Wirklich „Kriegstreiber“ Nato?

Ein „Sonderweg“ ist kein Holzweg und Fracking-Gas ist keine Alternative

Laut westlichen Medien steht die russische Armee kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine. Es ist schwer, angesichts dieser Berichterstattung eine nüchterne Einschätzung der Lage zu erlangen. Die Zeitung GEGEN DEN KRIEG beantwortet im Folgenden fünf wichtige Fragen.

FRAGE 1 Ist der Aufmarsch der russischen Armee an der Grenze zur Ukraine nicht eindeutig belegt?

Antwort Was uns gezeigt wird, sind Sattelitenbilder, teilweise solche einer „privaten“ US-Firma, teilweise solche von Geheimdiensten. Die maximale Zahl von russischen Soldaten, die es laut westlichen Angaben in der Nähe der ukrainischen Grenze gibt, lautet auf 120.000 Mann. Andere Quellen sprechen von „56 taktischen Bataillonsgruppen mit bis zu 800 Mann, die sich nicht weiter als 300 Kilometer von der Grenze entfernt aufhalten“, was auf weniger als 50.000 Mann hinausläuft (Spiegel 5/2022). Selbst offizielle ukrainische Aussagen widersprechen den Nato-Darstellungen. Alexij Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine und oberster Sicherheitsberater von Präsident W. Selenskyj: „Eine große Ansammlung von Truppen, die uns unmittelbar bedrohen, sehen wir nicht.“ Man befinde sich „exakt im selben Zustand wie seit acht Jahren.“[1]

Erinnert sei an den Irak-Krieg 2003. Damals gab es vergleichbare Berichte mit Sattelitenfotos, die irakische Anlagen für Massenvernichtungswaffen zeigten. Doch sie erwiesen sich als Fälschungen der US-Geheimdienste.

FRAGE 2 Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht argumentiert mit Blick auf den Wunsch Kiews nach einer Nato-Mitgliedschaft wie folgt: „Jedem souveränen Staat, der unsere Werte teilt, steht es frei, sich um die (Nato-) Mitgliedschaft zu bewerben.“ (Welt am Sonntag vom 23.1.202022). Da hat sie doch recht!

Antwort Frau Lambrecht wirft gezielt Nebenkerzen. Es geht nicht darum, was die Regierung in Kiew will. Es geht darum, was die Nato entscheidet. Moskau will von der Nato die Garantie, dass die Ukraine definitiv nicht Nato-Mitglied wird.[2] Dass Russland eine solche Sicherheitsgarantie verlangt, ist nachvollziehbar, weil jede Nato-Osterweiterung die Vorwarnzeit im Fall eines Atomschlags reduziert. Als die Sowjetunion 1961/62 Atom-Raketen auf Kuba stationieren wollte, sah die damalige US-Regierung eine rote Linie überschritten. Moskau gab nach – und verhinderte so möglicherweise einen Atomkrieg.

FRAGE 3 Warum geht Deutschland einen Sonderweg und schert aus der westlichen Gemeinschaft aus? Zumindest die Lieferung von „Defensivwaffen“, wie von dem Grünen-Politiker Habeck gefordert, wäre doch angebracht.

Antwort Eine Unterscheidung zwischen Offensiv- und Defensivwaffen ist nicht haltbar. Unter allen bisherigen deutschen Regierungen galt: Keine Waffenexporte in Krisengebiete. Warum soll das jetzt nicht mehr gelten? Zumal die Region eine besondere ist; in den Worten von Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD: „Es wäre dann das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass deutsche Waffen gegen Russland eingesetzt würden.“ (Spiegel vom 22.1.2022). Im Übrigen meint „Sonderweg“, dass Deutschland auf Verhandlungen anstatt auf Aufrüstung setzen möge. Das ist zwar in der gegebenen politischen Landschaft ein „besonderer Weg“, doch ein ebenso richtiger.

FRAGE 4 Hat Russland mit der Besetzung der Krim und mit der Unterstützung der Separatisten in den ost-ukrainischen „Volksrepubliken“ nicht das Völkerrecht verletzt?

