Die Krise. Drei Branchen. Und Stuttgart21

Rede bei der Montagsdemo gegen Stuttgart 21 vom 29. Juni 2020

Hier geht es zur Video-Aufzeichnung der Montagsdemo und der Redebeiträge
Hier zur Dokumentation der Rede in der Wochenzeitung „Kontext

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

lasst mich mit zwei Vorbemerkungen beginnen:

  1. Das ist jetzt heute – nach einem halben Dutzend Zoom-Skype-und-anderen Video-Schalten – meine erste Rede, die ich, nach der Corona bedingte Zwangspause, wieder öffentlich halten kann. Und es ist ein besonders gutes Gefühl ist, dass ich hier in Stuttgart auf der Montags-Demo reden kann. Ich hoffe, das hält an; und wir können unseren Protest auch in Zukunft auf der Straße äußern. Wo nötig mit Mundschutz. Aber nie mit Maulkorb.
  2. In den letzten Stunden überkletterte die Spendenkampagne, die wir Mitte Januar 2019 für „LENK-IN-STUTTGART“ starteten, die 100.000 Euro Marke. Viele waren vor eineinhalb Jahren hoch-skeptisch, ob das klappen würde; nicht zuletzt ich, der ich noch nie eine vergleichbare Geldsammlung betrieb. Hier vor Ort gab es viele, die das aktiv unterstützten. Vor allem zwei, die auf dem Platz sind: Doris und Bernd. Ganz herzlichen Dank. Wichtig dabei ist: Es gab inzwischen fast 1000 Leute, die spendeten. Die durchschnittliche Höhe je Spende liegt bei 149 Euro. Es sind also vor allem eher einfache Leute, die „Lenk in Stuttgart“ wollen. „Nur“ ein Drittel der Spenden kommt aus Stuttgart und Region. Ein zweites Drittel aus dem übrigen Baden-Württemberg. Und ein Drittel aus dem übrigen Bundesgebiet: aus Köln, München, Leipzig, Hamburg, Berlin, Rostock oder auch den beiden Frankfurt: an der Oder und am Main. Das zeigt, wie unser Widerstand gegen das Monsterprojekt weiterhin breite Unterstützung findet. Es fehlen noch knapp 10.000 Euro bis zum 110.000-Euro-Ziel. Und das sollte bis Ende des Sommers zu schaffen sein.

Und dann – … ja dann spricht sehr viel dafür, dass diese wunderbare 10-Meter-hohe Skulptur, die Peter Lenk in Bodman am Bodensee in nunmehr zweijähriger Arbeit geschaffen hat, dass dieser „Schwäbische Laokoon“ hier in der Landeshauptstadt einen würdigen Platz erhält – und dann mitten in Stuttgart von der Absurdität und Monstrosität des Projekts selbst Zeugnis ablegt und die Ausdauer und die Kreativität unseres Widerstands gegen Stuttgart 21 dokumentiert.

[Anrede]

Derzeit tritt die Epidemie in Europa in den Hintergrund – auch wenn sie anderswo, so besonders in den USA und Brasilien, so stark wie nie zuvor wütet. Mit Stand von gestern Nacht sind es weltweit 500.321 Menschen, die an und mit dem Corona-Virus starben.[1]

In den Vordergrund rückt aktuell die Wirtschaftskrise. Und mit ihr die ersten großen Pleiten mit Massenentlassungen. So bei Condor. Bei Airbus. Und bei Galeria Karstadt-Kaufhof, wo allein 6000 Jobs wegfallen. In Stuttgart Bad Cannstatt, in Mannheim, in Göppingen, in Leonberg und in Singen werden fünf Kaufhäuser schließen. Wir auf diesem Platz sind solidarisch mit den Betroffenen. Und wir verlangen vom Land und den betroffenen Kommunen, aktiv zu werden und alles zu tun, die Kaufhäuser offen zu halten und die Arbeitsplätze zu erhalten.

