„Die Corona-Epidemie kam von außen. Wir müssen damit leben“

quartalslüge IV/MMXX

Seit fast einem Jahr wird das Corona-Virus als von außen kommend, als bestenfalls eindämmbar und als letztlich nur mit einem Impfstoff bekämpfbar dargestellt. In den Worten von Bundeskanzlerin Angela Merkel, geäußert in der ARD-Tagesschau am 2. November 2020: „Das Corona-Virus ist so etwas wie eine Naturkatastrophe,“ wie es eine solche „wohl nur einmal pro Jahrhundert“ geben würde. Und: „Wir müssen mit dem Virus leben. Es ist da.“

Das ist eine Quartalslüge. Tatsächlich war die Pandemie angekündigt und vom Robert-Koch-Institut 2013 in einer umfassenden, dem Bundestag vorgelegten Analyse als reale Gefahr dargestellt worden.1 Tatsächlich hat COVID-19 viel zu tun mit Zoonose und Massentierhaltung, ist also vielmehr Folge gesellschaftlichen Verhaltens als Naturgeschehen.2 Tatsächlich gab es seit dem ersten COVID-19-Bericht der chinesischen Regierung an die WHO Ende Dezember 2019 in Westeuropa mehr als zehn Wochen Zeit für eine Vorbereitung auf die Epidemie. Vor allem aber forderte das Virus im Verlauf des Jahres 2020 weltweit 1,5 Millionen Tote, davon allein in Europa mehr als 275.000, weil in den meisten Ländern auf eine effiziente Politik zu dessen Eindämmung mit Rücksicht auf die Kapitalinteressen verzichtet wurde.

Wir stellen in der nebenstehenden Tabelle die offiziellen Zahlen der Corona-Toten für 35 Länder im Zeitraum März bis November 2020 zusammen – jeweils mit den Zahlen vom Monatsende.3

Wir bilden dabei sechs Ländergruppen, um tiefere Einsichten und Vergleiche zu ermöglichen. Sechs Aspekte seien hervorgehoben.

1. Der Unterschied bei den Folgen von COVID-19 könnte zwischen den beiden größten Industrienationen der Welt kaum größer sein. Pro 100.000 Einwohner gibt es (Stand 30.11.2020) in den USA 278mal mehr Corona-Tote als in der VR China.

2. Es gibt unter den hier aufgeführten 35 Staaten neun Staaten, in denen es maximal zwei Corona-Tote je 100.000 Einwohner gibt (das entspricht einem Zehntel der Corona-Toten in Deutschland oder einem Achtzehntel der Corona-Toten in Österreich). Dies sind die folgenden, höchst unterschiedlichen Länder (aufgeführt entsprechend der Performance): Taiwan, Vietnam, China, Ruanda, Neuseeland, Südkorea, Kuba, Japan und Uruguay.

3. Selbstverständlich gibt es spezifische Faktoren (wie Insellage, Einbindung in die Globalisierung, Durchschnittsalter der Bevölkerung), die die entsprechende Performance positiv oder negativ beeinflussen. Doch diese Faktoren erklären die Unterschiede nur zum Teil. Südkorea und Italien oder Uruguay und Chile oder Neuseeland und Irland sind jeweils in mancher Hinsicht vergleichbare Länder. Die Betroffenheit durch COVID-19 ist jedoch, wie in der Tabelle ersichtlich, extrem unterschiedlich: 1,0 zu 85,8 bei Südkorea/Italien, 2,2 zu 80,0 im Fall Uruguay/Chile und 0,6 zu 39 im Fall Neuseeland zu Irland.

4. Deutschland steht bislang im europäischen Vergleich gut da. Warum es im Industriestaat Japan jedoch nur 1,7 Corona-Tote je 100.000 Menschen gibt, es in Deutschland jedoch (mit 19,9) zwölf Mal mehr sind, bedarf der Erklärung. Es gab in Japan keineswegs härtere Lockdown-Maßnahmen als in Deutschland.

5. Sehr deutlich sind die Unterschiede bei den aufgeführten skandinavischen Ländern. Alle vier sind ähnlich in die globalisierte kapitalistische Wirtschaft integriert. Alle haben lange Küsten. Alle haben ähnliche Sozialstrukturen. Doch in Schweden mit einer bis Oktober 2020 betont liberalen Corona-Politik sind es zehn Mal mehr Corona-Tote als in Norwegen oder neun Mal mehr als in Finnland.

6. Die meisten Länder in Europa hatten es nicht nur im Zeitraum Anfang Januar bis Mitte März versäumt, sich auf die Epidemie vorzubereiten. Die meisten von ihnen hatten nach der ersten Epidemie-Welle in den Monaten, die grün unterlegt sind (meist Mai bis Juni), auch ein Vierteljahr Zeit, sich auf die zweite Welle vorzubereiten. Es gab in diesem Zeitraum eine relative Stagnation bei den Zahlen der Corona-Toten. Diese Chance wurde jedoch fast überall vertan: Das Personal in den Gesundheitsämtern und in den Krankenhäusern wurde nicht oder völlig unzureichend aufgestockt; die Restriktionen wurden zu schnell und zu früh gelockert; die Maßnahmen waren und sind widersprüchlich und nicht primär gesundheitspolitisch begründet. (Siehe Seiten 30ff.)

Gibt es Geheimnisse für den Erfolg? Eher nicht. Beispiel Vietnam. Die Süddeutsche Zeitung (18.11.2020) berichtete: „Was Hanoi gegen den Virus-Feind in Stellung brachte […] war schlicht die Anwendung altmodischer Epidemiologie, klassische Eindämmung, die sich auch ohne Apps […] als wirksam erwies.“ Die Grenzen wurden bereits Anfang Januar 2020 geschlossen; bei den ersten Fällen von Infektionen wurden zeitweilig 200.000 Menschen in Quarantäne gesteckt. Dann wurde so lange getestet, bis man jede einzelne Infektion erkannt, die Menschen isoliert, die Betroffenen sofort behandelt hatte. Eine beeindruckende Erfolgsstory für ein großes Land mit 98 Millionen Einwohnern, mit einem eher unterentwickelten Gesundheitssektor und mit bislang gerade einmal 35 Corona-Toten.

Dieser Beitrag ist zuerst hier in der Zeitschrift lunapark21 erschienen.