte über die Inhalte und Strategien für einen umfassenden ökosozialistischen Umbruch an.

Die neue Wirtschaftskrise und die Corona-Epidemie stellen einen tiefen Einschnitt in unserer Geschichte dar – vielleicht ist es der tiefste seit Ende des Zweiten Weltkriegs. In ganz Europa wusste man am Ende des Zweiten Weltkriegs, dass diese Barbarei nicht das Resultat einzelner faschistischer Diktaturen in Berlin, Rom und Tokio war, sondern dass es der barbarische Krieg und der Holocaust in einem engen Zusammenhang von Kapital, Konkurrenz und Streben nach Weltmarkt-Herrschaft zu sehen sind Das war im Besonderen im gesellschaftlichen Bewusstsein in denjenigen Ländern verankert, in denen es gelang, die faschistische Diktatur durch demokratische und sozialistische Massenbewegungen im eigenen Land zu beseitigen – so in Italien, in Frankreich, in Griechenland, in Jugoslawien usw. In Österreich schlug sich dies in einer demokratischen Verfassung, in der Verpflichtung auf Neutralität und in der Verstaatlichung des größten Teils der Wirtschaft nieder. Vergleichbares traf auch auf Deutschland zu. Auf dem Gebiet von Ostdeutschland verfügten KPD und SPD in den Jahren 1945 bis 1948 über große Mehrheiten und forderten Enteignungen, Vergesellschaftungen und eine Absage an jede Art neue Militarisierung. In Westdeutschland waren sich die Parteien der bürgerlichen Mitte und alle Parteien auf der Linken, SPD und KPD, einig: Nur ein Wirtschaftsmodell, das auf Demokratie und Planung basiert, hat Zukunft und verhindert eine Wiederholung des Gangs in Weltwirtschaftskrise, Faschismus, Krieg und Elend. Oder, in den Worten des CDU-Programms von Ahlen: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den […] sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.[…] Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht.“73 Diese Feststellungen im Programm der Partei der bürgerlichen Mitte – also im Gründungsprogramm der Partei von Angela Merkel – trugen erheblich dazu bei, dass es im Grundgesetz die zitierten Artikel 14 und 15 gibt, die eine Enteignung großer Unternehmen und deren Überführung in Gemeineigentum als Möglichkeit vorsehen. Und dass diese noch heute gültige deutsche Verfassung ursprünglich keinerlei Militär vorsah.

Aktuell erleben wir ein neues Mal – und nicht unähnlich der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – wie die kapitalistische Grundordnung versagt – auf ökonomischem Gebiet und auf dem Gebiet des Kampfes gegen die Epidemie. Die einzig wirksamen Maßnahmen, die in diesen Wochen ergriffen werden, sind fast ausschließlich solche, die in Widerspruch zum „Wirken der freien Kräften des Marktes“ stehen – es sind planwirtschaftliche. Diejenigen, die den freien Markt zum Götzen erklärt hatten, betteln bereits nach wenigen Wochen Krise um Staatshilfen. Aktuell werden diese planwirtschaftlichen Maßnahmen von Regierungen ergriffen, die sich bislang den neoliberalen Gesetzen, also dem „freien Wirken des Marktes“ verschrieben hat. Und zweifellos werden sie von diesen Personen nicht aus innerer Überzeugung ergriffen, sondern als Resultat von Not und äußerem Zwang, wobei diese Personen aufs Engste mit den Kapitalinteressen und den Privatisierungsprojekten verbunden sind. Wenn es also einen wirksamen Kampf gegen den Strudel der neuen Krise und gegen die Corona-Epidemie geben soll, dann wird es darauf ankommen, dass solche Maßnahmen auf demokratischer Grundlage, getragen von einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung, durchgesetzt werden.