Antwort Die genannten russischen Aktionen 2014 waren eine Reaktion auf den putschartigen Sturz der ukrainischen Regierung, die in einer ordnungsgemäßen Wahl zustande gekommen war. Eine der ersten Maßnahmen der dann neuen Regierung war die Abschaffung der russischen Sprache als zweiter Amtssprache. Vor dem Hintergrund der russische-ukrainischen Geschichte und angesichts der Tatsache, dass rund 30 Prozent der Bevölkerung in der Ukraine russisch sprechen, war die Antwort aus Moskau eher Reaktion als Aggression. Die Besetzung der Krim und deren Integration in die Russische Föderation widersprechen dann dem Völkerrecht ebenso, wie die Abspaltung des Kosovo von Serbien dem Völkerrecht widerspricht. 2016, direkt nach der Ukraine-Krise, weilte CSU-Chef Horst Seehofer in Moskau und trat dort dafür ein, alle Sanktionen gegen Russland aufzuheben und damit de facto die neu geschaffenen Tatsachen anzuerkennen. Der CSU-Politiker Gauweiler schlägt auch heute noch vor, die Volksabstimmung auf der Krim „unter Aufsicht der Vereinten Nationen zu wiederholen“ (FAZ vom 4.2.2022). Wobei alle wissen, dass die große Mehrheit der Krim-Bevölkerung auch bei einem neuen Referendum prorussisch stimmen würde. Es gibt beim Thema Krim zwei Elemente im Völkerrecht, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen: Das Recht auf die Unverletzlichkeit der Grenzen und das Recht auf nationale Selbstbestimmung.

FRAGE 5 Sollte man nicht zumindest auf eine Inbetriebnahme von Nord Stream II verzichten? Vergrößern wir damit nicht unsere Energie-Abhängigkeit von Russland?

Antwort Die Energie-Abhängigkeit gibt es so oder so. Unter den gegebenen Bedingungen ist diese eher friedenssichernd. Eine Inbetriebnahme von Nord Stream II heißt nicht, dass damit automatisch mehr russisches Gas fließt. Es heißt, dass mehr Gas aus Russland nach Deutschland direkt fließen kann. Sodann ist unter den gegebenen Bedingungen die Alternative zum russischen Gas der Bezug von US-amerikanischem Flüssiggas. Damit würde eine Abhängigkeit durch eine andere ersetzt. Damit würde auch eine klimapolitisch problematische, fossile Energieform durch eine weit problematischere fossile Energieform, Flüssiggas, das darüber hinaus fast ausschließlich Fracking-Gas ist, ausgetauscht. Eine Abhängigkeit von Energie aus Russland besteht in jedem Fall. Deutschland bezieht auch ohne Nord Stream II 64 Prozent seiner Energie durch Importe. Dabei handelt es sich vor allem um Gas- und Erdölimporte. Bei den Gas-Importen kommt rund die Hälfte aus Russland. Bei den Erdölimporten stammen 34 Prozent aus Russland.[3] Auf absehbare Zeit gibt es dafür keine Alternativen. Übrigens beziehen die USA einen immer größeren Teil ihrer Ölimporte aus Russland. Moskau liegt bei den US-Ö-Importen inzwischen auf Rang 3 – noch vor Saudi Arabien.[4]

Selbst im kältesten Kalten Krieg wurden die sowjetischen (russischen) Energielieferungen in die BRD nicht in Frage gestellt. Es ist unverantwortlich, einen heißen Krieg herbeizureden oder herbeizurüsten, um zu testen, ob es auch dann noch Energiesicherheit gibt.

Anmerkungen:

[1] Danilow sagte laut Spiegel auch: „Die Massenmedien blasen das auf“. Begonnen habe alles mit einem Artikel in der Washington Post, was „eine bewusste Desinformation“ gewesen sei. Nach: Der Spiegel 5/2022 vom 29.1.2022, S. 79.) Interessanterweise gibt es im selben Spiegel-Heft im vorderen Teil drei Artikel auf der bekannten antirussischen Linie.

[2] Selbst ein einzelnes Nato-Mitglied – Deutschland ohnehin – könnte ein Veto gegen eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft einlegen. Als Mazedonien Nato-Mitglied werden wollte, blockierte Griechenland eine solche Nato-Mitgliedschaft mehrere Jahre lang … bis das Land seinen Namen in „Nord-Mazedonien“ änderte.

[3] Angaben nach: Welt am Sonntag vom 30. Januar 2022.

[4] „Nach Berechnungen der Nachrichtenagentur Bloomberg betrug der Anteil russischer Lieferungen an der US-Ölnachfrage über viele Jahre weniger als 0,5 Prozent, stieg aber im vergangenen Jahrzehnt und erreichte im vergangenen Jahr einen Rekordwert von sieben Prozent.“ Handelsblatt vom 25. März 2021.

Dieser Artikel erscheint am 11.2. in der Printausgabe der „Zeitung gegen den Krieg“. Sie kann HIER bestellt werden.