Muhammad Ali: Verdienste und Tragödien

Teile 1 und 2

Mit seiner Kriegsdienstverweigerung schrieb er Geschichte. Aber kämpfte der Boxchampion, der heute 80 Jahre alt geworden wäre, für die Emanzipation aller Schwarzen? (Teil 1)

Zum 80. Geburtstag von Muhammad Ali an diesem 17. Januar 2022 erschien bereits eine Vielzahl von Publikationen, Artikeln und Dokus – oft Wiederholungen – über das Leben dieses Berufsboxers. Meist wird dabei Ali weiterhin als „der Größte“ präsentiert, mitunter garniert mit ein paar kritischen Seitenhieben auf seine Prahlerei, auf seine Zugehörigkeit zu einer Islam-Sekte und auf Widersprüche bei seinen politischen Auftritten.

Bei all diesen kritischen Zwischentönen überwiegt das Positive. Mehr noch: Muhammad Ali wird zur Ikone stilisiert. In der deutschen Ausgabe von Wikipedia wird er als „herausragender Sportathlet des 20. Jahrhunderts“ präsentiert. Das Internationale Olympische Komitee ernannte ihn 1999 zum „Sportler des Jahrhunderts“.

Der Schriftsteller Wolf Wondratschek hob Mohammad Ali bereits anlässlich seines Todes im Juni 2016 in einen Heroen-Himmel und bezeichnete ihn – interessanterweise in der Bild am Sonntag – als „klugen Alleskönner“, als „Boxer, der tanzte“, als „Fausttänzer“ und „Mann, der ein Poet war“. Das 20. Jahrhundert habe „vier Genies hervorgebracht“, Igor Strawinski, Vladimir Nabokov, George Balanchine und Muhammad Ali. Ein Komponist, ein Schriftsteller, ein Choreograph und – ein Schwergewichtsboxer, eben vier Männer und diese sind dann, klar doch, „die Genies des 20. Jahrhunderts“.

Wer sich die Mühe machte, die neue, wahrhaft epische vierteilige Dokumentation von Ken Burns, Sarah Burns und David McMahon, die Arte am 11. und 12. Januar 2022 ausstrahlte und in der Charly Hübner in der deutschen Fassung die Erzählstimme übernimmt, volle acht Stunden lang anzusehen, konnte Anderes erahnen.

Alle vier Teile sind in der ARD-Mediathek noch bis zum 11. März abrufbar. In Kombination mit der Lektüre einiger früherer Publikationen und ergänzender Recherchen lassen sich dann einige Verdienste, vor allem aber die Tragödien und – aus emanzipatorischer Sicht – die krassen Fehltritte des Cassius Marcellus Clay beziehungsweise Muhammad Ali erkennen.

„I ain’t got no quarrel with them Vietcong“

Was Muhammad Ali zu einer begeisternden politischen Persönlichkeit machte, war eine konkrete Tat: Seine Ablehnung, im Krieg der USA in Vietnam als Soldat zu dienen und die politische Begründung, die er für seine Entscheidung vortrug. Ali Muhammad verkündete seine Kriegsdienstverweigerung am 28. April 1967.

Er berief sich dabei einerseits auf seine Religion und seine Zugehörigkeit zur „Nation of Islam“, deren Oberhaupt Elijah Mohamad bereits den Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg mit Bezug auf seine Religion abgelehnt hatte. Ali fand dafür aber auch offene politische Worte, die die Herrschenden – so die US-Militärs, die Kriegsprofiteure des militärisch-industriellen Komplexes und die damalige Regierung unter US-Präsident Lyndon B. Johnson – zur Weißglut bringen mussten.

