blog 06: 20.000 Corona-Leugner auf Berlin-Besuch, das immer krasser und blasser werdende „Schweden-Corona-Argument“ und der Stuttgart21-Widerstand

20.000 Menschen und mehr demonstrierten am 1. August in Berlin unter dem Motto eines NSDAP-Propaganda-Films in Berlin für „Freiheit“ und gegen alle verbliebenen Auflagen in Sachen Corona-Epidemie. Die dabei auch verbreitete Losung „Wir sind die zweite Welle“ ist makaber angesichts der aktuellen Situation mit neuen Rekorden von Corona-Infektionen und der sehr real drohenden zweiten Epidemie-Welle. Führende Medien und die entscheidende Nachrichtenagentur brachten dabei ein Demo-Foto, auf dem in perfider Weise der Widerstand gegen Stuttgart 21 in Verbindung gebracht wird mit dem Leugnen der Corona-Epidemie. Und erneut wurde auf der Berlin-Demo behauptet, ohne Auflagen – etwa wie in Schweden praktiziert – würde die Gesellschaft weit besser fahren; es gelte die „Grundrechte“ und vor allem „die Freiheit“ ins Zentrum zu rücken. Auf Deutsch: das Recht für die Armen und Prekären, am Virus zu verrecken. Die Freiheit der Starken, jungen Gesunden, auf Kosten anderer das Leben zu genießen. Mehr dazu HIER.


Gestern – Sonntag, der 2. August – sah ich in den „Tagesthemen“ das Eröffnungsfoto zur Corona-Relativierer-Demo in Berlin, auf der vorne das Erkennungszeichen des Stuttgart21-Widerstands zu sehen ist: das Stuttgart-Ortsschild mit dem charakteristischen roten Querstrich. Und heute prangt dasselbe Bild auf Seite 1 der Montagsausgabe der „Süddeutschen“. Dort nochmals deutlicher zu sehen ein ergrauter Herr, der dieses Schild vor der Brust hält mit „Stuttgart21.. grüßt Berlin.“

Meine erste Reaktion: Das ist eine Provokation. Ich versuchte zu erkennen, ob mir der Mensch, der das Schild hält, bekannt ist. Was nicht der Fall ist – wobei es vor Ort in Stuttgart natürlich viel mehr Menschen gibt, die diesen Menschen eventuell identifizieren können. Mich würde es aber nicht wundern, wenn der Mensch gar nicht zum aktiven S21-Widerstand gehört und wenn das Anti-S21-Signet hier vor allem dazu dient, ein fragwürdiges Anliegen durch die Verbindung mit einer guten Sache aufzuwerten. Was dann in der Realität dazu führt, dass eine gute Sache abgewertet wird.

Denn auf alle Fälle ist es natürlich für die Medien, hier die dpa-Agentur, die „Tagesthemen“-Redaktion bzw. die „Süddeutsche-Zeitungs-Redaktion“ DAS gefundene Fressen. Diese Medien, die

– über Stuttgart 21 und unseren Widerstand so gut wie nie berichten,

– die die jüngsten dramatischen Entwicklungen (Bebauung Rosensteinpark ab 2035ff; die Notwendigkeit von neuen, 12 bis 20 Kilometern Tunnelstrecken mit Zusatzkosten von mindestens 1,5 Milliarden Euro; das Gäubahn-Panorama-Strecken-Desaster) systematisch verschweigen,

– die in den letzten Tagen, als die Deutsche Bahn die verheerende Halbjahresbilanz mit mehr als 5 Milliarden Euro Verlust im laufenden Jahr 2020 vorlegte, konsequent verschwiegen haben, dass die Fahrt des Bahnkonzerns Richtung Überschuldung und Prellbock NATÜRLICH auch viel mit dem Fass ohne Boden Stuttgart 21 zu tun hat

diese Medien-Leute bekommen jetzt die großartige Chance, mit einem Standbild, unter dem die alte Formel „ohne Worte“ stehen könnte, den Widerstand gegen Stuttgart 21 in die Schmuddel-Ecke der Corona-Leugner, in die Nähe eines bräunlichen Sumpfes und in die Schublade „irrationale Verschwörungstheoretiker“ zu platzieren.

Die Corona-Epidemie ist eine gigantische Herausforderung der weltweiten Zivilgesellschaft. Die von der medizinischen Wissenschaft, von Epidemiologie und Virologie und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als sinnvoll erachteten Maßnahmen gegen diese Epidemie sind grundsätzlich Jahrhunderte alt. Es gehört zum Erfahrungsschatz der Menschheit, die Jahrhunderte lang von Seuchen wie Pest und Cholera heimgesucht wurde, dass der einzige Schutz gegen eine Epidemie mit hoher Ansteckungsgefahr, gegen die es zum gegebenen Zeitpunkt kein Medikament, keine Chance auf Heilung, heute: keinen Impfstoff – gibt, die physische Distanz plus Hygienemaßnahmen und die Quarantäne von Infizierten sind.