Das würde im Übrigen durchaus der Grundstimmung in großen Teilen der Bevölkerung entsprechen. Am 25. Februar 2020 – von Corona-Krise war damals noch kaum die Rede – konnte man in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf einer kompletten Seite unter der Überschrift „Kapitalismus am Pranger“ lesen: „Die Löhne sind hoch, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, der Sozialstaat wächst. Trotzdem glaubt mehr als jeder zweite Deutsche, dass der Kapitalismus mehr schadet als nutzt.“

Quellen der Daten in den Abbildungen

Deutschland:

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html

https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Deutschland

https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit/

Schweiz:

https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/situation-schweiz-und-international.html

https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_der_Schweiz

Österreich:

https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Neuartiges-Coronavirus-(2019-nCov).html

https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_%C3%96sterreich

Italien:

http://www.protezionecivile.gov.it/web/guest/media-comunicazione/comunicati-stampa

https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Italien; https://en.wikipedia.org/wiki/2020_coronavirus_pandemic_in_Italy;

https://www.corriere.it/speciale/esteri/2020/mappa-coronavirus/

Spanien: https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Spanien

China: https://en.wikipedia.org/wiki/2019%E2%80%9320_coronavirus_pandemic_in_mainland_China

Frankreich: https://fr.wikipedia.org/wiki/Pand%C3%A9mie_de_maladie_%C3%A0_coronavirus_de_2020_en_France

Tagesaktuelle globale Übersichten:

https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6

https://interaktiv.morgenpost.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit/

https://www.worldometers.info/coronavirus/

1 José Marcos: Paralizada toda actividad no esencial en España. El Pais 28. März 2020 < https://elpais.com/espana/2020-03-28/el-gobierno-amplia-el-confinamiento-los-trabajadores-de-actividades-no-esenciales-deberan-quedarse-en-casa.html>

2 Paul Krugman: Covid-19 Brings Out All the Usual Zombies. Why virus denial resembles climate denial. New York Times, 28. März 2020. <https://www.nytimes.com/2020/03/28/opinion/coronavirus-trump-response.html?action=click&module=Opinion&pgtype=Homepage>

3 Rosa Luxemburg (1916): Die Krise der Sozialdemokratie. < http://www.mlwerke.de/lu/luf_1.htm>

4 Mit europäischen Regierungen meinen wir die Regierungen der EU-Staaten, Großbritannien, Norwegen und Schweiz. Das Verhalten der Regierungen in Weißrussland, Russland, Ukraine, Moldawien, Armenien und Georgien müsste extra untersucht werden.

5 Eine gute Übersicht und Einschätzung über die relevante Studienlage gibt das Robert Koch Institut: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText3

6 Michael Matzenberger: Bei den Corona-Zahlen stehen alle im Dunkeln. Der Standard., 4. April 2020 < https://www.derstandard.at/story/2000116399653/bei-den-corona-zahlen-stehen-alle-im-dunkeln>

7 Joachim Müller-Jung: Kliniken im Seuchenmodus: „Italienische Verhältnisse können wir händeln“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. März 2020 <https://www.faz.net/aktuell/wissen/corona-patienten-italienische-verhaeltnisse-koennen-wir-haendeln-16674388.html>

8 Myrte Müller: Tessiner Spitäler am Anschlag – Arzt schlägt Alarm

«Wir wissen nicht, wie wir alle versorgen sollen» <https://www.blick.ch/news/schweiz/tessin/tessiner-spitaeler-am-anschlag-arzt-schlaegt-alarm-wir-wissen-nicht-wie-wir-alle-versorgen-sollen-id15798167.html>

Samuel Laurent : Coronavirus : dans les hôpitaux du Grand Est, « la situation est très difficile » Le Monde, 15. März 2020 < https://www.lemonde.fr/societe/article/2020/03/15/coronavirus-dans-les-hopitaux-du-grand-est-la-situation-est-tres-difficile_6033166_3224.html>

9 Norbert J. Mauser hat mit einem Modell den Verlauf in Österreich abgeschätzt, wenn die Maßnahmen so wirksam wie jene in China sind. 22.-26. März 2020 https://www.wpi.ac.at/uploads/Pauli-Corona-AnalogComputerModell.pdf

10 Robert Koch Institut: <https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText21>

11 Financial Times: Second wave of coronavirus cases hits Asia. 18. März 2020 < https://www.ft.com/content/859e9336-68db-11ea-a3c9-1fe6fedcca75>

12 Wobei die Branche längst kreativ-zynisch versucht, den Zeitgeist wiederzugeben. So wenn am 19. März 2020 der AutoherstellerLandrover in deutschen Tageszeitungen (so in der „Süddeutschen Zeitung“) mit dem Text „Keine Zeit zu sterben – LandRover above & beyond“ für das „neue Modell Rover Defender“ warb.