Seit wenigen Tagen gibt es mit der Pleite des DAX-Konzerns Wirecard die Konkretisierung der Finanz-Crash-Gefahr. Als am 30. Juli 2007 die IKB-Bank zusammenbrach, kannte kaum jemand diesen Namen. Und keiner dachte, das könnte der Anfang einer Finanzkrise sein. Aber auch ohne Finanzcrash werden wir noch in diesem Sommer die Marke von drei Millionen Erwerbslosen überschreiten. Ein Blick in die USA, wo in drei Monaten 48 Millionen Menschen ihren Job verloren, zeigt, was alles auf uns zukommt.

Wobei die Epidemie keineswegs ausgestanden ist; eine zweite Welle kann entstehen. Aktuelle Hotspots wie die in Göttingen und Gütersloh zeigen, wie schnell das gehen kann. Die übervollen Ostsee-Strände am vergangenen Wochenende sind Ausdruck von Verantwortungslosigkeit.

Auch wenn die Fridays-for-Future-Bewegung von der Corona-Epidemie etwas an den Rand gedrängt wurden, muss allen klar sein: Das Thema bleibt auf der Tagesordnung. Es gibt weiter die dramatische Klimaerwärmung. Siehe der tauende Permafrost in Norilsk in Sibirien, durch den gewaltige Beton-Tanks mit Diesel absinken und leck schlagen. Die Klimakrise – auch aufgeheizt durch ein Projekt wie Stuttgart 21 – kann zu einem weit umfassenderen Lockdown führen, als das Corona-Virus einen solchen erzwang.

Für die Regierenden ist bereits jetzt klar: Die gigantischen Hilfsprogramme, die bislang den Kollaps verhinderten, sollen am Ende von der Mehrheit der Bevölkerung finanziert werden: Mit Sparprogrammen. Mit neuen Klinik-Schließungen (gerade wurde die Schließung von drei weiteren Krankenhäusern in Sachsen angekündigt). Mit Rentenkürzungen. Mit höheren Renten- und Sozialversicherungsbeiträgen.

Allgemein ist für uns ja klar: „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ Doch welche konkreten Antworten geben wir in dieser Krise? Genauer: Wie beantworten wir die falschen Antworten, die die Herrschenden bislang geben?

Drei Branchen können hier Aufschluss geben. Die Fleischbranche. Die Luftfahrt. Und die Autoindustrie. Alle drei tragen zur Epidemie bei. Alle drei tragen zur Klimaerwärmung bei. Alle drei stehen im Zentrum der Wirtschaftskrise. Und alle haben mit Stuttgart zu tun. Zwei auch mit Stuttgart 21.

Fleischwirtschaft. Vor Corona wusste kaum jemand, dass dieser Sektor ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Mit 120.000 Beschäftigten und 45 Milliarden Euro Umsatz. Mit einer enormen Kapitalkonzentration. 1993 gab es noch 350 Schweine-Schlachtereien. Heute sind es noch 120. Mit einem Weltmarktanteil der deutschen Schweine-Exporte von neun Prozent. Mit einer stark wachsenden Exportquote. Exportiert wird übrigens auch dorthin, wo die Arbeitskräfte herkommen – nach Rumänien und Bulgarien. Und nicht zuletzt wird nach China exportiert. Auch, so der Schlachtbranche-Chef Clemens Tönnies – ich zitiere: „Füßchen, Öhrchen, Schnäuzchen“, alles was in Europa eher als unappetitlich gilt.