Diese Worte saßen: „Warum verlangt man von mir, einem sogenannten Neger, eine Uniform anzuziehen und 10.000 Meilen von der Heimat entfernt mit Bomben und Kugeln auf braune Menschen zu zielen, während andere sogenannte Neger in Louisville wie Hunde behandelt und ihnen die elementarsten Menschenrechte verwehrt werden?“ Und: „Ich habe keinen Streit mit dem Vietcong. Kein Vietcong hat mich jemals Nigger genannt.“

I ain’t got no quarrel with them Vietcong. No Vietcong ever called me a nigger.“ Muhammad Ali

Muhammad Ali hätte bei einem Gang nach Vietnam wenig riskiert. Er wäre kaum an die Front geschickt worden; sein Einsatz wäre als Werbung für das US-Modell von „freedom and democracy“ genutzt worden. Er hätte mit großer Wahrscheinlichkeit Auftritte vor US-Soldaten zu deren Erbauung absolvieren dürfen.

Mit seiner Kriegsdienstverweigerung jedoch riskierte er viel; sie kam ihn teuer zu stehen. Sie führte zur Verurteilung zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe (die er nach Zahlung einer Kaution nicht absitzen musste), zur Aberkennung seines Weltmeistertitels, zum Verlust seiner Boxerlizenz und zu einer dreijährige Sperre. Letzteres bedeutete, dass er – wie zuvor andere Boxer – in eine existenzielle Krise gelangen und in Armut hätte absinken können.

Es war unter anderem der Schwergewichtsweltmeister Joe Frazier, der ihn in dieser Zeit finanziell unterstützte – was Alis spätere hasserfüllte Auftritte gegen Joe Frazier und sein erbarmungsloses Einprügeln auf ihn beim 1975er-Fight in Manila als einigermaßen fragwürdig erscheinen lässt.

Als Mohammad Ali den Kriegsdienst verweigerte, gab es in der US-Bevölkerung noch eine mehrheitliche Unterstützung für den US-Krieg in Vietnam. Allerdings gärte der Protest gegen den Krieg bereits an Universitäten, in liberalen, intellektuellen Kreisen – und in der afroamerikanischen Bevölkerung. In der Doku von Ken Burns, Sarah Burns und David McMahon gibt es mehrere Kurzinterviews mit afroamerikanischen GIs, die in Vietnam im Einsatz waren. Sie äußern sich erstaunlich differenziert und überwiegend positiv zu Alis Entscheidung.

Der afroamerikanische Literaturprofessor Gerald Early erinnerte sich in seinem Essay „Tales of the Wonderboy“ anlässlich Alis öffentlich begründeter Kriegsdienstverweigerung wie folgt:

„Mir war, als sei meine Ehre als schwarzer Junge, meine Ehre als Mensch verteidigt worden. Er war doch der große Ritter, der Drachentöter. An dem Tag, als Ali den Kriegsdienst verweigerte, weinte ich in meinem Zimmer. Ich weinte um ihn und auch um mich, um meine Zukunft und auch seine, um alle unsere schwarzen Möglichkeiten.“ Gerald Early

Zwei Arten von Rassentrennung

Meist wird Muhammad Ali als ein Mensch bezeichnet, der dazu beigetragen habe, das Selbstbewusstsein der schwarzen Bevölkerung in den USA zu stärken. In einer betont allgemeinen Form mag dies der Fall gewesen sein. Eine große Rolle spielten dabei offensichtlich die Erfahrungen des jungen Cassius Clay, der in der Südstaaten-Stadt Louisville in einer Zeit aufgewachsen war, in der das öffentliche Leben von Rassentrennung geprägt war.

Doch auch hier sind Differenzierungen angebracht. Die Eltern von Clay zählten zur schwarzen Mittelschicht. Und die vielfach kolportierte Standardgeschichte, wonach Clay zu boxen begann, weil ihm als Junge sein „neues Fahrrad geklaut“ wurde, konterte Joe Frazier mit dem Hinweis, er habe in seiner Jugend nie ein Fahrrad besessen.

In den Jahren 1961 bis 1966 war es eine Gruppe weißer, christlicher Geschäftsleute aus Louisville, die Clays Boxkämpfe organisierten, die damit gut verdienten und mit denen Clay beziehungsweise Ali durchaus freundschaftlich zusammenarbeitete.