13 Thomas Sablowski: Gewerkschaftlicher Erfolg in der Corona-Krise in Italien. 28. März 2020 <https://ifg.rosalux.de/2020/03/28/gewerkschaftlicher-erfolg-in-der-corona-krise-in-italien/>

14 Margherita Stancati and Eric Sylvers: Italy’s Coronavirus Death Toll Is Far Higher Than Reported. The Wall Street Journal, April 1, 2020 < https://www.wsj.com/articles/italys-coronavirus-death-toll-is-far-higher-than-reported-11585767179>

15 2018 gab es in Italien 3428 Straßenverkehrstote.

16 Margherita Stancati and Eric Sylvers: Italy’s Coronavirus Death Toll Is Far Higher Than Reported. The Wall Street Journal, April 1, 2020 < https://www.wsj.com/articles/italys-coronavirus-death-toll-is-far-higher-than-reported-11585767179>

17 ORF: Tirol unter Quarantäne, mehr Restriktionen, 18. März 2020 < https://orf.at/stories/3158458>

18 In vielen bayerischen Städten wurden als Ergebnis der Kommunalwahlen am 29. März Stichwahlen abgehalten. Dabei war ausschließlich Briefwahl möglich. Das dürfte vom Standpunkt eines demokratischen Verfahrens ein höchst problematisches Vorgehen sein. Eine komplette Absage der Stichwahl (ggfs. einschließlich einer Annullierung der Wahlen vom 15. März, wenn eine weite Verschiebung der Stichwahl das notwendig gemacht hätte) wäre das angemessene Vorgehen gewesen.

19 Corona-Krise: Gemeinsamer Aufruf von Pflegefachkräften an Jens Spahn! https://www.change.org/p/covid2019-gemeinsamer-pflegefachkr%C3%A4fte-aufruf-an-jensspahn?recruiter=64837628&utm_source=share_petition&utm_medium=facebook&utm_campaign=psf_combo_share_initial&utm_term=psf_combo_share_initial&recruited_by_id=ccdccd50-e68b-456d-92b2-1c02d260c891&utm_content=fht-20903473-de-de%3Av5

20 Manuel Escher: Immunität durch Infektionen für Junge, Monate der Isolation für Alte in Großbritannien. Der Standard, 12. März 2020 https://www.derstandard.at/story/2000115749523/immunitaet-durch-infektionen-harte-kritik-an-londons-covid-19-plaenen

21 Demetri Sevastopulo: Donald Trump warns of up to 240,000 coronavirus deaths in US. Financial Times, 1. April 2020 < https://www.ft.com/content/ce4098c9-8d34-4036-9a84-ca40b0294b88>

22 Christopher Weaver: Questions About Accuracy of Coronavirus Tests Sow Worry. Experts believe nearly one in three infected patients are nevertheless getting negative test results. The Wall Street Journal, April 2, 2020 <https://www.wsj.com/articles/questions-about-accuracy-of-coronavirus-tests-sow-worry-11585836001?mod=djemalertNEWS>

23 ORF: Herdenimmunität: Niederlande machen nach Kritik Rückzieher. 19. März 2020 <https://orf.at/stories/3158534>

24 Nach: Tagesspiegel (Berlin) vom 4. April 2020; https://www.tagesspiegel.de/wissen/kurswechsel-beim-coronavirus-premier-loefven-bereitet-schweden-auf-tausende-tote-vor/25715222.html

25 Neil M. Ferguson, et.al. (2020): Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and healthcare demand. Imperial College COVID-19 Response Team, Imperial College London, 16 March 2020 <https://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/medicine/sph/ide/gida-fellowships/Imperial-College-COVID19-NPI-modelling-16-03-2020.pdf>
Anmerkung: Diese Studie basiert auf der Prämisse, dass Maßnahmen zu keinerlei bedeutender Einschnitte im Wirtschaftsleben führen. Entsprechend ist das Fallszenario für Suppression/Containment nicht vergleichbar mit der Strategie wie sie z. B. in China angewandt hatte. Die Maßnahmen der meisten europäischen Länder werden hier als Suppression-Strategie angesehen. Expert*innen und auch die europäischen Regierungen selbst, gehen hier jedoch vom Verlangsamen (Mitigation) und nicht mehr von der gänzlichen Eindämmung aus.

