Das System Tönnies ist das System Kapital

Fragen und Antworten

Am 26. Juni 2020 verkündete die Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner auf einem „Fleisch-Gipfel“ die „Fleisch-Wende“. Der Milliardär Clemens Tönnies Clemens war per Video zugeschaltet. Für Klöckner gibt es „keinen Weg mehr zurück“. Das klingt so, als ob die Politik jetzt durchgreife, eben eine echte „Wende“ hinlege.

Antwort: Erneut bewegt sich das, was die Bundesregierung zum Tönnies- und Fleischwirtschafts-Skandal sagt, weitgehend auf einer falschen Ebene. Man will beim Verbraucher mit einer „Tierwohl-Abgabe“ ansetzen. Da folgert dann Bild (26.6.): „Fleisch und tierische Produkte könnten schon bald teurer werden. […] Denkbar wären über eine Verbrauchsteuer Aufschläge von 40 Cent pro Kilogramm Fleisch und Wurst, 2 Cent pro Kilo für Milch und Frischmilchprodukte.“ Dazu werde, so Klöckner, auch „der Staat Geld in die Hand nehmen“, um den „tiergerechten Umbau der Stallungen“ mitzufinanzieren. Kann man Kerker artgerecht gestalten? Vor allem aber heißt das: Die Verantwortung für all die Schweinereien wird bei den Discountern angesiedelt. Die soeben verkündete Mehrwertsteuersenkung soll durch eine neue Verbrauchersteuer kassiert werden. Dabei sind die Fleischkonzerne hochprofitabel. Sie müssen zur Kasse gebeten werden. Das „System Tönnies“ in den Schlachtereien und Fleischzerlege-Betrieben ist die eigentliche Schweinerei: Seit Jahren fordern Gewerkschaften, kirchliche Vertreter und Tierschützer, dass das System der Werkverträge umgehend beendet werden muss. Das Versprechen, das werde ab dem 1. Januar 2021 so sein, ist vage. Der Verweis, es gebe „in Bälde einen Gesetzesentwurf“ ist billig. Vor allem zeichnen sich längst die neuen Wege zur Umgehung und zum fortgesetzten Lohndumping ab. Dann wird es „Arbeitsverträge mit sachgrundloser Befristung“ geben. Es geht Tönnies & Co. vor allem darum, Betriebsräte und gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern. Laschet (MP), Laumann (Arbeitsminister NRW) und Heil (Arbeitsminister Bund) hätten längst auch ohne neues Gesetz aktiv werden können. Elmar Wigand vom der aktion gegen arbeitsunrecht: „Ein kurzer Blick in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) […] reicht, um festzustellen, dass hier Schein-Werkverträge vo rliegen. Illegale Arbeitnehmerüberlassung mit weitreichenden Folgen für die Sozialkassen. […] So spricht Tönnies stets generös von ´meinen Arbeitern´ und heuchelt Multikulti-Harmonie.“ (UZ vom 29.5.2020).

Clemens Tönnies selbst hat zugesagt, dass es nun einen „absoluten Neuanfang in der Branche geben“ würde – mit Tönnies als Vorreiter.

Antwort: Dass der Boss der Fleischbranche in dieser Krise von einem Neuanfang spricht, liegt nahe. Jeder PR-Stratege wird ihm dies nahelegen. Es spricht aber alles dagegen, dass irgendeine Art Neuanfang von der Fleischbranche im Allgemeinen und von Tönnies im Besonderen ausgeht. Peter Kossen, katholischer Pfarrer in Lengerich, der sich seit Jahren für die Belange der geschundenen Fleischarbeiter einsetzt: „Sie können mit der Mafia keine Verträge schließen. Sie können die Mafia nicht mit der Mafia bekämpfen.“ Das Fleisch-Business ist nicht nur brutal. Diese Brutalität ist systemimmanent und die Voraussetzung dafür, dass das Geschäft hochprofitabel ist – nicht zuletzt auf Basis von erpressten niedrigen Preisen des zugelieferten tierischen Schlachtmaterials und der Dumping-Löhne für das zugelieferte Ausbeutungspotential. Zehn Konzerne kontrollieren 50 Prozent des gesamten Marktes. Marktführer Tönnies allein kontrolliert mit seinem Konze rn, der 16.500 Menschen beschäftigt, 30 Prozent im Bereich Schweine und 20 Prozent beim „Rest“. Jahresumsatz 2019: 7,3 Milliarden Euro. Clemens Tönnies privates Vermögen wird auf 2,3 Milliarden US-Dollar geschätzt; das der (zerstrittenen) Familie auf mehr als das Doppelte. Der Mann ist bestens vernetzt, nicht nur als Aufsichtsratsvorsitzender des FC Schalke 04. Er ist auch eng mit der NRW-CDU und er war auch gut mit Landrat Sven-Georg Adenauer verbandelt.

Wenn diese Herren nun auf Distanz zum Obersten Schweinepriester gehen, dann tun sie dies nur aus Selbstschutz und weil der Skandal derzeit allzu groß wurde. Der erwähnte Landrat Sven-Georg Adenauer spricht davon, dass er „jedes Vertrauen in Tönnies verloren“ habe.