Monatelang haben die Corona-Relativierer – sie sind zu Recht mit den Klimaleugnern auf eine Ebene zu stellen – alles getan, um die Zahlen der Infizierten, die Angaben zu den Corona-Toten zu bestreiten, und die Epidemie mit einer beliebigen Grippe zu vergleichen.

Heute, wo wir bereits knapp 700.000 Corona-Tote weltweit zu verzeichnen haben (konkret waren es am 2. August 679.000) und wo auf Welt-Ebene die Zunahme der Infektionen und der Corona-Toten-Zahlen sogar auf einem Rekordniveau stattfindet und wir in Deutschland wohl am Beginn einer zweiten Welle stehen, wird diese dramatische Welt-Ebene gern ausgeblendet und nur die bislang noch relativ befriedete Situation in Deutschland zugrunde gelegt. Wo es ja „noch nicht einmal“ 10.000 Corona-Tote sind (exakt – ebenfalls am 2. August: 9154).

Doch wie war das mit den Verweisen auf die Straßenverkehrstoten, die noch bis April immer als Vergleich herangezogen wurden? Aktuell haben wir mit den genannten mehr als 9000 Corona-Toten bereits drei Mal mehr Tote durch diese Epidemie wie es Straßenverkehrstote im GANZEN Jahr in Deutschland gibt.

Und warum stehen wir in Deutschland relativ gut da? Doch genau deshalb, weil es ab dem 15. März die Maßnahmen gab, gegen die nun in Berlin – und zuvor u.a. in  Stuttgart / Bad Cannstatt – demonstriert wurde. Es ist grotesk gegen das zu demonstrieren, was uns einen Teil der eingeschränkten Freiheiten zurück gab und was erste größere Demos erst wieder möglich machte. Wobei der Verlauf der Demo selbst so war, dass massive Rufe laut werden, die Demonstrationsfreiheit wieder einzuschränken.

Es sei ein böser geheimer Plan der Regierenden, der Herrschenden und der Pharma-Riesen, der da unter dem Deckmantel „Kampf gegen die Epidemie“ umgesetzt würde – so eine zentrale Behauptung auf der Demo gestern in Berlin. Ach ja? Dabei waren es doch „unsere“ Regierenden und die hierzulande und in der EU Herrschenden, die von Anfang Januar 2020, als es die erste konkrete Epidemie-Meldung von China an WHO gab, bis Mitte März geschlagene acht bis zehn Wochen diese Epidemie GELEUGNET oder VERHARMLOST haben – genau so, wie es die Corona-Leugner heute noch oder wieder tun. Ja, Merkel, Söder, Spahn und das RKI usw. sind zu kritisieren – dafür, dass sie mehr als zwei Monate gepennt, nichts unternommen, dass sie u.a. Flugverkehr aus China trotz Wuhan-Epidemie gestattet haben (woraus dann Ende Januar in Bayern beim Autozulieferer Webasto die ersten Corona-Infizierten in Deutschland „produziert“ wurde), dass sie Großveranstaltungen wie den rheinischen Karneval zugelassen haben (woraus dann Ende Februar der Corona-Cluster Heinsberg wurde), dass sie die Fleisch- und Schlachter-Branche als „systemrelevant“ erklärt haben (woraus dann das im Juni gewaltige Cluster Schlachthöfe, vor allem im Fall Tönnies in Rheda-Wiedenbrück wurde). Und warum bloß sind die großen Pharmakonzerne in jüngerer Zeit aus der Impfstoff-Branche ausgestiegen oder haben hier ihre Engagements massiv heruntergefahren? Von wegen „großer Plan“ oder „Impf-Zwang-Pläne“! sie stiegen dort aus, weil die Gewinne auf diesem Gebiet nicht groß genug sind, weil man in anderen Gesundheitsbereichen in dieser Kaputtmacher-Produktionsgesellschaft mehr verdienen kann.

Und es sind doch ausgerechnet die Regierenden und Herrschenden in Washington, also die Entscheider im Zentrum des Böse-Bösen, die Donald Trump, Bill Gates und Elon Musk, die sich an dem verschwörerischen Plan zur Weltherrschaft via Anti-Epidemie-Maßnahmen NICHT beteiligen, die die Corona-Epidemie lange leugneten und die diese Gefahr bis heute verharmlosen und wirksame Maßnahmen gegen die Epidemie hintertreiben. Der Multimilliardär Elon Musk, Tesla, brüllte, diese Maßnahmen seien „Faschismus“.