Die pauschale Behauptung, Ali sei „ein Kämpfer gegen Fremdbestimmung und Rassismus“ gewesen, die vor wenigen Tagen wieder in der FAZ zu lesen war, ist verkürzt.

Es gab in den USA in den 1960er-Jahren drei Formen afroamerikanischer Bewegungen: eine pazifistische Bürgerrechtsbewegung, wie sie von Martin Luther King prominent vertreten wurde, eine militante antirassistische Bewegung, wie sie von Malcolm X und später von den Black Panthers repräsentiert wurde und eine separatistische, auf schwarze Rassentrennung orientierende Bewegung wie von Elijah Mohammad, dem Führer der Sekte „Nation of Islam“ gepredigt.

Die ersten beiden Formen müssen als fortschrittlich, die letztgenannte kann als reaktionär und frauenverachtend bezeichnet werden. Muhammad Ali fühlte sich eine kurze Zeit zu Malcolm X hingezogen – allerdings nur in der Zeit, als Malcolm X noch Teil des „Nation of Islam“ war. Als Elijah Mohammad im März 1964 Malcolm X verstieß und dieser sich einerseits radikalisierte und andererseits der Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King näherte, entschied sich Ali für die „Nation of Islam“.

Es war Elijah Mohammad, der Cassius Clay auf den Namen „Mohammad Ali“ taufte. Es ist erschütternd, in der Burns-McMahon-Doku im O-Ton festgehalten zu sehen und zu hören, wie Muhammad Ali die Ermordung von Malcolm X am 21. Februar 1965 mit den Worten begrüßt: „Jeder, der Elijah angreift, wird sterben“.

Die langjährige Mitgliedschaft Alis in der Nation of Islam wird gemeinhin als Ausdruck seines Kampfs gegen Rassismus gewertet. Das ist definitiv falsch. Diese Organisation mag als Kind ihrer Zeit gesehen werden – doch sie blieb weit hinter den Aufgaben dieser Zeit zurück. Sie war vor allem spalterisch und rückschrittlich. Sie propagierte einen schwarzen Rassismus und die Lehre von einer „Überlegenheit der schwarzen Rasse“.

Ali war nicht nur Mitläufer, er argumentierte auf derselben Linie: „Kein intelligenter schwarzer Mensch mit rechtschaffener schwarzer Gesinnung wünscht sich weiße Jungs oder weiße Mädchen zu sich nach Hause, die dann ihre schwarzen Söhne und Töchter ehelichen“, zitierte ihn der Observer am 13. Mai 2008.

Folgerichtig bezeichnete Martin Luther King den Berufsboxer Muhammad Ali als „Champion der Rassentrennung“. Erst kurz vor dem Tod von King kam es zu einer Annäherung der beiden. Als er 1968 ermordet wurde, sagte Ali: „Ich trauere um meinen schwarzen Bruder.“

Die „Nation of Islam“ kontrollierte im Zeitraum 1964 bis in die 1990er-Jahre hinein einen großen Teil des privaten Lebens von Ali, ab 1966 auch sein Box-Business. Die Sekte finanzierte sich auf diese Weise. Das hatte erhebliche negative Auswirkungen auf das, was Muhammad Ali dachte und vor allem auf das, was er sagte. In der Burns-McMahon-Doku ist ein Interview aus dem Jahr 1969 wiedergegeben, in dem Ali den rechtsextremen US-Gouverneur George Corley Wallace lobt – weil dieser seinerseits für Rassentrennung in den Südstaaten – und dabei natürlich für die weiße „Rasse“ – eintrat. Diese Haltung von Ali führte zu massiven Protesten; doch Ali verteidigte seine Position.