Antwort; Das stimmt möglicherweise. Tönnies geht täglich über Zehntausende Tier-Leichen. Er nimmt auch politische Leichen in Kauf. Landrat Adenauer verkündet auf seiner Website, dass seit seinem ersten Antritt als Landrat im Jahr 1999 „die Erwerbsquote“ im Kreis Gütersloh „von 37 auf 47 Prozent gestiegen“ sei. Das ist natürlich auch ein Resultat der Expansion von Tönnies mit seinem Dumping-Lohn-System. Landrat Adenauer sitzt nach eigenen Angaben in 53 Gremien und kassierte im vergangenen Jahr dafür an Nebeneinnahmen 85.777 Euro. Der Mann ist ein echter Netzwerker. Noch am Beginn der Corona-Krise ließ er auf seiner Website mitteilen (so am 26.6.2020 dort nachlesbar): In dieser Krise komme ihm und dem Kreis „die Aufgabe zu, eine Ermöglichungs- und keine Verhinderungsbehörde zu sein.“ Es ist genau dieses Laissez-faire, das zu der Explosion der Corona-Infektionen beitrug.

Die Landwirtschaftsministerin sprach am 26. Juni von „ethisch begründeten Preisen für Fleisch“.

Antwort Es geht vor allem um die Fleisch-Kultur. Beim Umgang der Fleischbosse mit der Tierwelt im Rahmen der Massentierhaltung kommt eine grundsätzliche Kultur der Verachtung von Leben zum Ausdruck. Die Welt der Fleisch-Branche ist vom Fleisch-Kult geprägt. Clemens Tönnies sagt: „Ich esse jeden Tag mein Stück Fleisch“. Das sei „gerade in Corona-Zeiten zur Stärkung der Immunabwehr wichtig.“ (Tagesspiegel 20.6.2020). Landrat Adenauer sagt, als „Henkersmahlzeit“ wünsche er sich „400 g Rumpsteak (medium) mit Speckbohnen und Kräuterbutter“ (Website). Es ist davon auszugehen, dass die hohen Herren sich dabei eher kein Tönnies-Fleisch gönnen, wie es aktuell bei Aldi als „Schweineschnitzel zu 4,99 Euro in der 800 Gramm-XXL-Packung“ (also 62,3 Cent je 100 Gramm) angeboten wird. Sie verzichten auch eher darauf, bei Netto zuzulangen, wo es „Schweine-Nacken-Kammsteaks in der 600 Gramm-Packung, mariniert in Köstritzer Schwarzbier, zu 3,19 Euro“, also 100 Gramm zu 53,2 Cent, gibt.

Diese Fleisch-Kultur paart sich mit Rassismus. Auf dem Handwerkertag im August 2019 wetterte Clemens Tönnies gegen höhere Steuern wegen des Klimawandels und forderte stattdessen den „Bau von Kraftwerken in Afrika“. Dann „würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn es dunkel ist, Kinder zu produzieren.“ (Süddeutsche Zeitung vom 27.6.2020) Als Armin Laschet, Ministerpräsident des Landes NRW, zum ersten Mal auf den Corona-Ausbruch bei den Tönnies-Betrieben in Rheda-Wiedenbrück angesprochen und gefragt wurde, was das zum Thema Lockerung, die ja von ihm so massiv vorangetrieben wird, bedeute, antwortete er: „Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt.“ (wdr-nachrichten, 19.6.2020). Erneut Rassismus pur. Tatsächlich spricht fast alles dafür, dass das Virus bei den Tönnies-Betrieben und damit seinen Ursprung in Deutschland hatte. Auf alle Fälle konnte die extreme Verbreitung nur auf Basis der Verhältnisse in den Tönnies-Schlacht- und Zerlegebetrieben (Arbeit ohne Abstand, nur 4-8 Grad Celsius, die Luft getränkt mit Flüssigkeiten, teilweise mit Blut) erfolgen. Es gab z.B. in ganz Bulgarien bis zum 26. Juni gerade mal 211 Corona-Tote. Rechnet man das auf Deutschland um, dann entspricht das rund 2500 Corona-Toten. Tatsächlich gab es hierzulande bislang knapp 9000 Corona-Tote. Die Corona-Infektionen in Bulgarien und Rumänien sind wesentlich geringer als in Deutschland. Eher trifft das Umgekehrte zu: Menschen, die sich in Deutschland bei Tönnies mit dem Virus infizierten, flüchten zurück in ihre Heimatländer und tragen dazu bei, dass es dort zu neuen Corona-Ausbrüchen kommt.

Auch dafür trägt die deutsche Seite die Hauptverantwortung. Der Rassismus, der den osteuropäischen Tönnies-Beschäftigten in Deutschland entgegenschlägt und der Einsatz von Bundeswehr (!) zur Durchsetzung der Quarantäne trugen erheblich dazu bei, dass Dutzende Tönnies-Beschäftigte in ihren Wohnorten im Umland von Gütersloh erst gar nicht aufzufinden waren, dass diese sich versteckten und dass sie den Weg in die Heimat antraten. (Siehe ausführlich auch Werner Rügemer auf Seite 6).

Zuerst erschienen in FaktenCheck:CORONA Nr. 2