26

Sandro Mezzadra: Eine Politik der Kämpfe in Zeiten der Pandemie. Medico International 17. März 2020 (ursprünglich 14. März auf EuoNomade <https://www.medico.de/eine-politik-der-kaempfe-in-zeiten-der-pandemie-17674>

27

Eric Gujer: Die Regierungen haben zu spät den Notstand ausgerufen, trotzdem kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Nun ist es umso wichtiger, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Neue Zürcher Zeitung, 16. März 2020 < https://www.nzz.ch/meinung/zu-spaet-zu-zoegerlich-in-der-corona-krise-wird-der-notstand-ausgerufen-ld.1546825>

28

Financial Times, April 1, 2020. Coronavirus stokes class friction in Europe < https://www.ft.com/content/e9e97d60-95de-4ffe-ad3c-fd8194dff6db>

29

Neil M. Ferguson, et.al. (2020): Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and healthcare demand. Imperial College COVID-19 Response Team, Imperial College London, 16 March 2020 <https://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/medicine/sph/ide/gida-fellowships/Imperial-College-COVID19-NPI-modelling-16-03-2020.pdf>

30
 Wall Street Journal: Rethinking the Coronavirus Shutdown – No society can safeguard public health for long at the cost of its economic health, 19. März, <https://www.wsj.com/articles/rethinking-the-coronavirus-shutdown-11584659154>

31
 Spiegel: Texas Vizegouverneur: Großeltern sind bereit, für ihre Enkel zu sterben, 24. März 2020, <https://www.spiegel.de/panorama/coronavirus-texanischer-gouverneur-fordert-grosseltern-auf-fuer-ihre-enkel-zu-sterben-a-5d7724af-e3d8-4ba0-a561-ecb8af0f402d>

32
 Thomas Tuma: Investor Dibelius: Shutdown der Wirtschaft macht mir mehr Angst als das Virus, 24. März 2020, <https://www.handelsblatt.com/finanzen/anlagestrategie/trends/interview-investor-dibelius-shutdown-der-wirtschaft-macht-mir-mehr-angst-als-das-virus/25671192.html?ticket=ST-456617-iSDe3fgK9MH3rLx34X1C-ap5>

33
 Monika Graf: H&M drängt geringfügige Beschäftigte in Österreich in unbezahlten Urlaub. Salzburger Nachrichten, 26. März 2020. <https://www.sn.at/wirtschaft/oesterreich/hm-draengt-geringfuegige-beschaeftigte-in-oesterreich-in-unbezahlten-urlaub-85422223>

34
 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText21

35
 https://www.tk.de/techniker/gesundheit-und-medizin/behandlungen-und-medizin/herz-kreislauf-erkrankungen/volkskrankheit-bluthochdruck-2015754

36
 https://www.diabetesde.org/ueber_diabetes/was_ist_diabetes_/diabetes_in_zahlen

37
 https://www.lungenaerzte-im-netz.de/krankheiten/asthma-bronchiale/haeufigkeit/

38
 www.krebsinformationsdienst.de/tumorarten/grundlagen/krebsstatistiken.php

39
https://www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Publikationen/Kurzbeitraege/Archiv2018/2018_4_Thema_des_Monats_lebensverlauf.html

40
 https://www.welt.de/gesundheit/article175163203/Noch-immer-rauchen-28-Prozent-der-Deutschen.html

41
 https://orf.at//stories/3159382/

42
 https://www.merkur.de/leben/gesundheit/coronavirus-risikogruppen-raucher-unabhaengig-alter-stark-gefaehrdet-zr-13593986.html

43

Bezogen auf die mittlere Lebenserwartung bei Geburt beträgt in Deutschland die Differenz zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe bei Frauen 4,4 Jahre und bei Männern 8,6 Jahre. https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/JoHM_01_2019_Soz_Unterschiede_Mortalitaet.pdf?__blob=publicationFile

44

ORF: Alle unter einem Dach: Zu viel Nähe als Konfliktpotenzial. 19. März 2020 < https://orf.at/stories/3157761>

45 Bundestagsdrucksache 17/12051 vom 3. Januar 2013 <http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/120/1712051.pdf>

46 ORF vom 2. April 2020. <https://orf.at/stories/3160343/>

47 ORF vom 3. April 2020 <https://orf.at//stories/3160542/>; Alexander Fröhlich: Lieferung für Berliner Polizei wurde in Thailand zu besserem Preis aufgekauft. Der Tagesspiegel, 4. April 2020 < https://www.tagesspiegel.de/berlin/200-000-atemschutzmasken-doch-nicht-konfisziert-lieferung-fuer-berliner-polizei-wurde-in-thailand-zu-besserem-preis-aufgekauft/25715448.html> Zu Berlin: FAZ vom 4.4.2020; https://www.faz.net/2.1652/hat-amerika-200-000-atemschutzmasken-fuer-deutschland-konfisziert-16711782.html