Friede mit den Herrschenden

Der bereits zitierte Wondratschek sieht in Muhammad Ali einen, der „nicht nur die Politiker ärgerte, sondern auch die Drahtzieher hinter den Kulissen, die Geschäftemacher, die Männer mit den dicken Zigarren, den Blondinen und den goldenen Scheckbüchern, die ganze korrupte Bande, die Boxer verschacherten wie Vieh.“

Das traf für ein gutes Jahrzehnt zu. Doch bereits in den 1970er-Jahren hatte Ali seinen Frieden mit dem vielfach reaktionären politischen Establishment und mit dem korrupten Establishment des Weltsports geschlossen. Der Promoter der beiden größten Boxkämpfe Alis, dem in Kinshasa 1974 und dem in Manila 1975, war Donald „Don“ King. Er verkörperte genau den Typ von Box-Business-Manager, den Wondraschek als „Drahtzieher hinter den Kulissen“ und als „Mann mit dicker Zigarre“ beschrieben hat.

Don King ermordete 1967 aus niedrigen Beweggründen einen Mann; er wurde wegen dieser Tat zu 15 Jahren Haft verurteilt, kam jedoch nach drei Jahren Haft auf Basis eines Deals frei. Die einzige Basis für das zeitweilige Bündnis zwischen Ali und Don war Geld – die riesigen Dollar-Summen, die Don vor allem für die zwei Kämpfe in Kinshasa und Manila ausloben konnte.

Ali hat sich gegen die Umarmungen derer, die er in den 1960er-Jahren und Anfang der 1970er-Jahre bekämpft hatte, nicht gewehrt. Dies erklärt, warum 2016 am Grab des Champions der frühere US-Präsident Bill Clinton sprach. Warum der ehemalige britische Premier David Cameron, eine Personifizierung von Neoliberalismus und sozialer Ausgrenzung, äußern konnte: „Muhammad Ali war ein Meister im Kampf für Menschenrechte.“ Warum ihn Thomas Bach, der Präsident des Olympischen Komitees, als einen „echten Olympioniken“ bezeichnen konnte.

Mohammad Ali hatte 1996 bei der Sommerolympiade in Atlanta die Olympische Flamme entzündet. Der damalige IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch hängte ihm eine eigens für ihn angefertigte Goldmedaille um den Hals – als Ersatz für das Gold des Jahres 1960 des Olympia-Siegers im Halbschwergewicht Cassius Clay, von dem es nun hieß, er habe diese Medaille „verloren“.

Tatsächlich hatte Ali in seiner „guten politischen Zeit“ diese Gold-Medaille in den Ohio-River geworfen – aus Protest gegen Rassismus, nachdem er in der US-amerikanischen Heimat in „Nur-für-Weiße“-Restaurants nicht bedient worden war.

Damit nicht genug. 2005 verlieh ihm der damalige US-Präsident George W. Bush die Freiheitsmedaille, die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten. Dieser politisch weit rechts stehende US-Präsident, verantwortlich für die US-Kriege in Afghanistan und im Irak, bezeichnete Ali anlässlich dieser Zeremonie als „Mann des Friedens“. Der Promoter der genannten Ali-Boxkämpfe Don King wiederum hatte für den Kriegspräsidenten George W. Bush ebenso geworben, wie er nach Alis Tod für Donald Trump warb. (Winfried Wolf)

„Rumble in the Jungle“ und „Thrilla in Manila“:
Gewaltorgien vor dem Hintergrund politischer Diktaturen – und was den Boxsport vom Kapitalismus unterscheidet. (Teil 2 und Schluss)

Die Begleitumstände der zwei größten Kämpfe, die Muhammad Ali ausfocht, am 30. Oktober 1974 in der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa und am 1. Oktober 1975 in Manila auf den Philippinen, sind in vielerlei Hinsicht bizarr. Aus politisch-emanzipatorischer Sicht waren Alis Auftritte in diesen Ländern mehr als das – sie waren katastrophal.

