Kulturkampf

Der Ukraine-Krieg und die Ausgrenzung von Literatur und Musik

Direkt nach dem Sturz der vorsichtig russland-freundlichen Regierung Viktor Janukowytsch im Februar 2014 begann in der Ukraine eine antirussische Kampagne. Diese kulminierte zunächst darin, dass Russisch nicht mehr als zweite Amtssprache fungierte. Die Folge waren der Krieg im Osten und die Annexion der Krim durch Russland. Ab diesem Zeitpunkt wurden in der Ukraine hunderte Lenin-Denkmäler demontiert. Diese Welle bekam im Ukrainischen die Bezeichnung „Leninopad“ – „Lenin-Sturz“. Die Zahl der Denkmäler zur Huldigung des NS-Kollaborateurs Stepan Bandera nahm parallel zu. Offensichtlich sollte vergessen gemacht werden, dass es 1922 die Bolschewiki und Lenin waren, die erstmals die ukrainische Sprache als Amtssprache einführten und die Eigenständigkeit einer ukrainischen Kultur hervorhoben. Es war dann Wladimir Putin, der im Februar 2022 Lenin aus diesem Grund heftig kritisierte. Putin knüpft mit seinem russischen Chauvinismus direkt an das Zaren-Regime an, in dem jede ukrainische Kultur verneint wurde; indirekt knüpft der russische Präsident an Stalin an, der eine ukrainische Autonomie in kulturellen Fragen wieder strangulierte.

Nach der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 ging die Regierung in Kiew einen Schritt weiter. Seither werden Denkmäler des russischen Dichters Alexander Sergejewitsch Puschkin demontiert; hundertfach kommt es zum „Puschkinopad“. Dabei, so bilanzierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (11.7.2022), war „die Verehrung Puschkins (in der Ukraine; W.W.) lange mit dem Kult um den ersten ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko eng verflochten […] Puschkin war auch für viele Ukrainer ein Gedächtnisort.“

Seither versucht die ukrainische Regierung alle russische Kultur auszugrenzen. Am 16. Juni entschied eine Arbeitsgruppe des ukrainischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft, vierzig Werke russischer Autoren, darunter auch solche Puschkins, aus dem Schulbuchprogramm zu entfernen. In Deutschland erklärten die ukrainische Botschaft und die Konsulate dieses Landes, es sei „unerwünscht, dass [auf dem Gebiet von Kultur] Russen und Ukrainer gemeinsam auftreten“. Das gelte auch dann und dort, wo „diese Künstler dies bei Solidaritätskonzerten selbst wünschten“ (FAZ vom 4.7.2022).

Dieser Nationalismus findet in Westeuropa teilweise eine Entsprechung; teilweise stößt er jedoch auch auf Widerstand. Die Neue Züricher Zeitung brachte am 7. Mai einen zweiseitigen Artikel, verfasst von der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko unter der Überschrift „Putin hat den Westen längst besiegt. Die Unterzeilen lauteten: „Mit ihrer blinden Begeisterung für russische Literatur haben sich westliche Intellektuelle zu Komplizen des Despotismus gemacht.“ In diesem Text werden in absurder Weise russische humanistische Literaten für den Putinschen Krieg verantwortlich gemacht. Dort heißt es: „Es ist an der Zeit, die russische Literatur unter einem anderen Blickwinkel zu lesen, denn sie hat fleißig an dem Tarnnetz für die russischen Panzer mitgeknüpft.“ In diesem Sinn gibt es auch praktische Konsequenzen. Die ukrainische Pianistin Valentina Lisitsa aus Kiew sollte im Mai bei den Europäischen Wochen Passau einen Klavierabend mit Chopin gestalten. Nachdem sie am 9. Mai – also am Tag der Befreiung vom NS-Regime – im (inzwischen russisch besetzten) Mariupol auftrat, wurde sie ausgeladen. Ihre Erklärung, „den Krieg abzulehnen“, reichte den Veranstaltern nicht.

Im Juli befragte die FAZ fünf Intendanten aus Deutschland und der Schweiz zu dem „Grenzwertproblem von Solidarität und Kunstfreiheit“. Das erstaunlich differenzierte Bild gibt Anlass für gedämpften Optimismus. Keiner der Befragten unterstützte einen Ausschluss russischer Kultur. Louwrens Langefoort, der Intendant der Philharmonie Köln, erklärte: „Bei Solidaritätskonzerten finde ich wichtig, dass ukrainische und russische Musik im selben Programm spielt.“ Viktor Schoner, Intendant der Staatsoper Stuttgart: „Wenn es ums Brückenbauen geht, liegen für mich die Kriegsopfer in der Ukraine und die Opposition in Russland, die auch ein Opfer des Kreml-Regimes ist, fast auf der gleichen Ebene.“ Malte Boecker, der Direktor des Beethoven-Hauses Bonn: „Wir müssen nach ukrainischen Künstlern suchen, die bereit sind, den Dialog mit den russischen Kollegen nicht abbrechen zu lassen.“

Dieser Beitrag erscheint ab 18.8. in der Printausgabe der „Zeitung gegen den Krieg“ Nr. 52.
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