48

Eric Gujer: Die Regierungen haben zu spät den Notstand ausgerufen, trotzdem kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Nun ist es umso wichtiger, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Neue Zürcher Zeitung, 16. März 2020 < https://www.nzz.ch/meinung/zu-spaet-zu-zoegerlich-in-der-corona-krise-wird-der-notstand-ausgerufen-ld.1546825>

49

Thomas Mayer: EU-Sondergipfel beschließt 25 Milliarden Euro gegen Corona-Folgen. Der Standard, 10. März 2020 <https://www.derstandard.at/story/2000115603943/eu-sondergipfel-beschliesst-25-milliarden-euro-gegen-corona-folgen>

50

ORF: Mühsam berechnete Milliarden. 12. März 2020 <https://orf.at/stories/3157397/>

51

Carlos E. Cué /Bernardo de Miguel: Michel: “¿Tenemos acuerdo, Pedro?” Sánchez: “No. Así es inaceptable”. Así fue la tensa cumbre de la UE. El Pais, 28. März 2020 < https://elpais.com/espana/2020-03-27/michel-tenemos-acuerdo-pedro-sanchez-no-asi-es-inaceptable-asi-fue-la-tensa-cumbre-de-la-ue.html?rel=mas> Ähnlich Politico vom 30. März 2020 https://www.politico.eu/article/von-der-leyen-corona-bonds-slogan-firestorm-in-italy/

Bernardo de Miguel / Lluís Pellicer / Carlo E. Cué. El plan de choque europeo encalla por la resistencia de Alemania y Holanda. El Pais 27. März 2020 <https://elpais.com/economia/2020-03-26/el-plan-de-reactivacion-enfrenta-a-la-ue-en-su-mayor-crisis-sanitaria.html>

52

ORF: Von der Leyen warnt vor geschlossenen Grenzen. 16. März 2020 < https://orf.at/stories/3158053/>

53

Nach: Tageblatt Letzeburg (Luxemburg) vom 2. April 2020.

54

In dieser Summe sind die Gelder, die in China ausgegeben wurden, nicht berücksichtigt.

55

Maurizio Coppola: Arbeiter*innen in Italien streiken für ihre Gesundheit, 14. März 2020 <http://www.oekosoz.org/2020/03/arbeiterinnen-in-italien-streiken-fuer-ihre-gesundheit>

56

Spanien: 5000 Arbeiter*innen von Mercedes stoppen die Produktion aufgrund der Untätigkeit des Unternehmens, 16. März 2020 < https://www.klassegegenklasse.org/spanien-5000-arbeiterinnen-von-mercedes-stoppen-die-produktion-aufgrund-der-untaetigkeit-des-unternehmens>

57

José Marcos: Paralizada toda actividad no esencial en España. El Pais 28. März 2020 <https://elpais.com/espana/2020-03-28/el-gobierno-amplia-el-confinamiento-los-trabajadores-de-actividades-no-esenciales-deberan-quedarse-en-casa.html>

58

Die Führungskrise kommt teilweise auch innerhalb der Nationalstaaten zum Ausdruck. In den USA sind binnen weniger Tage enorme Differenzen zwischen führenden Teilen des Establishments aufgetaucht – so in dem Disput zwischen Donald Trump und dem Gouverneur von New York Andrew Cuomo. In Deutschland wetteifern einzelne Landesfürsten – so der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und der NRW-Ministerpräsident Armin Laschet – darum, wer der bessere Krisenmanager sei – so es fehlt eine bundeseinheitliche Linie in vielen Fragen zum Vorgehen in der Corona-Krise.

59

DIE LINKE: Die Coronakrise ist eine gesellschaftliche Krise. Diese wollen wir solidarisch bewältigen. – Was jetzt passieren muss. Beschluss des Geschäftsführenden Parteivorstandes vom 16. März 2020 < https://www.die-linke.de/partei/parteistruktur/parteivorstand/2018-2020/beschluesse/detail/news/die-coronakrise-ist-eine-gesellschaftliche-krise-diese-wollen-wir-solidarisch-bewaeltigen-was-jetzt/>

60

https://www.gemeingut.org/gib-aufruf-keine-krankenhausschliessungen/

61

Siehe oben Beschluss des Geschäftsführenden Parteivorstands DIE LINKE.