Und obgleich die Lohnkosten in der Branche weniger als 8 Prozent ausmachen, herrscht in den Schlachtereien ein extremes Ausbeutungssystem, von dem vor allem osteuropäischen Werkvertragsarbeiter betroffen sind. Der katholische Priester Peter Kossen kümmert sich seit Jahren um die Werkvertragler. Er spricht von „sklavenartigen Zuständen“, von „Menschenhandel“ und von „Wegwerfmenschen“, die das Schweinesystem der Tönnies & Co. charakterisieren würden.[2]

Die Schlachthöfe tragen massiv zur Ausweitung der Corona-Infektionen bei. Bis zu einem Viertel der Schlachterei-Beschäftigten erwiesen sich bei den Tests als Corona-infiziert. Der weltweit wachsende Fleischkonsum, den die Branche vorantreibt, ist mitverantwortlich für die Klimaerwärmung. Seit 1960 gab es eine Verzehnfachung des Anbaus von Soja für Tierfutter. Wobei ist Regenwaldzerstörung in großem Umfang verbunden. Massentierhaltung ist ein Ausgangspunkt von Zoonose – Viren, die in der Tierwelt, oft im Bereich der Wildtiere, existieren, und die dort keine Krankheiten verursachen, springen von Wildtiermärkten und Massentierhaltung auf Menschen über, wo sie sich zur Epidemie entwickeln. Was in den Medien aktuell nicht oder nur am Rande gemeldet wurde, ist das Folgende, Hochspannende: In den letzten sechs Wochen mussten 400.000 Nerze in Nerzfarmen in den Niederlanden und in Dänemark getötet werden. Es wurde festgestellt, dass viele Nerze Corona-Viren entwickelt hatten, mit denen sich die Menschen, die dort arbeiten, angesteckt haben – und übrigens auch Katzen, die in den Nerzfarmen herumstreunten und die sich als Corona-Trägerinnen sich entpuppten. Das sind gefährliche neue Entwicklungen.

Und was passiert jetzt in der Krise? Die Fleischwirtschaft wurde als „systemrelevant“ eingestuft. Ihre Expansion setzt sich fort, auch wenn es ab Januar 2021 einiges an Kosmetik und einige Veränderungen bei den Beschäftigungsverhältnissen geben mag. Derzeit kosten 100 Gramm Schweineschnitzel bei Aldi weniger als 60 Cent. Wenn es die von der Agrarministerin Klöckner vorgestern angekündigte „Tierwohl“-Abgabe gibt, dann sind es vielleicht 90 Cent. Das ist und bleibt ein Skandal. Zumal das ja vor allem eine end-of-the-pipe-Abgabe ist. Und nicht dort ansetzt, wo es entscheidend wäre: In der Tierhaltung, bei den Tönnies-Gewinnen, beim 2,3 Milliarden-Euro-Vermögen des Clemens Tönnies.

Dabei bietet die Krise die Chance für eine umfassende Politikwende: Für eine Kampagne zur Reduktion des Fleischkonsums, zur Förderung von vegetarischer und veganer Ernährung, zur Ausweitung der Biolandwirtschaft, zur Förderung regionaler Agrarwirtschaft mit der Schaffung Zehntausender nachhaltiger Arbeitsplätze.

Man glaubt es kaum. Doch für den obersten Schweinepriester gilt: Bei jeder Schweinerei – ist Clemens Tönnies mit dabei. Also auch bei Stuttgart 21. Dieser Milliardär, der 30 Prozent aller Schweineschlachtungen in Deutschland kontrolliert, ist mit 33 Prozent an der „me and all Hotels GmbH“ beteiligt. Diese 2015 gegründete Hotelgruppe baut im Bonatz-Bau ein neues Vier-Sterne-Hotel – weswegen seit 2019 der Bahnhof entkernt wird. Weswegen für mindestens zwei Jahre dort alle Service-Einrichtungen geschlossen wurden. Der Architekt des Ganzen heißt – bingo & richtig: Christoph Ingenhoven!