Für Ali und seine Entourage ging es bei den beiden Fights fernab von den USA darum, US-Steuern zu vermeiden und den eigenen Gewinn zu mehren. Das ist legitim. Doch aus politischer Sicht standen beim „Rumble in the Jungle“ im Kongo und beim „Thrilla in Manila“ auf den Philippinen die Sicherung der Langzeit-Diktatur von Mobutu beziehungsweise die Stabilisierung der damals noch jungen Diktatur von Ferdinand Marcos im Zentrum.

Das Regime von Mobuto Sese Seko ist hinsichtlich des Themas Emanzipation der schwarzen Bevölkerung besonders abstoßend. Mobutu war 1960 als Oberst an der Ermordung von Patrice Lumumba beteiligt; Lumumba wiederum steht in Afrika wie kaum ein zweiter für den antikolonialen Kampf – für die Selbstermächtigung der afrikanischen Bevölkerung und für deren Befreiung von den belgischen weißen Ausbeutern.

Es war der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower, der 1960 den Befehl zur Liquidierung Lumumbas gegeben hatte. Dieser wichtige Hintergrund des Mobuto-Regimes wird in der ansonsten hervorragenden Burns-McMahon-Doku ausgelassen. (Eine umfassende Darstellung der Zusammenhänge ist in David Van Reybrouck Werk „Kongo – Eine Geschichte“ nachzulesen – auf Deutsch erschienen im Suhrkamp-Verlag 2013.)

Ausführlich wird dagegen in der Doku dagestellt, wie Ali im Privatjet Mobutus nach Kinshasa eingeflogen wurde, wie er dort in einer Luxusvilla des Diktators lebte und wie die ehemalige Kolonialmacht Belgien die Ausrüstung für den Kampf und die Luxusgüter für das Weltspektakel bereitstellte.

Gegner zu Monstern gemacht

Dass Ali seinen Gegner George Foreman als Mann der Weißen hinstellte, dass er ihn als jemanden denunzierte, der – so wegen eines mitgebrachten „deutschen“ Schäferhunds – der alten belgischen Kolonialmacht nahe stehen würde, war fragwürdig. Foreman war wie Ali schwarz. Er stammte aus einem Schwarzen-Ghetto. Dass Ali dann dutzendfach, auch im Stadion, den Schlachtruf „Ali, Bomaye – Ali, töte ihn!“ unterstützte und dabei die Massen dirigierte, war schlicht abstoßend.

Das gilt auch für das Ende dieses Kampfs. Wenn der Kommentator der Süddeutschen Zeitung schreibt, dieses Niederprügeln habe „Wärme und Würde“ ausgestrahlt, so ist das eine irritierende Feststellung. Nach dem Reglement hätte Ali auf den niedergehenden Gegner gar nicht weiter eindreschen dürfen.

Ein Jahr später gab es in Manila ein Setting mit vielen Parallelen. Drei Jahre zuvor, am 21. September 1972, hatte Ferdinand Marcos das Kriegsrecht verhängen, 30.000 Oppositionelle – Studierende, Journalisten, Gewerkschaftsmitglieder – in Militärlager inhaftieren lassen und sich als Alleinherrscher, der mit Präsidialdekreten regierte, etabliert.

Er war dabei eng mit der US-Regierung verbunden. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre, als er noch gewählter Präsident war, hatte er 2000 philippinische Soldaten zur US-Unterstützung in den Vietnamkrieg entsandt. In den 1970er-Jahren wiederum gab es auf den Philippinen die Nationale Befreiungsfront der Moros (Moro National Liberation Front, MNLF), deren rund 30.000 Mitglieder sich – wie Ali – zum Islam bekannten und die gegen das korrupte Regime der Familie Marcos kämpften.

