Neue Weltkriegs-Gefahren

Der INF-Vertrag und der neue Kalte Krieg

Die Tagespolitik beschäftigt sich mit dem letzten Schwenk in Sachen Brexit oder der jüngsten Twitter-Botschaft von Donald Trump. Die Hochrüstung des Westens und die Gefahr eines großen, mit Atomwaffen geführten Kriegs, sind bislang nur wenigen Menschen bewusst. Die Aufkündigung des INF-Vertrags durch die US-Regierung stellt hier eine entscheidende Wende dar. Als INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces, deutsch: nukleare Mittelstreckensysteme) oder als „Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme“ bezeichnet man die bilateralen Verträge zwischen der Sowjetunion und den USA über die Vernichtung aller landgestützten Flugkörper mit kürzerer und mittlerer Reichweite. Um deutlich zu machen, welche Bedeutung der Schritts der Aufkündigung dieses Vertrags hat und um die Interessen, die zu dieser Entscheidung der US-Regierung, gestützt durch die Nato, geführt haben, hervorzuheben, dokumentieren wir im Folgenden fünf Fragen und Antworten.

1. Handelt es sich bei der Aufkündigung des INF-Vertrags nicht um einen Konflikt zwischen den USA und Russland?

Das ist nur vordergründig der Fall. Der INF-Vertrag verbietet generell atomare Mittelstreckenraketen der beschriebenen Art. Er hob die Schwelle für einen atomar geführten Krieg deutlich an. Insofern handelte es sich zunächst tatsächlich um einen Abrüstungsvertrag, der für die USA und die Sowjetunion relevant war. Doch seit Ende der 1980er Jahre hat sich die Weltlage dramatisch verändert. Die Sowjetunion ist implodiert. Russland ist wirtschaftlich kein starkes Land (mehr). Inzwischen hat die VR China Russland und die USA überholt und ist zur Wirtschaftsmacht Nr. 1 aufgestiegen. China stellt für die USA die entscheidende Herausforderung dar. Die USA verteidigen ihre verbliebenen Positionen mit aller Macht – so mit einem (stark gegen Peking gerichteten) Handelskrieg. Gleichzeitig rüsten sie massiv auf. Und diese Hochrüstung richtet sich nur zu einem Teil gegen Russland. Sie zielt vor allem auf China.

2. Warum soll es eine Kriegsgefahr mit der Aufkündigung des INF-Vertrags geben? Gibt es nicht weiterhin das „Gleichgewicht des Schreckens“, das 70 Jahre lang funktionierte?

Antwort: Diese „Gleichgewicht des Schreckens“ war eher eine Hilfskonstruktion. Seine Verherrlichung als Friedenssicherung ist falsch. Dass es im Zeitraum 1950 bis 1990 – also im Kalten Krieg – zu keinem großen Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion kam, war teilweise glücklichen Umständen und einer eher zurückhaltenden Politik der Führung in Moskau geschuldet. Es gab mehrere internationale Krisen, die in einen großen Atomkrieg hätten münden können. So im Fall der Kuba-Krise im Oktober 1962. Am 26. September 1983 war es dann die glückliche, individuelle Entscheidung eines sowjetischen Offiziers, mit der ein Atomkrieg verhindert wurde.[1] Von einem „Gleichgewicht“ kann hier nicht geredet werden. Die Welt spielte in dieser Periode eher Russisch Roulette.

3. Aber ist nicht Russland auch ein Aggressor?

Die Friedensbewegung darf sich selbstverständlich nicht mit der russischen Politik identifizieren. So wie sie sich nicht mit der sowjetischen Politik identifizierte. Der Einmarsch Russlands in Afghanistan Ende 1979 war zu verurteilen. In den 1980er Jahren richteten sich die massenhaften Mobilisierungen gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen auch gegen das Gegenstück zu den US-Raketen, gegen die sowjetischen SS-20-Raketen. Doch wir sollten die Kirche im Dorf lassen. Der russische Militärhaushalt macht weniger als ein Zehntel des US-amerikanischen aus. In jüngerer Zeit stagnieren die russischen Rüstungsausgaben, teilweise gingen sie sogar zurück. In den USA und in den übrigen Nato-Staaten gibt es das Gegenteil, findet Aufrüstung statt.

Bleibt die Annexion der Krim durch Russland. Ihr voraus gingen das fortgesetzte Vorrücken der Nato nach Osten und die Etablierung einer pro-westlichen Regierung in Kiew, die in der Ukraine die russische Sprache als zweite Amtssprache abschaffte. Damit wurden Millionen Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine, deren Muttersprache Russisch ist, elementarer Rechte beraubt. Schließlich gab es auf der Krim, deren Bevölkerung sich in ihrer großen Mehrheit als russisch definiert, ein Plebiszit zugunsten eines Anschlusses an Russland. In dieser Hinsicht mag es im Völkerrecht unterschiedliche Positionen geben (siehe den Kommentar von Daniela Dahn S.3). Doch eines geht sicher nicht: Man kann nicht, wie die USA, die Nato und die EU dies tun, die Abspaltung des Kosovo von Serbien unter Verweis auf das „Selbstbestimmungsrecht“ unterstützen. Und dann die Abspaltung der Krim von der Ukraine verurteilen.

Vor allem müssen wir uns im Fall Russlands der geschichtlichen Tragweite der Themen Krieg und Frieden bewusst sein. Russland wurde in den letzten 210 Jahren drei Mal von westlichen Armeen mit Angriffskriegen heimgesucht: 1812 (Napoleon), im Ersten und im Zweiten Weltkrieg.

4. Kann die EU in dieser Situation nicht als ausgleichender neuer Block wirken, der Konflikte mildert und Frieden stiftet?

Nein. Die EU ist kein Schiedsrichter. Sie ist in ihrem Kern aktiver Spieler, ja Treiber bei der allgemeinen Militarisierung. Das ist spätestens so seit Ende 2017, als PESCO gegründet wurde: 23 EU-Mitgliedstaaten schlossen sich zu einem spezielles EU-Militärbündnis zusammen. Die PESCO-Staaten verpflichten sich, die Rüstungsausgaben von Jahr zu Jahr zu erhöhen. Es handelt sich dabei nicht um eine EU-Entscheidung, nicht um bindende Beschlüsse. Dänemark und Malta entschieden sich gegen eine PESCO-Mitgliedschaft. Doch alle anderen EU-Mitgliedstaaten, Deutschland und Frankreich vorneweg, sind Teil dieses Aufrüstungsblocks.

5. Ist es angesichts der Weltlage nicht nachvollziehbar, wenn Russland und China nun selbst aufrüsten?

Nein. Damit wird der Rüstungswettlauf nur noch angeheizt. Die weltweite Friedensbewegung sollte allgemeine Abrüstung fordern und auch einseitige Abrüstungsschritte vorschlagen. Wichtig ist die Unterzeichnung und Ratifizierung des UN-Vertrags zum Verbot aller Atomwaffen. Die EU und die einzelnen EU-Mitgliedstaaten verweigern bislang diesen Schritt.

Anmerkung:

[1] Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Stanislaw_Jewgrafowitsch_Petrow