Es sind doch die Regierenden und die Herrschenden in Dutzenden Top-Positionen – Leute wie Laschet in NRW oder Bolsonaro in Brasilien oder die Unternehmerverbände BDA und BDI – die ähnliche Exit- und Lockerungs-Positionen vertreten wie die Demonstrierenden am vergangenen Samstag in Berlin.

All diese harten Corona-Relativierer – Trump, Bolsonaro, Musk oder unsere Wirtschaftsbosse von BDI-BDA – sind NICHT durchgeknallt. Das sind KEINE Ignoranten. Das sind KÜHLE KÖPFE und KLUGE RECHNER. Sie sind knallharte Interessensvertreter. Sie setzen die kapitalistische Wirtschaft und den satten Profit vor die zivile Gesellschaft und vor die menschliche Gesundheit. Corona-bedingte Einschränkungen behindern Handel und Gewinnmaximierung – also wird bei Tönnies weiter unter brutalen Bedingungen geschlachtet und zerlegt, also werden im bayerischen Mamming unter vergleichbaren Arbeitsverhältnissen Gurken geerntet, also müssen in Bangladesch mehr als 700.000 Frauen Schulter an Schulter für die Fast Fashion der europäischen Textilkonzerne weiter nähen – was die Zahl der Corona-Toten auch in diesem Land hochschnellen ließ.

In Berlin wurde erneut auf „das Beispiel Schweden“ verwiesen; es gehe doch „anders“: ohne staatlichen Zwang usw. Ich bin immer wieder entsetzt, wie blind und tumb dieses Argument auch jetzt noch vorgetragen wird. Und wie hartnäckig dabei darauf abgezielt wird, dass man sich nicht kundig macht – oder auch: dass man sich gar nicht kundig machen WILL. Anfang Juli lehnten es die NachDenkSeiten ab, über die Nr. 2 unserer Zeitung „FaktenCheck:CORONA“ zu berichten – mit der Begründung, dort werde doch ein „Schweden-Bashing“ betrieben. Dabei geht es nicht um ein undifferenziertes Drauflosschlagen auf die Regierung in Stockholm. Es geht um harte Fakten, die GERADE das „Schweden-Argument“ der Corona-Relativierer zum Bumerang machen.

Am Beginn des Hochfahrens der Corona-Epidemie konnte man mit dem Verweis auf Schweden noch einen gewissen Eindruck schinden. So gab es am 30. März in Schweden erst 146 Corona-Tote; in unserem Land waren es damals bereits 583. Ok, wer rechnen konnte und die 10,3 Millionen Einwohner Schwedens mit den 83,3 Millionen Menschen in Deutschland verglich und entsprechend die Schweden-Corona-Toten-Zahl mit 8,09 multiplizierte, der kam damals bereits auf 1299 Tote, die es unter „schwedischen Verhältnissen“ dann in Deutschland gegeben hätte (anstelle der genannten 583). Es waren damals – bezogen auf 100.000 Einwohner – also gut 2,2 mal mehr Corona-Tote in Schweden als in Deutschland. Aber nochmals: Das sah damals noch eher harmlos aus; die absoluten Zahlen schienen marginal.

Seitdem haben sich die absoluten Zahlen massiv erhöht – und vor allem hat sich diese Schere Schweden-Deutschland weiter extrem auseinander bewegt. Am 31. Juli 2020 waren es in Schweden offiziell 5743 Corona-Tote. In Deutschland 9147. Umgerechnet auf die BRD (mit 8,09 multipliziert) hätten wir – unter „schwedischen Verhältnissen“ – heute 46.461 Corona-Tote. Und jetzt sind es – bezogen auf die gleiche Einheit der Einwohnerzahl, z.B. auf 100.000 Menschen, nicht mehr gut zwei Mal mehr, sondern bereits fünf Mal mehr. Was wäre bloß in unserem Land los, wenn es mehr als 45.000 Corona-Tote geben würde! Wie massiv würden dann Merkel-Spahn-Söder-Laschet und das Robert-Koch-Institut kritisiert, eine solche menschliche Tragödie zugelassen zu haben. Und wie klein wären diejenigen, die jetzt am vergangenen Wochenende durch Berlin marschierten – ohne Masken, ohne Mindestabstand, mit dem verantwortungslosen, absurden Slogan „Wir sind die zweite Welle“ und unter dem offiziellen Losung „Das Ende der Pandemie – Tag der Freiheit“. Natürlich ist es der pure Zufall, dass der NSDAP-Propaganda-Film von Leni Riefenstahl zum Nürnberger Parteitag den Titel „Tag der Freiheit“ hatte.