Eine andere Personalie: Horst Mutsch. Dieser Herr ist Top-Manager bei der Station & Service AG, eine Tochter des Bahnkonzerns, sagte dazu: „Ein Hotel ist doch die optimale Nutzung für den historischen Bonatzbau.“[3]

Ist das nicht ehrlich? Ein Deutsche-Bahn-Mann sagt, ein Deutsche-Bahn-Bahnhof würde doch besser nicht mit Bahn-Aktivitäten, sondern am Besten mit bahnfremdem Investment genutzt. Oder auch, O-Ton „me and all hotels-GmbH“: „Wir wollen mit unserem Lokale-Größen-Konzept DJs und Künstler in das Hotel einbinden […] und dort after-work-partys, Lesungen und Wohnzimmerkonzerte stattfinden“ lassen.“[4]

Übrigens: 2009 gab es in Stuttgart 15.000 Hotelbetten. 2018 waren es 21.000. Aktuell sind es rund 22.500. Das ist ein 50-Prozent-Plus im Zehn-Jahres-Vergleich.[5]

Wobei die Auslastung der Hotel-Betten 2018 noch 50 Prozent betrug. Aktuell liegt sie bei 20 Prozent. Diese Art Aufbau von Hotel-Überkapazitäten könnte echt ins Auge gehen. Immerhin waren bislang fast alle Wirtschaftskrisen mit dem Platzen von Immobilien-Blasen verbunden.

Luftfahrt

In dieser Branche sind – einschließlich von Flughäfen, Airlines und dem Flugzeugbau von Airbus – rund 330.000 Menschen beschäftigt. Der Umsatz liegt bei 40 Milliarden Euro – nicht wesentlich höher als derjenige in der Fleischbranche.

Der Flugverkehr trug erheblich zur Epidemie bei. Das Virus wurde in Flugzeugen und vor allem von Geschäftsleuten aus China in alle Teile der Welt exportiert. Selbst der gewaltige Corona-Ausbruch im österreichischen Ischgl, wo die Lifts bis Saison-Ende laufen mussten, ist nach bisherigen Erkenntnissen auf eine Gruppe von eher reiche Menschen zurückzuführen, die Ende Dezember aus der chinesischen Provinz Hubei in China kommend in Ischgl Station machte.

Der Flugverkehr trägt massiv zur Klimakrise bei. Vor allem verursachen die CO-2-Emissionen des Flugverkehrs, die in großer Höhe emittiert werden, je Einheit deutlich größere Klimaschäden als die Kohledioxid-Emissionen des Autoverkehrs.

Aktuell steckt die Luftfahrt-Branche in einer tiefen Krise. Derzeit verbrennt allein der Konzern Lufthansa pro Stunde 1 Million Euro. Die Fluggastzahlen sind um mehr als 80 Prozent eingebrochen. Airbus will 15.000 Arbeitsplätze abbauen.

Auch hier bietet die Krise die Chance zum Umsteuern. Doch was machen die Regierenden? Die Lufthansa wird als „systemrelevant“ eingestuft. 9 Milliarden Euro Steuergelder werden für den Lufthansa-Staatseinstieg bezahlt – ohne jegliche Mitbestimmungsrechte.

Nötig wäre eine völlig andere Politik: Downsizing des Flugverkehrs. Renaturierung von Airports. Siehe der überwältigende Erfolg der Schließung und Rekultivierung des Berliner Flughafens Tempelhof, der ein echter Magnet für die lokale Bevölkerung wurde. Sinnvoll wäre zu prüfen, wie Stewardessen und Piloten in den übrigen öffentlichen Verkehr übernommen werden können. Allein im Bereich Schiene fehlen 3000 Zugbegleiter und 1500 Lokführer. Wobei viele Stewardessen nicht wesentlich mehr als Zugbegleiter verdienen. Und das Problem der höheren Gehälter der Piloten lässt sich dadurch lösen, dass die Lokführer-Einkommen deutlich angehoben werden.