Beim eigentlichen „Thrilla in Manila“ 1975 dann erneut das verstörende Bild: Ali trat zusammen mit Marcos auf Pressekonferenzen auf. Er wohnte in der Zeit seines Aufenthalts in Manila in einer Luxusvilla der Familie Marcos. Er beleidigte seinen Herausforderer Joe Frazier aufs Übelste, ja rassistisch – indem er ihn als „Gorilla, hässlich und dumm“ bezeichnet und eine Lyrik von sich gab, die einerseits gute PR und andererseits pervers war:

„It’s gonna be a thrilla / and a chilla / and a killa / when I got the gorilla / in Manila““

Er erklärte öffentlich, dass er „dieses Tier“ – seinen schwarzen Bruder Joe Frazier, der ihm in Notzeiten viel Geld geliehen hatte – töten werde. Und er konstatierte, die Leute in Manila seien „wild nach Blut, wie ich es in keinem Stadion der Welt je erlebt habe“. Der Kommentar in der Burn-McMahon-Doku über Ali und Frazier ist zutreffend: „Sie haben sich gegenseitig zu Monstern gemacht“.

Lob des Boxens

Der Boxsport hat zweifellos auch eine emanzipatorische Tradition. Boxen war – insbesondere in den USA – eine Sportart zur Selbstverteidigung. Sie bot auch Schwarzen lange Zeit die Möglichkeit, zu Ruhm und Reichtum zu kommen. Während im Alltag Rassentrennung herrschte, verschaffte sich der junge Amateurboxer Cassius Clay seinen Eintritt in die Boxwelt. Mit 18 Jahren war er Olympiasieger in Rom. Danach startete er seine Karriere als Berufsboxer. Mit 22 war er erstmals Profi-Weltmeister.

In den aktuellen Berichten über Ali gibt es kaum Unterschiede zwischen der Sportwelt der Amateure und der Welt der Berufsboxer. Die wesentlich härtere Gangart der Berufsboxer ahnt man zwar, doch dies ist nirgendwo ein Thema. Dabei sind die Unterschiede weitreichend; beim Amateurboxen sind alle Regeln darauf ausgelegt, dass sich die Sportler so wenig wie möglich verletzen; das Tragen eines Kopfschutzes sowie eines Oberteils ist Pflicht. Die Krankheit Parkinson als Folge von Schlägen gegen den Kopf, die Alis Leben in den letzten drei Jahrzehnten bestimmt hat, tritt bei Amateurboxern eher selten auf. Bei Berufsboxer muss sie wohl als Berufskrankheit bezeichnet werden.

Alle Lobpreisungen von Alis Boxkunst betreffen Profi-Boxkämpfe, also solche, bei denen gesundheits- und oft auch lebensbedrohend aufeinander eingedroschen wird. Warum gibt es keine Artikel mit hohen Einschaltquoten beim Amateur-Boxsport? Weil Geld die Sportwelt regiert? Weil offene Brutalität als sexy gilt? Weil 99,9 Prozent aller Artikel über Muhammad Ali von Männern verfasst wurden?

Thomas Hüetlin schrieb 2016 im Spiegel: „Ali ging es immer um mehr. Ausgerechnet Boxen, die brutalste Sportart, verwandelte er in ein Schauspiel von Schönheit und Hoffnung. In Kunst.“ Jan Philipp Reemtsma, der 2013 ein Buch über Muhammad Ali schrieb, erkennt dabei durchaus eine Widersprüchlichkeit, so wenn er anlässlich des Todes von Mohammad Ali äußerte:

„Mein Herz schlägt, wenn ich das so sagen darf, für den Virtuosen im Boxring, dem es gelungen ist, einem an sich nicht sehr diffizilen Sport eine so eigene Note zu geben, dass auch so gewalttätige Auseinandersetzungen auf einmal Schönheit gewinnen. Alis Kämpfe haben eine eigene Choreographie, und das habe ich immer mit großem Genuss gesehen.“Anzeige

Raphael Hillebrand, Tänzer und Choreograph, schrieb in einem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Juni 2016: „Ali besaß absolute Körperkontrolle und einen hocheffizienten Umgang mit Energie.“ Wie ein Tänzer habe er Begeisterung für seinen Körper ausgestrahlt. „Bewundernswert war aber auch die Haltung, mit der Ali seine Krankheit in die Öffentlichkeit trug. Wie dieses einst so irrsinnig eitle, testosterongesteuerte Kraftpaket den Schicksalsschlag akzeptierte, auch das war eine Lebenslektion für mich.“