62

Allein die Stadt Berlin und das Land Brandenburg verfügen mit 236.000 Betten in den Beherbergungseinrichtungen (Hotel, Pensionen) über eine Bettenkapazität, die der Hälfte aller in Deutschland verfügbaren Krankenhausbetten entspricht.

63

Dass eine solche Zielsetzung zügig umsetzbar ist, zeigte sich in der VR China im Januar und Februar 2020. Nachdem dort der Verkauf von GM-Autos um bis zu 90 Prozent sank, stellte der Konzern – auf Anforderung der Zentralregierung in Peking – die Produktion in seinen chinesischen Werken zum größten Teil auf die Fertigung von Mund-Nase-Masken um. In Frankreich hat der Luxuskonzern LVMH Mitte März damit begonnen, seine Parfum-Produktion auf die Herstellung von Desinfektionsmitteln umzustellen. Auch deutsche Chemieunternehmen kündigten an, ihre Kapazitäten in eine vergleichbare Richtung neu auszurichten. In den USA hat die US-Regierung am 27. März angekündigt, unter Rückgriff auf ein Notstandsgesetz aus dem Koreakrieg den Autokonzern GM dazu zu zwingen, Beatmungsgeräte zu erstellen. GM hatte sich zuvor geweigert, dies zu tun und zwar nicht, weil dies technisch schwierig sei, sondern weil die Konzernleitung dafür die Zusage eines Betrags von mehr als einer Milliarde US-Dollar forderte.

64

Interview im Deutschlandfunk am 27. März 2020. <https://www.deutschlandfunk.de/schwarze-null-und-coronakrise-deutschland-hat.694.de.html?dram:article_id=473176>

65

Anzeige IG Metall in großen Tageszeitungen, hier in der Süddeutschen Zeitung, vom 28. März 2020.

66 Solidarität in Zeiten von COVID-19. Handreichung für die Unterstützung selbständiger und freier Kulturschaffender https://vs.verdi.de/themen/nachrichten/++co++4e085142-660f-11ea-9bec-001a4a160100

67 Siehe die Erklärung Peter Kossen vom 17. März 2020;

Pfarrer Peter Kossen: Arbeitsmigranten sind Hochrisikogruppe

68
 Thorsten Kingreen, Professor für öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg: „Der neue Paragraf 5 im Bundesgesetz („Infektionsschutzgesetz“; d. Verf.) sieht unter anderem vor, dass sein Ministerium (dasjenige des Gesundheitsministers Jens Spahn; d. Verf.) per Rechtsverordnung von allen Vorschriften des Infektionsschutz- und anderer Gesetze abweichen kann. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ein deutsches Parlament wieder eine solche Hindenburg-Klausel beschließen würde.“ In: Süddeutsche Zeitung vom 26. März 2020.

69 Erklärung von Heike Hänsel, MdB DIE LINKE vom 16. März 2020;

Griechische Flüchtlingslager medizinisch gegen Corona-Ausbreitung schützen und mittelfristig evakuieren

70

https://weact.campact.de/petitions/kreuzfahrtschiffe-fur-gefluchtete-der-uberfullten-lager-griechenlands?share=e726476e-7411-4234-a040-dd9bf44cd67d&source=email-share-button&utm_medium=recommendation&utm_source=email

71

Es war überraschenderweise der langjährige, ehemalige Chef des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, der am 19. März in einem Interview mit dem Deutschlandfunk forderte: Deutschland möge eine Soforthilfe „als Geschenk“ in Höhe von zunächst 20 Milliarden Euro an Italien gewähren. Das Land befinde sich „in großer Not“. Auf die Zwischenfrage des Interviewers, ob denn so etwas „für die Steuerzahler vermittelbar“ wäre, antwortete Sinn: „Das ist sehr wohl vermittelbar und jetzt dringend notwendig.“

72

Siehe zu den Exportüberschüssen im Rahmen der Eurozone ausführlich: Nikos Chilas / Winfried Wolf, Die griechische Tragödie. Rebellion. Kapitulation. Ausverkauf, Wien, 3. erw. Aufl. 2019, Seiten 96ff.

73

Das Ahlener Wirtschafts- und Sozialprogramm der CDU, 1. und 3. Februar 1949.