Der Stutttgart21-Bezug liegt auf der Hand: Zunächst einmal dürfte sich die Luftfahrt-Krise im Fall des eher kleinen Stuttgarter Flughafen in einer existenziellen Airport-Krise niederschlagen. Der Echterdinger Airport ist grundsätzlich defizitär. Er wird jetzt ein fettes Defizit produzieren, das die Eigentümer – Land, Stadt und Region – , im Klartext: die Steuerzahlenden, ausgleichen müssen. Sodann spitzt sich aktuell die Krise mit S21 auf den Fildern neu zu. Dort wird eine neue Führung der Gäubahn diskutiert – mit einem neuen Tunnel, mit neuem zeitaufwendigen Planungsverfahren, wobei das natürlich neue Milliarden Euro kosten soll. Oder auch, wie es das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 schreibt: Hier wird „Wahnsinn mit Wahnsinn bekämpft“.[6]

Dabei ist die Lösung doch ganz einfach: Die Gäubahn muss auf der alten Strecke, auf dieser wunderschönen Panorama-Bahn bleiben. Und der Flughafen braucht gar keinen Anschluss an den ICE-Verkehr. Wenn es schon schnellen Schienenfernverkehr gibt, dann muss dieser die Stadtzentren direkt verbinden.

Jeder Halt vor den Toren der Stadt – auf dem Acker vor Frankfurt oder auf den Fildern über Stuttgart – deklassiert den ICE-Verkehr zum Zubringer zum Flugzeug. Dabei hieß es immer, der ICE werde Flugverkehr in großem Maßstab ersetzen.

Autoindustrie

Bleibt als letztes diese Branche – ein echtes Dickschiff: Mit 450 Milliarden Euro Umsatz. Mit inzwischen kaum vorstellbaren 63 Prozent Exportquote.

Hier gab es Anfang 2020 noch 820.000 Beschäftigte. Ende dieses Jahres werden es rund 75.000 Arbeitsplätze weniger sein. Es drohen große Pleiten. Das trifft zu auf Opel. Und auf den Autozulieferer Leoni. Es wird Werkschließungen und Massenentlassungen geben – auch in der Region Stuttgart.

2020 wird der Autoabsatz um 30 Prozent absacken. Einen solchen Einbruch gab es seit Weltkriegs-Ende noch nie. Wenn die ehemalige Glitzermetropole Detroit binnen dreier Jahrzehnte zur Armuts- und Geisterstadt wurde, dann kann Vergleichbares auch Wolfsburg, Ingolstadt, Heilbronn-Neckarsulm und Stuttgart drohen.

Die Autobranche ist für die Epidemie mitverantwortlich. Eine hohe Feinstaubbelastung – wie hier in Stuttgart oder auch in Norditalien mit Schwerpunkt Bergamo – erleichtert das Eindringen des Corona-Virus in die Tiefe der Lunge. Die Branche ist sodann mitverantwortlich für die Klimaerwärmung. Das gilt auch dann, wenn es zu der teilweisen Umstellung auf Elektroautos kommt.

Und was machen die Regierenden in der Krise? Es gibt neue Steuermilliarden für die Autokonzerne. Es gibt neue Versuche der deutschen Autolobby, in Brüssel die Schadstoff-Grenzwerte erneut anzuheben. Es werden neue Gelder in die Ladesäulen-Struktur investiert, wo dann die Betuchten ihre teuren Elektro-Pkw mit Billig-Strom betanken. Die Prämien für Elektro-Autos wurden nochmals erhöht. Und diese Prämien – die im Orwell-Sprech als „Umwelt-Bonus“ bezeichnet werden – gibt es auch für die Plug-in-Hybride.

Womit wir beim Stuttgart-Bezug wären. Daimler setzt massiv auf diese Pkw-Modelle. Der Konzern spricht davon, Plug-in-Hybride seien eine „wichtige Brückentechnologie“.

Daimler will in den nächsten fünf Jahren die Jahresproduktion der Mercedes-Benz-Plug-in-Hybrid-Modelle von aktuell 100.000 auf 300.000 mehr als verdreifachen.[7]

Dabei schreibt die „Wirtschaftswoche“ in einer ausführlichen Reportage über die „Hybrid-Lüge“ – ich zitiere: „In der Praxis vereinen Plug-in-Hybride […] das Schlechteste aus beiden Welten“, der des Elektroautos und der der Verbrenner-Pkw.[8] Das Blatt dokumentiert, basierend auf ausführlichen Studien, dass die tatsächlichen CO-2-Emissionen dieser Pkw „um bis zu 300 Prozent über den Werten“ liegen, die die Hersteller als Flottenverbrauch nennen. Sie liegen dann faktisch auch bei mehr als dem Doppelten der EU-Grenzwerte.