Ich habe die entsprechenden Zahlen zum Thema Schweden in der folgenden Tabelle mal zusammengefasst – Schweden im Vergleich zu den anderen skandinavischen Ländern und zu Deutschland und Österreich (in der aktuellen Lunapark21, Heft 50, war das bereits bis Datum 6.6. ausgeführt; hier also nochmals um sieben Wochen mehr aktualisiert, was alles noch krasser macht im Sinne von: noch mehr gegen „das schwedische Beispiel“ sprechend):

Danach hätte Norwegen heute, hätten sie in Sachen Epidemie wie in Schweden gehandelt, fast zwölf Mal mehr Corona-Tote, in Finnland wären es neun Mal mehr. In Österreich sechs Mal mehr. Und in Deutschland 5 Mal mehr. Wichtig dabei: Von Monat zu Monat wurden die Spannen zwischen Schweden und allen anderen hier aufgeführten Ländern GRÖSSER, wurde es also absurder, das Beispiel Schweden als „Vorbild“ für andere Länder hinzustellen. Beziehungsweise die in Schweden praktizierte Politik erwies sich als immer tödlicher – übrigens vor allem für die Schwachen in der Gesellschaft: für Seniorinnen, Senioren, Prekäre und die migrantische Bevölkerung.

Kein Wunder, dass alle skandinavischen Nachbarn Schwedens – Dänemark, Norwegen und Finnland – die Grenzen zum Nachbarland Schweden abdichteten. Dabei stehen diese anderen skandinavischen Länder deshalb relativ gut da, weil sie all die „klassischen“ Maßnahmen gegen die Epidemie ergriffen haben, wie sie in Deutschland zur Anwendung kamen.

Und nochmals: Die Forderungen auf der Berlin-Demo lauteten in der Substanz: Stoppt diese Anti-Epidemie-Maßnahmen! Macht es wie in Schweden! Auf Deutsch: Nehmt in Kauf, dass sich die Corona-Opferzahlen verfünffachen!

Gerade lese ich die Endkorrektur des Buchs „Corona. Kapital. Krise“. Dieses geht am kommenden Mittwoch in den Druck und erscheint im Verlag PapyRossa. Die Autorin Verena Kreilinger (eine Medienwissenschaftlerin in Salzburg) und die Autoren Christian Zeller (ein Freund und Prof in Salzburg) und ich haben das Buch geschrieben. WEIL diese Epidemie eine echte und riesige Herausforderung für unsere Zivilgesellschaft und nicht zuletzt für linke, fortschrittliche und demokratische Menschen ist und WEIL man einer solchen Herausforderung nur gerecht werden kann durch Einsatz von Köpfchen, durch hartes Studium, durch intensive Recherche, habe ich mich in dieses Thema seit März eingearbeitet und mir Wissen, das ich vorher nicht in Ansätzen hatte, erarbeitet.

Und ich muss sagen: Das (End-Korrektur-) lesen dieser knapp 300 Buchseiten en bloc  – mit all den Fakten zur Epidemie weltweit, zur Eskalation der Pandemie dort, wo man keine oder zu spät die richtigen Maßnahmen ergriff (in Norditalien oder in New York, oder in Manaus, Brasilien), mit all den aufgezeigten Zusammenhängen dieser Epidemie mit der kapitalistischen Art des Wirtschaftens, mit der Massentierhaltung, mit der Einengung des Raums für Wildtiere, mit dem Überspringen von Viren in der Wildtierwelt auf Haustiere und Menschen (Zoonose) – all das hat mir nochmals die Dramatik dieser Pandemie vor Augen geführt. Und zugleich verdeutlicht, wie gnadenlos dumm, wie ignorant und vor allem: wie VERANTWORTUNGSLOS Leute sind, die diese Epidemie relativieren – und sich faktisch als nützliche Idioten vor den Karren derer spannen lassen, die für den Profit und ihre Herrschaft im Wortsinn über Corona-Leichen gehen.

Wenn man dann noch en passant unseren wunderbaren, kreativen und weiter wichtigen Widerstand gegen Stuttgart 21 mit in den Dreck ziehen und diesen als unerst und als ebenso ignorant wie das Leugnen der Epidemie hinstellen kann, dann ist das echt ideal – auf gut Schwäbisch: ein „gmähts Wiesle“ – für diese HERRschaften.

Michelle Obama hat im Rahmen der „Black Lives Matter“-Bewegung die pfiffige Devise ausgegeben: „When they go low – we go high“. Etwa: Wenn die anderen mit Argumenten unter der Gürtellinie daherkommen, werden wir das hohe Niveau der Diskussion beibehalten, wenn nicht anheben.

So muss es sein. So wird es bleiben: Wir setzen Kopfarbeit gegen Bauchgefühl.

Und: Wir werden oben bleiben.