Wobei man auch über Ali Muhamads letztem großen Auftritt, dem in Atlanta, unterschiedlicher Auffassung sein kann. Bei der in der Burn-McMahon-Doku wiedergegebenen Szene, in der Ali im vollen Scheinwerferlicht da steht und, am ganzen Körper zitternd, die Fackel kaum halten kann – da hatte ich eher den Eindruck, dass die Millionen Zuschauer sich in Voyeure verwandelt sahen.

Doch zurück zum Thema „Schönheit des Berufsboxertums“: In den meisten aktuellen Beiträgen zur Würdigung von Ali Muhammad – ansatzweise auch im Schlussteil der Burns-McMahon-Doku – springt die Verherrlichung des Profi-Boxkampfs ins Auge. Es finden sich so gut wie keine kritischen Worte zu dieser Art „Sport“ als solchem. Und immer wieder wird Ali als Kämpfer gegen Rassismus und überzeugender Vertreter von schwarzer Würde präsentiert.

Ali sei „zur wichtigsten Identifikationsfigur der Schwarzen weltweit“ geworden, heißt es in einem Artikel des öffentlich-rechtlichen Portals „Planet Wissen“. Der Frankfurter Journalist Hartmut Scherzer vergleicht Ali gar mit dem südafrikanischen Freiheitskämpfer Nelson Mandela: „Der eine hat sein Leben und seine Freiheit hingegeben, der andere seine Titel und seine Karriere.“

Wenn Weiße zuschauen, wie Schwarze sich verprügeln

Aber waren nicht insbesondere Alis Boxkämpfe in Kinshasa und Manila nicht just so, wie die Weißen jahrhundertelang die Schwarzen sahen – und wie sie sie auch behandelten? Wiederum: So wie Muhammad Ali seine Kontrahenten vielfach behandelte?

Wer sich die millionenfach angeklickten Youtube-Videos dieser beiden großen Kämpfe – die zum Zeitpunkt ihrer „Uraufführung“ von Dutzenden Millionen Menschen vor den Schwarz-Weiß-Bildschirmen live verfolgt wurden – heute ansieht, der kann darin eigentlich nur eines erkennen: eine pure Gewaltorgie, das Einprügeln auf den Gegner und das Hinnehmen drohender schwerer Verletzungen und heftigster gesundheitlicher Spätfolgen.

Wir leben in einer Zeit, in der Stierkämpfe zu Recht als Tierquälerei gelten und weitgehend verboten werden. Warum sollte der Profi-Boxsport nicht ebenso behandelt, ja verboten werden? Muhammad Ali hatte bei dem Thema durchaus seine hellen Momente – und dann überzeugende Einsichten: „Boxen ist, wenn viele Weiße dabei zuschauen, wie zwei Schwarze sich verprügeln.“

Nach dem „Thrilla in Manila“ äußerte er: „Wir kamen als Champions und wir gingen als alte Männer.“ 1969 sagte er offen, er kämpfe mit dem alleinigen Ziel, um seine Schulden los zu werden. Worauf ihn Elijah Mohamed Ali aus dem „Nation of Islam“ verstieß. Was dann revidiert wurde; die Sekte benötigte schließlich das Geld der Kampfmaschine Ali.

Sieht man einmal von der Formel 1 ab, so gibt es keinen Massensport, der derart direkt die Grundprinzipien des Kapitalismus verkörpert: Das Jeder gegen Jeden, das Faustrecht, das Recht des Stärkeren, die Verherrlichung des männlichen „gesunden“ Körpers, die Weckung primitivster Instinkte bei den Zuschauern, der Einsatz von Dutzenden Millionen US-Dollar, womit elementare menschliche Grundsätze wie Schutz der körperlichen Unversehrtheit, Respektierung der Gesundheit des Mitmenschen im Wortsinn k.o. geschlagen werden.