Auch hier böte die Krise die Chance für die Verkehrswende. Für ernsthafte Schritte zur Konversion – zur Umwandlung – von Autoproduktionsanlagen in Anlagen zur Fertigung von Loks, Waggons und Bussen. Für eine Übernahme von Autobeschäftigten, deren Jobs gerade jetzt – auch bei Daimler und auch bei Porsche und auch bei Audi in Heilbronn und Neckarsulm – gefährdet sind – in einen auszubauenden öffentlichen Verkehrssektor. Mit einem massiven Ausbau der Radwege. Endlich mit der Umsetzung von Tempolimits – 120 auf Autobahnen, maximal 80 auf den übrigen – Fernstraßen und maximal 30 im gesamten Stadtverkehr. Also: Entschleunigung und Gewinnung von Lebensqualität.

[Anrede]

Lasst uns eine Bilanz ziehen:

Bereits ein Blick auf diese drei Branchen zeigt: Die Krise bietet Chancen für die Politikwende. Doch die Regierenden erklären Sektoren für „systemrelevant“, die die Systeme Klima, Umwelt und Gesundheit zerstören.

Hinzu kommen natürlich Branchen, die nochmals deutlicher zerstörerisch sind – wie die Rüstungsindustrie, die ja auch als „systemrelevant“ eingestuft wurde. So gab es mitten in der Corona-Krise nur eine einzige angekündigte Großinvestition: Die Verteidigungsministerin teilte mit, man werde für mehrere Milliarden US-dollar F12-Kampfflugzeuge in den USA bestellen.

Zu all dem hinzu kommen dann „il grande opere inutile“ – diese großen unnützen und zerstörerischen Projekte. Gerade wurde uns gemeldet, dass unsere Freundinnen und Freunde im Val di Susa den Kampf gegen das absurde Großprojekt der Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyyon – Turin mit einem 50-km-Tunnel-bau neu intensivieren. Wobei bei diesen Großprojekten ganz oben auf der Liste steht: Stuttgart 21, wo ja auch die gesamte Corona-Krise hindurch weitergebaut werden musste.

Wo ja die neuen krassen Enthüllungen in Sachen Filder-Anschluss oder in Sachen Bebauungsbeginn Rosensteinpark ab dem Jahr 2035 inzwischen von den Grün- und Christlich- Regierenden geradezu stoisch hingenommen werden. Auen zu – und noch tiefer hinein in das Tunnel-Labyrinth.

Vorgestern charakterisierte Klaus Gebhard treffend die Situation:

„Wenn die verrannten und verbohrten S21-Tunnelfetischisten gleich welcher Couleur weiterhin auf nichts anderes als neue CO2-intensivste Tunnellösungen setzen, dann werden am Ende der geschätzt 15-20 Jahre Planungs- und Bauzeit gar keine Fahrgäste mehr übrig sein, weil sie die überhitzte und durch solch irre Projekte noch zusätzlich aufgeheizte Erdatmosphäre bis dahin weggeweht, weggeschwemmt oder ausgetrocknet haben wird! […] Wie können insbesondere Grüne die hochbrisante Klimaentwicklung, die uns keine 10 Jahre Zeit mehr bis zur totalen und unumkehrbaren Unbeherrschbarkeit mehr lässt, derart gravierende Erkenntnisse der Klimawissenschaften so vollständig ausblenden?“ Zitat-Ende von Parkschützer Gebhard] [9]

Die Regierenden steuern diese Branchen und die gesamte Wirtschaft in eine Richtung, die die zerstörerischen Potenzen steigern. Damit wird auch eine zweite Welle der Epidemie begünstigt. Damit wird die Klimakrise neu angeheizt. Damit werden Dutzende Steuermilliarden verbrannt. Indem Arbeitsplätze ohne Nachhaltigkeit erhalten werden, werden letzten Endes Hunderttausende Jobs gefährdet.

