Drama in Kabul und wachsende Kriegsgefahr

Reiner Braun · Michael Müller · Winfried Wolf

Der zwanzigjährige Krieg in Afghanistan hat eine ganze Region mit Millionen Menschen ins Unheil gestürzt und weltweit die Militarisierung der Konflikte und die Dynamik der Gewalt beschleunigt. Der Abzug der westlichen Militärs aus dem Land stellt eine schwere Niederlage für die USA, die Nato, die deutsche Regierung und die Bundeswehr dar. Vergleiche mit Vietnam 1975 drängen sich auf. Sie sind teilweise richtig, teilweise falsch. Auch in Vietnam erlitt der Westen eine schwere Niederlage. Es siegten jedoch fortschrittliche Kräfte. Im Fall Afghanistan ist die westliche Niederlage verbunden mit dem Sieg einer extrem frauenfeindlichen, reaktionären, gewalttätigen Gruppe.

Für uns ergeben sich drei Lehren aus dem zwanzigjährigen Afghanistan-Abenteuer.

Lehre 1: Das fatale Modell des Afghanistan-Einsatzes wird es auch in der Zukunft geben. Der westliche Krieg am Hindukusch folgte einem klassischen Muster imperialistischer Politik: Man nimmt einen kriminellen Anlass (9/11), besetzt die identifizierte, geopolitisch wichtige Region militärisch, installiert dort eine korrupte Marionettenregierung (Karzai-Ghani) und verfolgt so seine machtpolitischen und Rohstoff-Interessen. Das war vergleichbar in Vietnam Anfang der 1960er Jahre. Das war so im Irak 1990 und 2002. Bei all dem aktuellen Wehklagen über die „Katastrophe in Afghanistan“ hat der Westen dieser Politik mit keinem Wort abgeschworen. Im Gegenteil. In Mali proben Frankreich und Deutschland ein weiteres Modell imperialistischer Intervention. In Mozambique organisiert und finanziert die EU derzeit nach vergleichbarem Muster eine 1500 Mann starke „Schnelle Eingreiftruppe“.

Lehre 2: Noch im Rückzug aus Kabul orientiert die US-Regierung auf den großen Krieg. US-Präsident Joe Biden begründete den Truppenabzug aus Afghanistan laut Frankfurter Allgemeine Zeitung (18.8.) wie folgt: Die USA müssten sich jetzt auf „die heutigen entscheidenden Bedrohungen konzentrieren“. Die „wahren Rivalen Amerikas“ seien „Russland und China“. Diese sähen es „nur zu gerne“, wenn Washington seine „Wachsamkeit und Mittel“ auf Afghanistan verschwenden würde. Klarer konnte die Orientierung auf einen großen Krieg kaum formuliert werden.

Lehre 3: Der Afghanistan-Krieg war gegen Russland und China gerichtet. Er war Teil einer Einkreisungspolitik. Beides wird nach dem Rückzug aus Kabul verstärkt fortgesetzt. Für die Pentagon-Strategen war der Einmarsch in Afghanistan ein zentraler Baustein ihrer Konfrontationspolitik gegen Russland und China. So wie sie bereits in den 1980er Jahren Saudi Arabien – die Ausgangsbasis von Osama bin Laden – und weitere reaktionäre Golfstaaten finanziert und die Vorläufer der Taliban mit modernen Waffen ausgerüstet hatten, damit diese die damalige sowjetische Armee aus Afghanistan vertreiben konnten. Der aktuelle Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan entspricht damit einer Frontbegradigung. Dabei ist nicht einmal ausgemacht, ob aus den Taliban-Kämpfern in Kabul nicht am Ende ein westlich orientiertes Regime wird. Schließlich hatte die US-Regierung vor 9/11 mit den Taliban über den Bau einer Erdgaspipeline durch das Land verhandelt.

Die Orientierung auf einen großen Krieg läuft auf hohen Touren. Die Politik der Einkreisung Russlands und Chinas wurde in den letzten Jahren beschleunigt. Siehe die Manöver Defender 2021 und die Stationierung von rotierenden Nato-Verbänden in Osteuropa. Diese Politik findet seit einiger Zeit auf hoher See ihre Ergänzung: siehe die gesteigerte Präsenz westlicher Kriegsschiffe vor der chinesischen Küste. Der ehemalige US-Admiral James G. Stavridis schreibt offen und ohne Widerspruch aus Washington, dass ein Krieg gegen China vorbereitet wird und dass dabei der Auslöser „Auseinandersetzungen um Taiwan und um verschiedene Inseln im Süd- und Ostchinesischen Meer“ sein könnten (siehe Artikel S. 4).

So wie der Afghanistan-Krieg ein Krieg des Westens und nicht allein ein US-Krieg war, so ist heute die Militarisierung der Welt gemeinsame westliche Politik. Das allgemeine Ziel, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung auszugeben, ist der gemeinsame Nenner dieser Kriegsvorbereitungen. CDU/CSU, SPD, FDP und AfD unterstützen dieses Ziel. Die Grünen äußern formal Bedenken. Gleichzeitig treten sie für eine aggressive Politik gegenüber Russland und China ein.

In diesen Wochen wird mit Recht der zynische Umgang der deutschen Regierung mit den afghanischen Hilfskräften kritisiert. Gleichzeitig gibt es bei den politisch Verantwortlichen eine große Angst vor einer neuen Welle mit hunderttausenden afghanischen Flüchtlingen. Es entstehen neue Grenzzäune und neue Mauern, so in der Türkei, um Flüchtlinge abzuwehren. In Wirklichkeit gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Waffenexporten und militärischen Interventionen einerseits und dem wachsenden Heer von Flüchtlingen andererseits. Wer Kriege sät, wird Flüchtlinge ernten.

Vor diesem Hintergrund ist eine Friedenpolitik vor allem von zwei Elementen bestimmt:

Notwendig sind erstens ein menschenwürdiger Umgang mit den Geflüchteten, ein Ende der Politik „Festung Europa“ mit Tausenden Ertrunkenen im Mittelmehr und die vollständige Integration der Geflüchteten in die Gesellschaft. Zweitens benötigen wir eine Politik der Abrüstung und Entspannung, des Abzugs der US-Atombomben von deutschem Boden und ein Ende von Rüstungsexporten und Rüstungsproduktion.

Das zwanzigjährige Desaster in Afghanistan zeigt deutlich: Es ist Zeit für ein neues Friedensprojekt Europa. Grundlage für eine überzeugende Friedenspolitik ist eine sozial-ökologische Weltinnenpolitik.

Am 25.8.21 erschienen in der Printausgabe der „Zeitung gegen den Krieg“ Nr. 49