„K.o.“ meint: Knock-out, meint, den Gegner durch Schläge – bevorzugt gegen den Kopf – zu Boden zu schlagen und auf diese im Reglement bevorzugte Weise einen Boxkampf zu gewinnen. Ali hat 37 seiner 61 Profikämpfe durch K.o. beendet.

Es war Adolf Hitler, der – neben dem Rennsport – Boxen als die angemessenste Sportform des Faschismus bezeichnet hat. In „Mein Kampf“ hob er hervor:

„Es gibt keinen Sport, der wie dieser den Angriffsgeist in gleichem Maß fördert, blitzschnelle Entschlusskraft verlangt, den Körper zur stählernen Geschmeidigkeit erzieht.“ Adolf Hitler Mein Kampf, zwei Bände, Berlin 1933, S. 454f.

In „Erziehungsgrundsätze des völkischen Staates“ argumentierte Hitler auch, dass eine Bourgeoisie, die den Boxsport zu ihrer Tugend gemacht hätte, die Novemberrevolution verhindert und von vornherein die Konterrevolution ermöglicht hätte. Inmitten des Zweiten Weltkriegs benutzte dann Joseph Goebbels Bilder aus dem Boxring, um den Durchhaltewillen der Bevölkerung zu festigen.

Nach dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad formulierte der deutsche Propagandaminister:

„Wir wischen uns das Blut aus den Augen, damit wir klar sehen können, und geht es in die nächste Runde, dann stehen wir wieder auf den Beinen. (…) Ein Volk, das bisher mit der Linken geboxt hat und eben dabei ist, die Rechte zu bandagieren, um sie in der nächsten Runde rücksichtslos in Gebrauch zu nehmen, hat jetzt keine Veranlassung mehr, nachgiebig zu sein.“ Joseph Goebbels, zitiert bei Victor Klemperer / LTI, S. 247

Sagte ich, die Grundprinzipien des Boxsports seien zugleich die Grundlagen des Kapitalismus? Das stimmt. Und es stimmt auch wieder nicht. Selbst beim Profi-Boxsport gibt es eine Reihe Regeln, die gemeinhin eingehalten werden. Es gibt Gewichtsklassen; ein Schwergewicht darf nicht gegen ein Leichtgewicht in den Ring gehen. Es gibt Ringrichter, die zwischen die Kämpfenden gehen und sie trennen können.

Und es gibt auch ein paar feste Regeln – Schläge unter der Gürtellinie sind nicht gestattet. Man kann den Kampf aufgeben und das Handtuch werfen. Und man darf nicht auf einen niedergehenden und am Boden liegenden Kontrahenten einprügeln.

Im entgrenzten, deregulierten Kapitalismus gibt es vergleichbare Einschränkungen nicht oder nicht mehr. Man schickt längst Leichtgewichte in einen Boxring, den Schwergewichte beherrschen. Siehe die Freihandelsabkommen der EU mit afrikanischen Staaten. Schläge unter die Gürtellinie sind erlaubt, ja, sie sind die Regel. Siehe die medialen Kampagnen, wie wir sie in den Jahren 2010 bis 2016 im Fall Griechenland erlebt haben.

Wenn ein Land ausgepowert zu Boden geht, darf man mit Spardiktaten, die lebenswichtige Infrastruktur bedrohen, weiter auf dieses Land eindreschen. Siehe das Vorgehen der EU-Troika in dieser Zeit gegenüber den Eurozonen-Peripheriestaaten.

Und wenn der Weltkapitalismus nach der Corona-Krise 2020/21 für neues Wachstum und für ein „weiter so“ trommelt, dann gehen die Entscheider stillschweigend davon aus, dass die Leichtgewichte im globalen Süden die Folgen des Klimanotstands im Wortsinne ausbaden müssen.

Zuerst am 17.1.21 hier auf telepolis veröffentlicht