Und zwar genau in diesen Bereichen:

all das wird durch die Epidemie, mit der Wirtschaftskrise und als Ergebnis der Klimaaufheizung elementar in Frage gestellt.

Nur eine Politikwende um 180 Grad macht Sinn. Diese kann nur mit einem breiten Bündnis von unten, bestehend aus Gewerkschaftsmitgliedern, Umweltverbänden und Klimaaktiven, durchgesetzt werden. Wir auf diesem Platz und wir mit dieser Ausdauer und Kreativität sind Teil dieses Bündnisses.

Das „Wir zahlen nicht für eure Krise“ muss mit Inhalten gefüllt und mit einer Kampagne vorangetrieben werden. Ein zentraler Bestandteil in einem solchen Forderungskatalog lautet:

Stoppt Stuttgart 21. Setzt auf Umstieg 21, nunmehr neu konkretisiert mit der City-Güter-Logistik.

Lasst uns alle gesund und

… oben bleiben!

Anmerkungen:

[1] Angaben der Johns Hopkins University. Die Debatten darüber, wer „an“ oder „mit dem Virus“ gestorben ist, sind spitzfindig. Die Dunkelziffern der Corona-Toten, vor allem in den Peripherieländern, ist gewaltig. Seriöse Beobachter in Brasilien z.B. gehen davon aus, dass man die aktuelle Zahl von 57.622 Corona-Toten mit 4 bis 6 multiplizieren müsse, um in die Nähe der tatsächlichen Zahl der Corona-Toten zu gelangen.

[2] U.a. nach Weser-Kurier vom 19. Juni 2020. Vergleichbares sagt Peter Kossen jedoch seit mehr als acht Jahren. Siehe u.a. Publik (verdi) 7/2013. Das heißt: Der Skandal ist seit langer Zeit bekannt. Das hat nur wenige berührt – schon gar nicht die verschiedenen NRW-Landesregierungen. Erst durch Corona gelangte das Thema in die Massenmedien.

[3] Nach: Stuttgarter Zeitung vom 6. Juni 2017.

[4] Ebenda.

[5] Esslinger Zeitung vom 9. Februar 2020.

[6] Presseerklärung Aktionsbündnis gegen S21 vom 26. Juni 2020.

[7] Es geht aktuell um die fünf Plug-in-Hybrid-Modelle Mercedes Benz S560e, MB E300 de Limousine, MB 300 de T-Modell, A250e und A250e Limousine. Der zuletzt genannte, preiswerteste Plug-in-Hybrid hat einen Einstiegspreis von 34.623 Euro, bei dem zuerst genannten Modell beginnt der Grundpreis bei 91.000 Euro. Wobei mehr als 80 Prozent dieser Pkw als Geschäftswagen verkauft, also steuerlich zusätzlich begünstigt werden. (Angaben nach: Website Daimler Group; Stand: 27. Juni 2020).

[8] Wirtschaftswoche vom 30. April 2020 (19/2020).

[9] Rundmail vom 27. Juni 2020 von Klaus Gebhard, Parkschützer, aktiv im Widerstand gegen Stuttgart 21.

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Von dieser Publikation erschien soeben die Jubiläumsausgabe Heft 50. Soeben erschien, getragen von einem breiten Bündnis, Nr. 2 von FaktenCheck:CORONA-FCC. Verantwortlicher Redakteur: Winfried Wolf. Von Carl Waßmuth und Winfried Wolf erschien im Juni 2020 das Buch „Verkehrswende. Ein Manifest“ (PapyRossa, 200 Seiten). Schließlich erscheint Ende Juli 2020 von Verena Kreilinger, Winfried Wolf und Christian Zeller das Buch „Corona. Kapital. Krise. Die Solidarität in den Zeiten der Pandemie“ (PapyRossa, 300 Seiten).